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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1047

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 201/16, Beschluss v. 16.06.2016, HRRS 2016 Nr. 1047


BGH 1 StR 201/16 - Beschluss vom 16. Juni 2016 (LG Landshut)

Strafzumessung (keine Berücksichtigung weiterer, nicht festgestellter Taten und ihrer Folgen zu Lasten des Angeklagten).

§ 46 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 22. Januar 2016 im Rechtsfolgen und im Adhäsionsausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die in den Revisionsverfahren entstandenen Kosten, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Das weitergehende Rechtsmittel wird verworfen.

Gründe

In einem ersten Urteil hatte das Landgericht den Angeklagten am 23. März 2015 wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hatte es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Adhäsionsentscheidung zugunsten der Nebenklägerin getroffen. Der Senat hob dieses Urteil im Verfahren 1 StR 362/15 am 16. September 2015 mit den Feststellungen insgesamt auf. Da der Schuldspruch wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht nicht von den Feststellungen getragen wurde, konnte angesichts der vom Landgericht angenommenen Tateinheit auch die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes keinen Bestand haben.

Nach Zurückverweisung der Sache an das Landgericht und anschließender Beschränkung des Verfahrens gemäß § 154a Abs. 2 StPO wurde der Angeklagte nunmehr wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Daneben hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn in einer Adhäsionsentscheidung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 2.500 Euro an die Nebenklägerin verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Im September oder Oktober 2013 besuchte die damals vierjährige Nebenklägerin A. den zur Tatzeit 75 Jahre alten Angeklagten, den Nachbarn ihrer Großmutter, in dessen Wohnanwesen. Das Mädchen traf den Angeklagten auf der Toilette an, deren Tür offen stand. Der Angeklagte stand mit nach unten gezogener Hose in der Toilette. Obwohl er die Nebenklägerin bemerkt hatte, unterließ er es bewusst, seine Hose oder Unterhose wieder nach oben zu ziehen. Er ging an dem Kind vorbei und begab sich in sein Wohnzimmer. Hierdurch wollte er erreichen, dass es zu Berührungen seines Penis durch die Nebenklägerin kommt. Wie vom Angeklagten beabsichtigt, folgte ihm die Nebenklägerin in das Wohnzimmer, berührte sodann seinen nackten Penis und streichelte diesen, was der Angeklagte - seiner vorgefassten Absicht entsprechend - auch zuließ. Nach einigen Sekunden beendete er die Situation jedoch wieder und schickte die Vierjährige nach Hause. Infolge des sexuellen Übergriffs veränderte sich das Verhalten der Nebenklägerin, die zuvor ein forsches, sehr fröhliches, offenes, aufgeschlossenes und mitteilungsfreudiges Kind war, dahingehend, dass sie merklich ängstlicher, weinerlicher, zurückhaltender und schüchterner wurde.

2. Der Angeklagte wurde seit dem Jahr 1973 mehrfach bestraft. Zuletzt wurde er im Oktober 2006 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 20 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zuvor war er im März 1996 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

3. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten im Hinblick auf seine einschlägige Vorverurteilung im Jahr 2006 als schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes (§ 176a Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 176 Abs. 1 StGB) gewertet. Es ist zudem davon überzeugt, dass der Angeklagte infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten, namentlich zu schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, für die Allgemeinheit gefährlich ist.

II.

Die Revision führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung im Rechtsfolgen- und Adhäsionsausspruch; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Schuldspruch wird von den Feststellungen getragen.

a) Zwar forderte der Angeklagte die Nebenklägerin nicht ausdrücklich dazu auf, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Nach den Urteilsfeststellungen führte er jedoch den Entschluss der vierjährigen Nebenklägerin, solche Handlungen vorzunehmen, durch sein Verhalten selbst herbei oder bestärkte die Nebenklägerin in ihrem Verhalten. Dies rechtfertigt die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte habe von einem Kind sexuelle Handlungen an sich vornehmen lassen (§ 176 Abs. 1 Var. 2 StGB).

b) Im Hinblick auf die Verurteilung des Angeklagten wegen einschlägiger Missbrauchstaten aus dem Jahr 2006 ist auch das Qualifikationsmerkmal des § 176a Abs. 1 StGB einer Verurteilung wegen einer Straftat nach § 176 Abs. 1 StGB innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Tat erfüllt. Nach § 176a Abs. 6 StGB werden die Zeiten der Inhaftierung des Angeklagten seit dieser Verurteilung in den Fünfjahreszeitraum des § 176 Abs. 1 StGB nicht eingerechnet.

2. Demgegenüber hat der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand.

a) Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn der Tatrichter gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 17. September 1980 - 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 320; vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, Rn. 17, BGHSt 57, 123, 127 und vom 12. Januar 2016 - 1 StR 414/15, Rn. 12, NStZ-RR 2016, 107, 108; jeweils mwN). Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; Urteile vom 12. Januar 2005 - 5 StR 301/04, wistra 2005, 144; vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, Rn. 17, BGHSt 57, 123, 127 und vom 12. Januar 2016 - 1 StR 414/15, Rn. 12, NStZ-RR 2016, 107, 108).

bb) Auch ausgehend von diesem eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstab hält die Strafzumessung des Landgerichts rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

(1) Das Landgericht hat bei der Strafzumessung auch die Folgen der Tat für die Nebenklägerin berücksichtigt. Es hat dabei zwar zugunsten des Angeklagten gewertet, „dass die Folgen für das Kind derzeit vergleichsweise überschaubar und gering geblieben sind“ (UA S. 37). Die vom Landgericht vorgenommenen Erwägungen lassen gleichwohl besorgen, dass das Landgericht nicht nur die Folgen dieser Tat, sondern auch weiterer, nicht näher festgestellter Taten des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin mit einbezogen hat.

Nach den Feststellungen des Landgerichts hat sich das Verhalten der vierjährigen Geschädigten „infolge des sexuellen Übergriffs“ nachhaltig in der Weise verändert, dass diese „merklich ängstlicher, weinerlicher, zurückhaltender und schüchterner wurde“ (UA S. 23). In den weiteren Urteilsgründen hat das Landgericht dies dahin eingeschränkt, dass diese Veränderungen zumindest auch auf den verfahrensgegenständlichen Missbrauch zurückzuführen sind (UA S. 29). Auch hat das Landgericht bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes berücksichtigt, die Wesensveränderung sei durch die Straftat „möglicherweise auch nur mitverursacht und nicht allein verursacht“ und „ansonsten durch die inzwischen eingetretene Trotzphase bedingt“ (UA S. 56). Im Hinblick darauf, dass das Tatgeschehen nach den Feststellungen des Landgerichts nur einige Sekunden gedauert hat (UA S. 23), lässt hier die gleichwohl vorgenommene Berücksichtigung der Wesensveränderung der Nebenklägerin im Rahmen der Strafzumessung besorgen, dass das Landgericht auch die Folgen aus weiteren Taten zum Nachteil der Nebenklägerin bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten mit berücksichtigt hat, ohne solche Taten festzustellen.

(2) Darüber hinaus ist zu besorgen, dass das Landgericht nicht nur die Folgen solcher Taten, sondern nicht festgestellte weitere Taten zum Nachteil der Nebenklägerin selbst strafschärfend mit berücksichtigt hat. Angesichts der Höhe der für eine Tat von wenigen Sekunden verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten liegt dies schon deshalb nahe, weil das Landgericht hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Tat zugunsten des Angeklagten gewertet hat, „dass die Tathandlung im Vergleich zu anderen Missbrauchsfällen im untersten Bereich lag, von kurzer Dauer war und durch den Angeklagten selbst beendet wurde“ (UA S. 37). Darüber hinaus habe „der Angeklagte auch keine körperliche Gewalt oder psychischen Druck auf das geschädigte Kind ausgeübt“ (UA S. 37).

Auch ist der vom Landgericht festgestellte Tatablauf ohne vorhergehende sexuelle Kontakte zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin kaum erklärbar. Es liegt fern, dass ein vierjähriges Mädchen sonst die Absicht des Angeklagten verstanden hätte, es solle ihn am nackten Penis streicheln. Feststellungen zu weiteren Taten, die zu einer Wesensveränderung bei der Nebenklägerin geführt haben können, hat das Landgericht gleichwohl nicht getroffen. Es hat sich lediglich auf die Wiedergabe von Zeugenaussagen beschränkt, die nahe legen, dass es weitere sexuelle Kontakte zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin gab. Dabei referiert das Landgericht auch die Angabe der Nebenklägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung, es habe mehrere sexuelle Übergriffe gegeben. Sie habe davon erzählt, „dass sie den ´Wurmi´ des Angeklagten berührt und die Haut nach vorne und hinten geschoben habe, woraufhin der ´Wurmi´ größer geworden sei. Der Angeklagte habe auch mal selbst an seinem nackten ´Wurmi´ herumgespielt. Wenn sie den ´Wurmi´ des Angeklagten angefasst habe, habe sie als Belohnung auch mal Kleingeld oder Schokolade bekommen“ (UA S. 26). Ihrer Mutter habe die Nebenklägerin erzählt, dass der Angeklagte ihr dabei auch einmal in die Hand „gebieselt“ habe (UA S. 27). Da das Landgericht solche Taten aber nicht festgestellt hat, durfte es weder diese Taten selbst, noch sich aus ihnen bei der Nebenklägerin ergebende psychische Folgen strafschärfend berücksichtigen.

b) Der Wegfall des Strafausspruchs führt zur Aufhebung der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in Sicherungsverwahrung. Ergänzend bemerkt der Senat hierzu, dass die vom Landgericht vorgenommene Gesamtwürdigung zum Vorliegen einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten gleichfalls rechtlicher Nachprüfung nicht standhielte. Auch insoweit wäre - wie schon bei der Strafzumessung - zu besorgen, das Landgericht habe bei der Gesamtwürdigung, ob ein Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten vorliegt, weitere, aber nicht festgestellte Taten des Angeklagten zum Nachteil der Nebenklägerin berücksichtigt. Die verfahrensgegenständliche Tat hat das Landgericht nämlich im Vergleich zu anderen Missbrauchsfällen als im untersten Bereich liegend eingeordnet (UA S. 37).

3. Im Ergebnis kann auch der Adhäsionsausspruch keinen Bestand haben. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass sich die Rechtsfehler bei der Strafzumessung auch auf die Adhäsionsentscheidung ausgewirkt haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1047

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 369 ; StV 2017, 32

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede