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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 4

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 196/18, Beschluss v. 01.08.2018, HRRS 2019 Nr. 4


BGH 1 StR 196/18 - Beschluss vom 1. August 2018 (LG Ravensburg)

Mord aus niedrigen Beweggründen (Voraussetzungen; hier: Tötung eines Neugeborenen)

§ 211 Abs. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Dass der Täter bei einer vorsätzlichen Tötung auch eigene Interessen verfolgt, ist der Regelfall und rechtfertigt deshalb noch nicht ohne weiteres die Qualifikation als Mord aus niedrigen Beweggründen (vgl. BGH NStZ 2009, 210).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 22. Dezember 2017 mit Ausnahme der Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Ihr hiergegen mit der Sachrüge begründetes Rechtsmittel führt mit Ausnahme der Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen zur Aufhebung des Urteils.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Im Spätsommer bis Herbst 2016 wurde die damals 21 Jahre alte Angeklagte von ihrem Lebensgefährten ungewollt schwanger. Die Angeklagte, die bereits mit 17 Jahren erstmals schwanger gewesen war, aber von ihrem damaligen Partner nach Mitteilung der Schwangerschaft derart in den Bauch getreten und geschlagen wurde, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte, verdrängte die Schwangerschaft zunächst. Aus ihrem persönlichen Umfeld wiederholt auf körperliche Veränderungen angesprochen, stellte sie eine Schwangerschaft entschieden in Abrede. Spätestens im Februar 2017 wusste die Angeklagte aufgrund der Kindsbewegungen, dass sie schwanger war. Sie bestritt dies aber gegenüber ihrem Umfeld „vehement, energisch und teilweise regelrecht genervt“. Sie trug weitgeschnittene Kleidung und schränkte intimen Kontakt mit ihrem Partner weitgehend ein. Ihrer Mutter gegenüber gab sie wahrheitswidrig an, ein Arzt habe ihr bestätigt, nicht schwanger zu sein.

Die Angeklagte handelte so, da sie kein Kind wollte und nicht bereit war, ihren Lebenszuschnitt aufzugeben oder einem Kind unterzuordnen. An eine Geburt mit anschließender Weggabe des Babys dachte die Angeklagte nur kurz. „Vielmehr befasste sie sich nicht nur allgemein mit dem Vorhaben, die Schwangerschaft bis zuletzt zu verdecken und damit diese auch nach einer Geburt nicht offenbar werden zu lassen, sondern auch gedanklich damit, das Neugeborene als reinen ‚Störfaktor‘ zu ‚beseitigen‘, ‚verschwinden zu lassen‘ bzw. zu töten.“ Zwar ging die Angeklagte davon aus, dass alsbald die Geburt bevorstand, dennoch trat sie am 17. Mai 2017 „ohne Rücksicht auf die bevorstehende Geburt unbekümmert“ zusammen mit ihrem Partner einen einwöchigen Urlaub mit Freunden am 800 km von ihrem Zuhause entfernten W. an. Während des einwöchigen Aufenthalts in einem Ferienhaus ging die Angeklagte weiter davon aus, sie könne das Baby nach der Geburt unbemerkt „beseitigen“ bzw. töten. Als sie am Abreisetag, dem 24. Mai 2017 Krämpfe bekam, trat die Gruppe gemeinsam die etwa neunstündige Heimreise an. Dabei fuhr die Angeklagte im Fahrzeug ihres Partners, die Freunde in einem anderen Fahrzeug. Jedoch fuhren die Fahrzeuge hintereinander her und hatten Funkkontakt, so dass Pausen während der gesamten Rückfahrt von der Gruppe gemeinsam verbracht wurden. Auf Wunsch der Angeklagten erfolgten mehrere Pausen.

Wegen des Einsetzens der Wehen wurde der Angeklagten klar, dass die Geburt kurz bevor stand. Ihrem Partner, der mehrmals fragte, ob sie nicht einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen sollten, teilte sie dies allerdings nicht mit. Gegen 23 Uhr bat sie ihren Partner erneut um eine Rast, da sie ein „kleines Problem“ erledigen müsse. So hielt die Kolonne auf einer Bundesstraße in Höhe eines landwirtschaftlichen Anwesens. Die Angeklagte gab an, wegen der Schmerzen kurze Zeit allein sein zu wollen und begab sich auf einen 40 m entfernten unbeleuchteten Grünstreifen. Zur Übergabe der von ihrem Partner erbetenen Küchenrolle ging sie ihm entgegen. Sodann legte sie sich hinter mehreren Strohballen auf den Rücken und gebar ein lebensfähiges Mädchen. Aus Angst vor Entdeckung unterdrückte sie dabei Schreie. Sie biss die Nabelschnur mit den Zähnen durch. Als das Kind schrie, entschloss sie sich „jetzt - und unbeeindruckt von dem direkt vor ihr liegenden strampelnden Neugeborenen - endgültig und geleitet von ihren selbstsüchtigen Motiven dazu, das Neugeborene zu töten.“ Hierzu hielt sie dem Baby den Mund zu und formte aus der Küchenrolle einen Pfropfen, den sie ihm tief in den Mund- und Rachenraum stopfte. Sie ließ das Baby nackt in der Wiese liegen und ging zurück zu ihren Begleitern. Dort wischte sie sich ihre blutverschmierten Arme und Beine ab, wechselte die Hose und gab als Erklärung an, sie habe sich eine Zyste gezogen. Das Baby erstickte wenige Minuten später.

Nach Hause zurückgekehrt, verhielt sich die Angeklagte „als sei nichts gewesen“ und nahm ihren üblichen Tagesablauf auf. Nachdem der Leichnam ihres Kindes gefunden und darüber berichtet worden war, konfrontierte sie eine ihrer Begleiterinnen bei der Fahrt über ihren Partner mit dem Vorwurf, sie sei die Mutter. Daraufhin offenbarte sie sich ihrem Partner und begab sich in ein Krankenhaus, wo ein Dammriss operativ versorgt werden musste.

Das Landgericht hat die Tat als aus niedrigen Beweggründen begangen gewertet. Der Angeklagten sei es um die Beseitigung eines Störfaktors bei der ungehinderten Fortsetzung ihres bisherigen Lebens gegangen. Dies offenbare eine besonders krasse Selbstsucht, was durch die im gesamten Tatgeschehen zum Ausdruck kommende „erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben des eigenen Neugeborenen“, welches sie als „kleines Problem“ wie „Abfall entsorgt“ habe, belegt werde. Die im Persönlichkeitsbefund der Angeklagten enthaltenen naiven, unbedarften und unreifen Züge hätten bei der inneren Tatseite hingegen ersichtlich keine Rolle gespielt, da die Tat durch besondere Zielgerichtetheit, Zielstrebigkeit, Durchsetzungskraft, Kontrolle und Stringenz gekennzeichnet gewesen sei.

II.

Die Feststellungen zur Motivlage der Angeklagten und damit der Schuldspruch wegen Mordes können auf die sachlichrechtliche Überprüfung hin keinen Bestand haben.

1. Die diesbezüglichen Feststellungen entbehren teilweise schon einer tragfähig belegten Beweisgrundlage, teilweise erweist sich die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung als lückenhaft.

a) So ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Angeklagte sich schon nach dem Bemerken der Schwangerschaft gedanklich damit befasste, das Neugeborene als „reinen ‚Störfaktor‘ zu beseitigen, ‚verschwinden zu lassen‘ bzw. zu töten“, da sie nicht bereit gewesen sei, ihren Lebenszuschnitt und insbesondere die Beziehung zu ihrem Partner wegen eines Kindes aufzugeben oder einem Kind unterzuordnen. Dabei bleibt aber offen, worauf es diese Überzeugung von einem frühen Heranreifen des Tötungsplans und der als krass selbstsüchtig eingeordneten Motivlage stützt.

Die Angeklagte, die das objektive Tatgeschehen umfassend eingeräumt hat, darunter nach Auffassung der Strafkammer auch „wenig schmeichelhafte Details“ wie „wechselnde Männerbekanntschaften“ - nach den Feststellungen war der Kindsvater der vierte Mann, mit dem die Angeklagte eine Beziehung führte -, hat ausgeführt, sich keine weiteren Gedanken dazu gemacht zu haben, wie es nach der Geburt hätte weitergehen sollen. Vorbereitungen habe sie nicht getroffen. Allein das Ausbleiben solcher Bemühungen um eine anderweitige Abwendung der mit der Erwartung eines Kindes verbundenen einschneidenden Änderungen lässt jedenfalls ohne nähere Auseinandersetzung nicht den Schluss darauf zu, die Angeklagte habe das Kind als reinen Störfaktor entsorgen wollen. Dies gilt umso mehr, als die Urteilsgründe an anderer Stelle davon ausgehen, dass die Angeklagte wusste, dass der Kindsvater zu ihr und dem Kind gestanden hätte. Wieso sie deswegen davon hätte ausgehen sollen, ein Kind würde ihre Beziehung gefährden und diese Gefahr könne sie durch die Tötung des Kindes abwenden, hätte näherer Erörterung bedurft.

b) Die Beweiswürdigung zur Motivlage erweist sich aber vor allem - auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabs - als lückenhaft. So weist es verschiedenen Verhaltensweisen der Angeklagten im Vortat- und Tatgeschehen jeweils eine Bewertungsrichtung zu, ohne sich mit anderen Deutungsmöglichkeiten, deren Erörterung sich wegen konkreter Anhaltspunkte aufdrängte, auseinanderzusetzen.

aa) Die Formulierung der Angeklagten gegenüber ihrem Partner, sie müsse „ein kleines Problem“ erledigen, wird von dem Landgericht als „überdeutlicher“ Beleg für ihre Einstellung gegenüber dem Neugeborenen als Störfaktor, den es zu beseitigen galt, gesehen. Die Festlegung, ob diese Wortwahl tatsächlich Rückschlüsse auf die Einstellung der Angeklagten zu ihrem Kind zulässt, hätte aber eine Einbeziehung der konkreten Rahmenbedingungen, unter denen diese Äußerung gefallen war, in die Würdigung erforderlich gemacht, woran es fehlt. So hätte in Bedacht gezogen werden müssen, dass die Äußerung auch nur den Zweck verfolgt haben könnte, das Misstrauen des Partners wegen einer erneuten Rast zu zerstreuen und ihn davon abzuhalten, sich ihr zu nähern.

bb) Vor allem aber entbehrt die Würdigung, die Tat sei durch besondere Zielgerichtetheit, Zielstrebigkeit, Durchsetzungskraft, Kontrolle und Stringenz gekennzeichnet, weswegen die bei der Angeklagten festzustellenden naiven, unbedarften und unreifen Züge bei der Bewertung der inneren Tatseite keine Rolle gespielt hätten, der erforderlichen Auseinandersetzung mit allen das Geschehen prägenden Umständen. So wird zunächst nicht in den Blick genommen, dass der mit dem gemeinsamen Aufenthalt in einem Ferienhaus verbundene Urlaub eine heimliche Tötung erheblich zu erschweren geeignet war. Mit einer zielstrebig durchgeführten, lange geplanten Tat lassen sich dies und die Rückfahrt mit einsetzenden Wehen in der Autokolonne - was letztlich auch zur Aufdeckung ihrer Täterschaft geführt hat - schwerlich vereinbaren. Auch die eigentliche Tatsituation weist Besonderheiten auf, die sich nicht ohne weitere Erörterung mit einer stringenten und kontrollierten Tatausführung vereinbaren lassen. So hatte die Angeklagte sich in Erwartung der Geburt bereits zurückgezogen, als sie sich die Küchenrolle übergeben ließ, wofür sie sich aus der bereits eingenommenen Geburtshaltung lösen musste. Zum Durchschneiden der Nabelschnur hatte sie auch keinerlei Werkzeug mitgenommen, was ihr vor dem Hintergrund der später präsentierten Ausrede, sich eine Zyste gezogen zu haben, wohl möglich gewesen sein könnte. Dass ihre Begleiter den Erklärungsversuch der Angeklagten für ihre Abwesenheit und ihre blutbefleckte Kleidung hingenommen haben, könnte auch eher deren mangelnden Willen zur Aufklärung dokumentieren als eine Fähigkeit der Angeklagten, ihren Partner trotz der Geburt steuern zu können und sich „schlüssige“ Erklärungen auszudenken.

cc) Das Landgericht schließt zudem aus, dass die Angeklagte von Gefühlen wie Angst, Ratlosigkeit oder Verzweiflung geleitet war. Dies stützt es unter anderem darauf, dass sich die Angeklagte in der Hauptverhandlung selbst als Problemlöserin bezeichnet hat. Diese Einschätzung hätte das Landgericht nicht übernehmen dürfen, ohne sich mit gegenläufigen Umständen auseinanderzusetzen. Festgestellt ist, dass sich die Angeklagte gegen eine unberechtigte Forderung des Finanzamtes gar nicht zur Wehr setzte, obwohl die daraufhin erfolgende Pfändung ihre finanziellen Möglichkeiten deutlich einschränkte. Vor diesem Hintergrund und des gezeigten Verhaltens vor der Geburt ist eine Charakterisierung als Problemlöserin nicht naheliegend und hätte näherer Erörterung bedurft.

c) Soweit das Landgericht die Bewertung der Motivlage auch daran festgemacht hat, dass die Angeklagte während der Schwangerschaft keinen Arzt aufsuchte, Alkohol- und Zigarettenkonsum nicht einschränkte und hochschwanger „unbekümmert“ eine viele Kilometer lange Urlaubsfahrt antrat, ist dies allenfalls geeignet, einen leichtfertigen Umgang mit dem Wohl des ungeborenen Lebens zu belegen, zeigt aber keine über die vorsätzliche Tötung hinausgehende besonders verwerfliche Einstellung auf. Dies gilt auch, insoweit das Landgericht damit zum Ausdruck bringen wollte, die Angeklagte habe ihre eigenen Interessen verfolgt. Denn dass der Täter bei einer vorsätzlichen Tötung auch eigene Interessen verfolgt, ist der Regelfall und rechtfertigt deshalb noch nicht ohne weiteres die Qualifikation als Mord (BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 4 StR 352/08, NStZ 2009, 210; zu den auf Ausnahmefälle beschränkenden Anforderungen an niedrige Beweggründe in Fällen der Kindstötung BGH aaO; Urteile vom 19. Juni 2008 - 4 StR 105/08, NStZ-RR 2008, 308 und vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Kindstötung 1; vgl. auch BT-Drucks. 13/8587 S. 34). Diesen Maßstab stellt das Landgericht zwar selbst seinen Erörterungen voran, die nachfolgende Begründung der Beweggründe als niedrig lässt allerdings besorgen, dass es den sachlichen Gehalt dessen aus dem Blick verloren hat.

Dass die Angeklagte großes Interesse an Partner, Hund, Auto, Tuningszene und ihren künstlichen Fingernägeln hatte, bringt allein eine gewisse moralische Missbilligung ihrer Lebensführung (vgl. hierzu MünchKomm/Schneider, StGB, 3. Aufl., § 211 Rn. 72) zum Ausdruck, was aber für die Bewertung der Motivlage der Tötung ebenfalls unergiebig ist. Die Betonung der „erschreckende(n) Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben des eigenen Neugeborenen“ lässt zudem befürchten, dass der Angeklagten die Begehung der Tat als solche und der Umstand, dass die Tat sich gegen ihr leibliches Kind richtete, als über die vorsätzliche Tötung hinausgehende besonders verwerfliche Haltung angelastet worden ist.

d) Die Urteilsgründe lassen eine ausdrückliche Erörterung vermissen, ob die Angeklagte die Umstände, die die Niedrigkeit ihrer Beweggründe ausgemacht haben sollen, im Tatzeitpunkt in ihrer Bedeutung für die Tatausführung in ihr Bewusstsein aufgenommen und erkannt hat (BGH, Urteil vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Kindstötung 1). Dies war auch nicht entbehrlich, da die Angeklagte die ihr angelasteten beherrschenden Beweggründe nicht eingeräumt hat (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 4 StR 352/08, NStZ 2009, 210).

2. Zwar ist der Tötungsvorsatz rechtsfehlerfrei festgestellt, der Senat hat jedoch die gesamten Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Tatgeschehen aufgehoben, um dem neuen Tatgericht eine in sich geschlossene Würdigung der subjektiven Tatseite zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 4

Externe Fundstellen: StV 2021, 77

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede