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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 861

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 68/12, Beschluss v. 27.07.2012, HRRS 2012 Nr. 861


BGH 1 StR 68/12 - Beschluss vom 27. Juli 2012 (LG Mannheim)

Hinweispflicht des Gerichtes (Verwertung einer gerichtskundlichen Tatsache; Anspruch auf rechtliches Gehör; wesentliche Förmlichkeit).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 261 StPO; § 273 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache in aller Regel ein Hinweis zu erteilen, das Tatgericht werde sie (möglicherweise) seiner Entscheidung als offenkundig zugrunde legen. Hierdurch soll dem Angeklagten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt und ihm insbesondere die Möglichkeit wirksamer Verteidigung eröffnet werden.

2. Die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache gehört aber nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beachtung das Protokoll ersichtlich machen muss. Sie muss gesondert bewiesen werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14. Oktober 2011 mit den Feststellungen aufgehoben

a) im Fall II. B. 2. der Urteilsgründe,

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung (Fall II. B. 1. der Urteilsgründe), Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung (Fall II. B. 2. der Urteilsgründe), Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung (Fall II. B. 3. der Urteilsgründe) sowie wegen Bedrohung (Fall II. B. 4. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrens- und die Sachrüge gestützten Revision. Das im Übrigen unbegründete Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge nur im tenorierten Umfang Erfolg.

1. Nach den Feststellungen zur Tat II. B. 2. hat der Angeklagte in der ersten Stunde des 27. April 2010 seine damalige Freundin Y. durch Androhung von Schlägen dazu gebracht, gegen ihren Willen den vaginalen Geschlechtsverkehr ungeschützt bis zum Samenerguss zu erdulden.

a) Der in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrüge, der Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, liegt - auch unter Berücksichtigung der durch die Sachrüge eröffneten schriftlichen Urteilsgründe - folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

Der Angeklagte hat angegeben, seine Freundin niemals zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. Zu der Frage, ob es in der Tatnacht überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, hat er sich unterschiedlich geäußert: Während er in der Hauptverhandlung bekundet hat, er glaube dies, "sei sich da aber nicht sicher" (UA S. 13), hat er bei seiner polizeilichen Vernehmung am 2. Juni 2010 ausgesagt, er "könne (dies) nicht ausschließen, ... glaube dies aber nicht" (UA S. 14), und vor dem Haftrichter am 29. Juni 2010 angegeben, "dass es seiner - nicht sicheren - Erinnerung nach ... zu Geschlechtsverkehr gekommen sei" (UA S. 15).

Y. hat die Tat im Rahmen ihrer polizeilichen Zeugenvernehmungen so geschildert, wie sie zu II. B. 2. der Urteilsgründe festgestellt worden ist. In der Hauptverhandlung hatte sie allerdings "keine konkrete Erinnerung mehr ..., sondern war nur in der Lage zu schildern, wie der Angeklagte ... üblicherweise ... den Geschlechtsverkehr erzwang" (UA S. 17).

Bei einer am 27. April 2010 gegen 22.50 Uhr durchgeführten gynäkologischen Untersuchung von Y. wurden keine Spermatozoen festgestellt. Dies hat das Landgericht als nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben sprechend bewertet, weil der ungeschützte Geschlechtsverkehr zum Untersuchungszeitpunkt bereits etwa 23 Stunden zurücklag, und diesbezüglich ausgeführt:

"Wie der Kammer, die häufig mit Sexualdelikten befasst ist, bekannt ist, können Spermatozoen innerhalb eines solchen Zeitraums bereits zersetzt und damit nicht mehr nachweisbar sein" (UA S. 23).

Die Revision rügt, das Landgericht habe über diese Tatsache keinen Beweis erhoben, sondern sie als gerichtskundig angesehen und bei seiner Beweiswürdigung herangezogen, ohne den Angeklagten zuvor auf die in Anspruch genommenen gerichtlichen Kenntnisse hingewiesen zu haben.

b) Diese - zulässig erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - Rüge greift durch (§ 349 Abs. 4 StPO).

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache in aller Regel ein Hinweis zu erteilen, das Tatgericht werde sie (möglicherweise) seiner Entscheidung als offenkundig zugrunde legen (BGH, Urteil vom 3. November 1994 - 1 StR 436/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 2; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 570 f. mwN). Hierdurch soll dem Angeklagten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt und ihm insbesondere die Möglichkeit wirksamer Verteidigung eröffnet werden (BGH, Urteil vom 29. März 1994 - 1 StR 12/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 1; s. auch BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 4 StR 198/05, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Offenkundigkeit 3).

bb) Ein solcher Hinweis ist vorliegend nicht gegeben worden. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit schweigt. Denn die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache gehört nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beachtung das Protokoll ersichtlich machen muss (BGH, Beschluss vom 6. Februar 1990 - 2 StR 29/89, BGHSt 36, 354, 359 f.).

Der geltend gemachte Verfahrensfehler wird jedoch durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen bewiesen. Nach der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin vom 10. April 2012 "hat sich die Kammer nicht veranlasst gesehen, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Annahme eines stattgefundenen Geschlechtsverkehrs mit" dem gynäkologischen "Untersuchungsergebnis durchaus zu vereinbaren sein kann". In vergleichbarer Weise haben sich die beisitzenden Richterinnen in ihren Stellungnahmen vom 10. bzw. 13. April 2012 geäußert. Die staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertreter haben sich diesbezüglich nicht mehr erinnern können.

cc) Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass der Schuldspruch wegen der zu II. B. 2. festgestellten Tat auf dem Verfahrensfehler beruht, weil der vom Landgericht als gerichtskundig angesehene Umstand (Dauer der Nachweisbarkeit von Spermatozoen) für die Frage, ob es zum Tatzeitpunkt überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, bedeutsam sein kann. Anders verhielte es sich zwar, wenn dies den Einlassungen des Angeklagten entnommen werden könnte. Hierzu erweisen sich diese aber als zu unsicher.

2. Die zu II. B. 1. und 3. der Urteilsgründe festgestellten Taten richteten sich zwar ebenfalls gegen Y. Ebenso wie beim Fall II. B. 4. der Urteilsgründe, den der Angeklagte gestanden hat, vermag der Senat insofern aber auszuschließen, dass sich der dargelegte Verfahrensfehler - namentlich auf die zugrunde liegende Beweiswürdigung - ausgewirkt hat. Denn das Landgericht hat die Verurteilung jeweils auf eine sorgfältige Würdigung der erzielten Beweisergebnisse gestützt und hierbei berücksichtigt, dass der Angeklagte einen der Vorwürfe (Fall zu II. B. 1. der Urteilsgründe) - wenn auch in abgeschwächter Form - selbst eingeräumt hat.

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. B. 2. der Urteilsgründe zieht den Wegfall der für diese Tat verhängten Einzelstrafe von zwei Jahren und neun Monaten sowie, da es sich dabei um die Einsatzstrafe handelt, die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich. Die übrigen gegen den bereits zuvor wegen mehrerer Körperverletzungen verurteilten Angeklagten verhängten Einzelstrafen (neun- und sechsmonatige Freiheitsstrafe, Geldstrafe vom 90 Tagessätzen zu je 5 €) können bestehen bleiben.

4. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 861

Externe Fundstellen: NStZ 2013, 121; StV 2012, 710

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel