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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 340

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 571/16, Beschluss v. 22.12.2016, HRRS 2017 Nr. 340


BGH 1 StR 571/16 - Beschluss vom 22. Dezember 2016 (LG Stuttgart)

Vorsatz (Beweiswürdigung: erforderliche Gesamtbetrachtung).

§ 15 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 17. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung und mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen einer Schusswaffe und mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Munition“ zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg und ist im Übrigen unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten und seinem Arbeitgeber, dem Geschädigten U., in der vom Angeklagten bewohnten Wohnung zu einem Zerwürfnis. In dessen Rahmen versetzte U. dem Angeklagten zwei Faustschläge, aufgrund derer der Angeklagte zu Boden ging. Der ebenfalls in der Wohnung anwesende H. hielt U. daraufhin am Arm fest und forderte ihn zum Gehen auf. Der in Wut geratene Angeklagte fasste nunmehr den Entschluss, an U. Vergeltung zu üben und ihn zu erschießen. Er holte eine unter seiner Matratze verborgene Schreckschusswaffe hervor, deren Lauf so manipuliert war, dass damit Kartuschenmunition, Kaliber 9 mm, versehen mit einer nachgefertigten Stahlrundkugel, Kaliber 4 mm, mit einer Masse von 0,26 g, verschossen werden konnte. Die Waffe war mit sechs dieser Geschosse geladen. Weder für die Waffe noch für die Munition besaß der Angeklagte die erforderliche Erlaubnis.

H. hatte die Bewaffnung des Angeklagten wahrgenommen, warnte U. und forderte ihn zur Flucht auf. Dem kam U. nach und lief den vor der Wohnung gelegenen Treppenabsatz bis zu dem vor der Haustür gelegenen zweiten Treppenabsatz hinunter. H. verließ ebenfalls die Wohnung, zog die Wohnungstüre hinter sich zu und hielt die Türklinke mit beiden Händen fest, um zu verhindern, dass der Angeklagte nachfolgte. U. blieb stehen und beobachtete die Bemühungen H. s. Der Angeklagte stellte fest, dass die Tür von außen zugehalten wurde, er wusste auch, dass dies durch H. erfolgte. Er beschloss, sich den Weg frei zu schießen und schoss - ohne die Schussbahn zu berechnen - schräg von oben nach unten durch die Wohnungstüre. Die in die Kartusche eingesetzte Stahlrundkugel durchschlug das hölzerne Türblatt, verfehlte H., dessen Verletzung der Angeklagte billigend in Kauf genommen hatte. Die Kugel schlug auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstüre auf dem Boden des Hausflurs auf, prallte von dort wieder ab und flog als Querschläger über die Treppenstufen hinweg in Richtung des unteren Treppenabsatzes und traf U. dort an der linken Flanke. Das Durchdringen des Türblattes in schräger Bahn hatte allerdings zu einer Drosselung der Geschwindigkeit und einer Herabsetzung der Energiedichte geführt, so dass das Geschoss nicht mehr eindrang, sondern lediglich eine Prellmarke verursachte.

U. floh aus dem Gebäude und brachte sich in einem in der Nähe befindlichen Kaufhaus in Sicherheit. Der Angeklagte setzte ihm bis auf den Gehsteig vor dem Haus nach. Seine Versuche, erneut auf U. zu schießen, scheiterten jedoch an einer Ladehemmung der Waffe. Als er diese beseitigt hatte, war U. nicht mehr zu sehen. Er wandte sich sodann dem Fahrzeug des U. zu, das er beschädigte.

2. Das Landgericht hat sich davon überzeugt, dass der Angeklagte bei der Schussabgabe durch das Türblatt mit bedingtem Tötungsvorsatz im Hinblick auf U. handelte. Er habe zwar keine Berechnung der Schussbahn vorgenommen, sei hierzu auch nicht in der Lage gewesen, er habe aber einen Querschläger für möglich gehalten. Dass U. von einer „unkontrollierbar umherfliegenden Kugel“ getroffen werden könnte, habe er für möglich gehalten und auch gewollt. Denn er habe damit gerechnet, das U. weiter von der Tür weg gestanden und sich damit im tiefer gelegenen Bereich des Treppenhauses, mithin „näher in der schräg nach unten verlaufenden Schussbahn“ befunden habe.

II.

1. Die Beweiswürdigung zur inneren Tatseite hat keinen Bestand. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift hierzu ausgeführt:

„Die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite im Moment der Schussabgabe durch die Wohnungstür begegnet rechtlichen Bedenken. Dies gilt zwar nicht für die Annahme, der Angeklagte habe dabei eine Verletzung der Zeugen H. und U. zumindest billigend in Kauf genommen (siehe UA Seite 34), wohl aber für die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes zum Nachteil des Zeugen U. Es fehlt diesbezüglich an einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung zum kognitiven Vorsatzelement. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, und dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. Beide Elemente der inneren Tatseite müssen in jedem Einzelfall gesondert geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Es bedarf einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände, bei der die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Gegebenheiten zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator ist. Neben der konkreten Angriffsweise sind dabei regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation mit einzubeziehen (BGH, Beschluss vom 07. September 2015 - 2 StR 194/15, juris). Zur objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung hat das Gericht festgestellt, dass das aufgrund Durchschlagens des Türblatts abgebremste Geschoss allenfalls bei einem Auftreffen auf das Auge in einen menschlichen Körper hätte eindringen können und unabhängig von der Stelle des Auftreffens nicht geeignet war, lebensgefährliche Verletzungen herbeizuführen (UA Seite 32 f.). Hierauf komme es jedoch, so die Kammer, nicht an, da der Angeklagte 'nicht zu einer Einschätzung der Energiedichte als Maßstab für ein Eindringen des Geschosses in den menschlichen Körper nach Durchschlagen der Tür in der Lage' gewesen sei (UA Seite 14, siehe auch UA Seite 33). Diese Erwägung begegnet deshalb Bedenken, weil - unabhängig von der genauen Berechnung der kinetischen Energie - die Erkenntnis, dass Projektile durch das Durchschießen von Gegenständen abgebremst werden, allgemeinkundig sein dürfte. Die Kammer hat weiter festgestellt, der Angeklagte habe bei der Schussabgabe durch seine Wohnungstür keine Berechnung der Schussbahn vorgenommen; er sei hierzu auch nicht in der Lage gewesen (siehe UA Seite 32). Gleichwohl soll der Angeklagte damit gerechnet haben, dass der Zeuge U. sich noch im Treppenhaus und dort gerade an einer solchen Stelle aufhalten könnte, an der er von einem unkontrolliert umherfliegenden Querschläger (lebensgefährlich) hätte getroffen werden können. Worauf sich diese Behauptung zum angeblichen Vorstellungsbild des Angeklagten stützt, bleibt offen. Der Angeklagte hatte ausweislich der Feststellungen zuvor lediglich wahrgenommen, dass der Zeuge U. vor ihm davonlief und der Zeuge H. dessen Verfolgung dadurch zu behindern versuchte, dass er die Wohnungstür von außen zuhielt (UA Seite 3, 12). Dies spricht, ebenso wie die Feststellung der Kammer, der Angeklagte habe deshalb von der Waffe Gebrauch gemacht, weil er sich den Weg (zur weiteren Verfolgung des Zeugen U.) habe 'freischießen' wollen (siehe UA Seite 12, siehe auch UA Seite 34), dagegen, dass der Angeklagte mit der Möglichkeit rechnete, U. könne bei einer Schussabgabe durch die Tür (tödlich) getroffen werden.“

Dem schließt sich der Senat an.

Die Sache bedarf daher insoweit neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung; denn die Frage, ob der Angeklagte bei dem Geschehen vor dem Haus mit Tötungsvorsatz handelte, wird das neu zuständige Tatgericht zu klären haben.

Die Aufhebung erfasst auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen der tateinheitlichen Delikte. Jedoch bedurfte es der Aufhebung der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen nicht, da diese rechtsfehlerfrei getroffen sind, § 353 Abs. 2 StPO. Das Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

Mit Blick auf die im Verurteilungsfalle erneut vorzunehmende Strafzumessung weist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts hin.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 340

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 142 ; StV 2017, 535

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede