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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 862

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 88/12, Urteil v. 08.08.2012, HRRS 2012 Nr. 862


BGH 1 StR 88/12 - Urteil vom 8. August 2012 (LG Ellwangen)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; Umfang der revisionsgerichtlichen Überprüfung (Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts).

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 337 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 22. September 2011 mit den Feststellungen aufgehoben,

a) hinsichtlich der Tat Ziffer 4 der Urteilsgründe,

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen zweier tatmehrheitlicher Fälle des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und des Weiteren in Höhe eines Betrages von 5.610 Euro den Verfall von Wertersatz angeordnet. Die auf die Verurteilung bezüglich der Tat Ziffer 4 beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, welche vom Generalbundesanwalt vertreten wird, führt aufgrund der zulässig erhobenen Sachbeschwerde zur Aufhebung des Schuld- und Strafausspruchs hinsichtlich der Tat Ziffer 4 sowie des Ausspruchs über die Gesamtfreiheitsstrafe.

1. Das Landgericht hat unter anderem folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 30. Mai 2011 gegen 13.00 Uhr begab sich der anderweitig verfolgte F. gemäß vorheriger Verabredung zur Wohnung des Angeklagten in Aalen und brachte 645,5 Gramm Kokaingemisch mit, dem bei einem Wirkstoffgehalt von etwas über 20 Prozent Kokainbase mindestens 143,231 Gramm Kokainhydrochlorid zugrunde lagen. Wie zuvor abgesprochen kaufte und übernahm der Angeklagte 120 Gramm des Kokaingemischs zum Grammpreis von 45 Euro auf Kommission von F. 100 Gramm des Kokaingemischs sah der Angeklagte zum gewinnbringenden Weiterverkauf an einen Verdeckten Ermittler vor, 20 Gramm des Kokaingemischs waren für den Eigenbedarf bestimmt.

Auf die überraschend geäußerte, nicht näher begründete Bitte des F., der vom kurze Zeit später geplanten Weiterverkauf von 100 Gramm Kokaingemisch durch den Angeklagten an einen Abnehmer wusste und nach diesem geplanten Geschäft sogleich das Kaufgeld abholen wollte, bewahrte der Angeklagte die restliche Menge des mitgebrachten Kokaingemischs, also weitere 525,5 Gramm, für ihn in seiner Wohnung auf. Der Angeklagte wollte diese Menge nicht selbst handeln, sondern nach gewisser Zeit, für die er sie in Verwahrung genommen hatte, an F. zurückgeben, der diese Menge zusammen mit dem Kaufgeld für 100 Gramm später abholen wollte. Weitere Überlegungen des Angeklagten zur späteren Verwendung des Rauschgifts durch F. sind nicht bekannt.

Nach der Übergabe des Rauschgifts verließ F. die Wohnung des Angeklagten. Gegen 19.00 Uhr wurde der Angeklagte, nachdem er entsprechend seiner Absicht kurz zuvor 99,9 Gramm des Kokaingemischs zum Preis von insgesamt 5.500 Euro an den Verdeckten Ermittler verkauft hatte, festgenommen. Das restliche Kokaingemisch wurde bei einer anschließenden Wohnungsdurchsuchung sichergestellt.

2. Das Landgericht hat "unter Beachtung des Grundsatzes zu Gunsten des Angeklagten" seinen Feststellungen "mangels weiterer Erkenntnisse zunächst und hauptsächlich die insoweit geständige Einlassung des Angeklagten zu Grunde gelegt." Die Einlassung des Angeklagten, er habe bei F. 120 Gramm Kokain bestellt, wovon 100 Gramm zum Weiterverkauf und 20 Gramm zum Eigenkonsum bestimmt gewesen seien, habe sich nicht mit der zu einer Verurteilung ausreichenden Sicherheit dahingehend widerlegen lassen, dass er die gesamte Menge von 645 Gramm auf Kommission angekauft und übernommen habe, um dieses gewinnbringend weiterzuverkaufen.

Hinsichtlich des Umstandes, dass der Lieferant F. in dem gegen ihn selbst geführten Strafverfahren angegeben hatte, er habe die Gesamtmenge von 645 Gramm Kokain an den Angeklagten verkauft, hat sich die Strafkammer "ohne weitere zwingende Hinweise zu Lasten des Angeklagten" nicht in der Lage gesehen, dies als richtig anzunehmen, weil es für F. "im Hinblick auf den gegen ihn erhobenen Strafvorwurf des unerlaubten Handeltreibens in nicht geringer Menge zumindest nach seiner eigenen Einschätzung ohne ihm günstige Bedeutung gewesen sein mag, etwaige weitere Abnehmer zu benennen." Förmlich hierüber Beweis erhoben hatte die Strafkammer nicht, nachdem F. im Strafverfahren gegen den Angeklagten gemäß § 55 StPO von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte.

Nach Auffassung der Strafkammer sprachen auch die durch die Lichtbilder dokumentierten Portionierungen des aufgefundenen Kokaingemischs nicht gegen die Einlassung des Angeklagten, er habe auf Wunsch des F. die restliche (nicht für ihn bestimmte) Menge in verschiedene Portionen aufgeteilt, wobei das Landgericht jedoch auch erkannt hat, dass sich ein Sinn dieses Vorgehens "insoweit nicht eindeutig" erweist.

Für die Strafkammer erschien zwar auch ein Handeltreiben des Angeklagten mit einer großen Menge nicht ausgeschlossen; deutliche Hinweise hierauf sah sie aber nicht, auch nicht unter Berücksichtigung des Inhalts der Aussage des Verdeckten Ermittlers, der vom Angebot des Angeklagten zum Verkauf größerer Mengen berichtet hatte. Hierbei hat die Strafkammer zusätzlich berücksichtigt, dass der Angeklagte nach seinem Auftreten in der Hauptverhandlung zu großspurigem Vorbringen neigt, weshalb ohne weiteres auch eine Übertreibung durch ihn zu bedenken ist, um sich wichtig zu machen.

3. Die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält sachlich - rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Das Revisionsgericht hat es grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten von einem Tatvorwurf freispricht oder vorliegend wegen Teilen einer Tat nicht verurteilt, weil es insoweit Zweifel an dessen Tathandlungen und subjektivem Täterwillen hat bzw. diese nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich - rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt auch, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 1. Juli 2008 - 1 StR 654/07, Rn. 18; vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, NStZ 2011, 108, 109 und vom 1. Februar 2011 - 1 StR 408/10, Rn. 15).

b) Zwar hat das Landgericht vorliegend die den Angeklagten belastenden Indizien dargestellt und im Einzelnen gewürdigt. Deren Bewertung genügt den vorstehenden Grundsätzen jedoch nicht.

So hat die Strafkammer keinen nachvollziehbaren Grund dafür gesehen, weshalb der Angeklagte das ihm nach seiner Einlassung nur zur kurzfristigen Aufbewahrung übergebene Kokaingemisch in völlig unterschiedliche Portionen von 132 Gramm, 148,5 Gramm, 241 Gramm und 24,1 Gramm aufteilte und abpackte, zumal keine dieser Portionen derjenigen von 20 Gramm entsprach, welche er neben der an den Verdeckten Ermittler verkauften Teilmenge von 100 Gramm für sich erworben hatte. Das Landgericht hat dabei verkannt, dass dieses Indiz auf eine eigene Weiterverwendung des Rauschgifts hindeutet.

c) Das Landgericht beschränkt sich im Übrigen rechtsfehlerhaft darauf, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen. Es setzt sich hingegen nicht damit auseinander, ob die Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung hätten begründen können (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2004 - 4 StR 15/04, wistra 2004, 432 mwN).

Hinsichtlich der Auskunftsverweigerung F.s wäre die als unwiderlegbar hingenommene Einlassung des Angeklagten bezüglich der behaupteten Bitte F.s um kurzfristige Aufbewahrung des Kokaingemischs nicht ohne weiteres als unwiderlegbar hinzunehmen, sondern den Angaben F. s in seinem eigenen Strafverfahren gegenüber zu stellen gewesen. Die bloßen Vermutungen der Strafkammer, ob und welche Bedeutung entsprechende Angaben für F. in seinem eigenen Strafverfahren gehabt haben könnten, können jedenfalls nicht ausschließen, dass dessen Angaben, mit denen er sich auch eines größeren Handelsumfangs belastete, zutreffend waren. Die neu zur Entscheidung berufene Kammer wird auch der Frage nachzugehen haben, ob F. noch immer ein Auskunftsverweigerungsrecht zusteht.

Schließlich wäre in diesem Gesamtzusammenhang auch noch zu erörtern gewesen, dass der Angeklagte nach der Durchsuchung und Beschlagnahme des Kokains gegenüber dem Polizeibeamten P. äußerte, 20 Minuten später sei nichts mehr in der Wohnung gewesen, was er aber eigentlich nicht wissen konnte; denn nach seiner Einlassung war mit F. nichts Genaues ausgemacht, wann dieser das Kokain wieder abholen sollte.

4. Hinsichtlich der Tat Ziffer 4 war daher der Schuldspruch mit den Feststellungen aufzuheben. Der neue Tatrichter wird insoweit die Feststellungen neu zu treffen haben. Falls die Hauptverhandlung erneut ergeben sollte, dass hinsichtlich der beim Angeklagten sichergestellten Menge ein Handeltreiben nicht in Betracht kommt, wird sich die Strafkammer damit auseinandersetzen müssen, ob der Angeklagte neben dem unerlaubten Besitz sich nicht doch auch tateinheitlich wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben strafbar gemacht hat; denn es liegt nicht nahe und wäre daher zu erörtern gewesen, weshalb der Lieferant F. eine solch große Menge zum Eigenverbrauch vorhalten wollte, zumal dann auch das vom Angeklagten vorgenommene Aufteilen dieser Menge keinerlei Sinn gemacht hätte.

Die Einzelstrafe im Fall Ziffer 4 sowie die Gesamtfreiheitstrafe können keinen Bestand haben und sind entsprechend dem Ergebnis der neuen Hauptverhandlung neu zu bemessen.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 862

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel