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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1175

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 99/16, Beschluss v. 30.06.2016, HRRS 2016 Nr. 1175


BGH 1 StR 99/16 - Beschluss vom 30. Juni 2016 (LG Hildesheim)

Tatzeitprinzip (Anwendbarkeit des Regelbeispiels einer alten Fassung); Vollendungs- und Beendigungszeitpunkt der Hinterziehung von Veranlagungssteuern.

§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO aF; § 2 Abs. 1, 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anwendbarkeit von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO aF kommt für Taten in Betracht, die bis zum 31. Dezember 2007 beendet wurden.

2. Bei Veranlagungssteuern ist der durch die Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung verursachte Erfolg der Steuerverkürzung eingetreten und die Straftat damit vollendet, wenn auf Grund der unrichtigen Erklärung die Steuer zu niedrig festgesetzt und dies dem Steuerpflichtigen bekannt gegeben worden ist. In diesem Zeitpunkt ist die Tat zugleich beendet.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17. Juli 2015 im Strafausspruch aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Drei Monate hat es wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt und die Anrechnung in Ungarn erlittener Untersuchungshaft im Maßstab 1:1 ausgesprochen.

Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und ist im Übrigen unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Verfahrensrügen erweisen sich aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts als erfolglos.

a) Soweit die Revision die Ablehnung der Beweisanträge, die in Kasachstan ansässigen Zeugen K. und S. im Wege der Rechtshilfe mittels Videokonferenz zu vernehmen, als fehlerhaft rügt, zeigt sie damit keinen Rechtsfehler auf.

Ein Rechtsfehler ist bereits deswegen auszuschließen, weil beide Zeugen eine audiovisuelle Vernehmung abgelehnt haben. Der Zeuge K. hat ausdrücklich erklärt, an einer audiovisuellen Vernehmung nicht teilzunehmen.

Hinsichtlich des Zeugen S. kommt das Landgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis, dass dieser für eine audiovisuelle Vernehmung durch ein deutsches Gericht nicht zur Verfügung stand; er hatte nämlich erklärt, allenfalls einer Vernehmung durch ein kasachisches Gericht zuzustimmen. Der Zeuge S. hat mit Schreiben vom 19. Juni 2015 mitgeteilt, dass er „ausschließlich“ vor einem entsprechenden Gericht der Republik Kasachstan unter Anwesenheit seines Rechtsanwaltes bereit sei, als Zeuge auszusagen. Das Landgericht durfte aus dieser Erklärung ohne weiteres schließen, dass jede andere Form der Vernehmung für den Zeugen nicht in Betracht kam.

b) Auch die Rüge, der Beweisantrag auf Vernehmung der Dolmetscherin Sa. als Zeugin über den Inhalt ihrer Telefonate mit dem Zeugen K. sei fehlerhaft abgelehnt worden, bleibt ohne Erfolg.

Es lag bereits kein ordnungsgemäßer Beweisantrag vor. Vielmehr handelt es sich bei dem Antrag vom 21. Mai 2015 um einen Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung hier nur mit einer zulässigen Aufklärungsrüge beanstandet werden kann.

Zutreffend hat der Generalbundesanwalt ausgeführt, dass ein Beweisantrag hätte darlegen müssen, welche tatsächlichen Umstände die Kammer zur Prüfung drängen mussten, dass das Telefonat zwischen der Dolmetscherin und dem Zeugen K. vom 14. April 2015 einen völlig anderen Inhalt hatte als schriftlich niedergelegt. Dies gilt umso mehr, als die vereidigte Dolmetscherin in ihrer dienstlichen Stellungnahme die Behauptungen des Angeklagten, die Gespräche zwischen ihr und dem Zeugen K. hätten einen anderen Inhalt gehabt, als „frei erfunden“ bezeichnet hatte.

2. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.

Das Landgericht hat für beide Fälle der Steuerhinterziehung in den Veranlagungszeiträumen 2003 und 2004 den Strafrahmen für besonders schwere Fälle angenommen und dies mit dem „großen Ausmaß“ des verursachten Steuerschadens von mehr als 150.000 Euro für den Veranlagungszeitraum 2003 und von mehr als 660.000 Euro für den Veranlagungszeitraum 2004 begründet.

Die Strafkammer hat dabei aber übersehen, dass sich § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert hatte (Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG, BGBl. I 2007, 3198). Für vor dem 1. Januar 2008 begangene Taten bedarf es zusätzlich zum „großen Ausmaß“ noch eines Handelns aus „grobem Eigennutz“.

Angesichts der Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 2003 und 2004 am 2. Mai 2006 bei dem zuständigen Finanzamt, kommt die Anwendbarkeit von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO aF in Betracht, falls die Taten bis zum 31. Dezember 2007 beendet wurden (§ 2 Abs. 1, 2 StGB). Ob dies der Fall war, kann nicht beurteilt werden, da das Landgericht keine Feststellungen zum Zeitpunkt der Beendigung der Steuerstraftaten getroffen hat.

a) Bei Veranlagungssteuern - wie hier der Einkommensteuer - ist der durch die Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung verursachte Erfolg der Steuerverkürzung eingetreten und die Straftat damit vollendet, wenn auf Grund der unrichtigen Erklärung die Steuer zu niedrig festgesetzt und dies dem Steuerpflichtigen bekannt gegeben worden ist. In diesem Zeitpunkt ist die Tat zugleich beendet (BGH, Beschlüsse vom 25. April 2001 - 5 StR 613/00, wistra 2001, 309, 310 und vom 7. Februar 1984 - 3 StR 413/83, wistra 1984, 142; Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl., § 376 Rz. 26).

b) Sollte die Tat vor dem 1. Januar 2008 beendet worden sein, wird das Gericht zu prüfen haben, ob der Angeklagte grob eigennützig gehandelt hat. Dies ist der Fall, wenn der Täter sein Verhalten von dem Streben nach Vorteil in besonders anstößigem Maße hat leiten lassen. Dabei muss das Gewinnstreben des Täters das bei jedem Steuerstraftäter vorhandene Gewinnstreben deutlich übersteigen (vgl. BGH, Urteile vom 1. August 1984 - 2 StR 220/84, BGHSt 33, 35 [nicht abgedruckt]; vom 20. November 1990 - 1 StR 548/90, wistra 1991, 106; vom 23. Januar 1991 - 3 StR 365/90, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 1 Eigennutz 4 und vom 24. Juli 1985 - 3 StR 191/85, wistra 1985, 228). Erforderlich ist eine vom Tatgericht vorzunehmende Gesamtbetrachtung sämtlicher Tatumstände, namentlich der vom Täter gezogenen Vorteile, der Art, Häufigkeit und Intensität der Tatbegehung und des Verwendungszwecks der erlangten Vorteile. Diese Umstände müssen im Zusammenhang gesehen und daraufhin überprüft werden, ob sie den Schluss auf groben Eigennutz des Täters rechtfertigen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 1990 - 3 StR 471/89, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 1 Eigennutz 3 und vom 13. Juni 2013 - 1 StR 226/13, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 1 Eigennutz 5).

c) Sollte die Strafkammer groben Eigennutz im Sinne von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO aF nicht feststellen können, kann ein unbenannter besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 2012 - 1 StR 257/12, wistra 2013, 28, 30; Beschluss vom 22. September 2008 - 1 StR 323/08, NStZ 2009, 159; Jäger in Klein, AO, 13. Aufl., § 370 Rn. 277).

d) Die Feststellungen sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen und können deshalb bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Sie dürfen um solche ergänzt werden, die den bisherigen nicht entgegenstehen.

3. Die Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht im Strafausspruch lässt die angeordnete Kompensation für die eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung unberührt (BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschlüsse vom 16. März 2016 - 1 StR 402/15 und vom 22. Januar 2013 - 1 StR 234/12, BGHSt 58, 115). Etwaige weitere Verzögerungen wird das neue Tatgericht gegebenenfalls ergänzend zu berücksichtigen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1175

Externe Fundstellen: NStZ 2017, 100

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner