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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 662

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 212/10, Beschluss v. 07.07.2010, HRRS 2010 Nr. 662


BGH 1 StR 212/10 - Beschluss vom 7. Juli 2010 (AG Rosenheim; AG Garmisch-Partenkirchen; LG Traunstein; OLG München)

BGHSt 55, 220; Gesamtstrafenbildung durch das Berufungsgericht bei wirksamer Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung; Divergenzvorlage.

§ 55 StGB; § 56 StGB; § 318 StPO; § 331 StPO; § 460 StPO; § 462 StPO; § 121 Abs. 2 GVG;

Leitsätze

1. Auch bei einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB durch das Berufungsgericht vorzunehmen, wenn der erstinstanzliche Richter eine Entscheidung zu dieser Frage nicht getroffen hat. (BGHSt)

2. Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, der auf Grund einer Hauptverhandlung und des darin gegebenen unmittelbaren persönlichen Eindrucks von dem Angeklagten entscheidet. Sein Urteil bietet eine bessere Garantie für eine gerechte Strafzumessung als ein nachträgliches Beschlussverfahren (vgl. BGHSt 12, 1, 6 ff.; 25, 382, 384). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auch bei einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB durch das Berufungsgericht vorzunehmen, wenn der erstinstanzliche Richter eine Entscheidung zu dieser Frage nicht getroffen hat.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Rosenheim hat die Angeklagte durch Urteil vom 14. Juli 2009 wegen Betruges in 14 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Für zwei Taten wurden Einzelgeldstrafen verhängt, für die übrigen zwölf Taten Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten bis zu sieben Monaten.

Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt. In der Berufungshauptverhandlung hat sie ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch und innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Ihr Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

Denn das Landgericht Traunstein hat durch Urteil vom 11. November 2009 erkannt:

"Auf die Berufung der Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 14. Juli 2009 in Ziffer 2 (= Strafausspruch) wie folgt neu gefasst:

Die Angeklagte wird unter Einbeziehung der Verurteilung durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen vom 8. Oktober 2009 (Az.: 2 Cs 57 Js 29363/ 08) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten und einer Woche verurteilt.

Die Angeklagte wird zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten bezüglich der Taten zwischen dem 18. Oktober 2008 und dem 26. November 2008 verurteilt.

Die Angeklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens".

Bei der einbezogenen Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen vom 8. Oktober 2009 handelt es sich um eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 20 Euro für eine am 22. Juni 2008 begangene Tat. Zum Zeitpunkt des Urteils des Amtsgerichts Rosenheim vom 14. Juli 2009 war der Strafbefehl noch nicht erlassen.

Gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein hat die Angeklagte Revision eingelegt und insbesondere die Verletzung materiellen Rechts gerügt.

Das Oberlandesgericht München beabsichtigt, die Revision der Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.

Es hält die Berufungsbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung zwar für wirksam, ist aber der Auffassung, dass die eingetretene Teilrechtskraft das Berufungsgericht nicht an einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung hindere.

An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht München durch die Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 15. September 2004 (VRS 107, 449) und des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 9. Januar 2007 (NStZ-RR 2007, 196) gehindert.

Das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg ist der Auffassung, die in § 318 StPO angelegte weit reichende Dispositionsfreiheit des Rechtsmittelberechtigten sei durch die Rechtsmittelgerichte im Rahmen des Möglichen zu respektieren. Eine an sich zulässige Berufungsbeschränkung sei zwar dann unwirksam, wenn Gründe materieller Gerechtigkeit ihrer Anerkennung entgegenstünden.

Auch nach diesem Maßstab sei eine Gesamtstrafenlage i.S.d. § 55 StGB hier aber unbeachtlich, da über die Einbeziehung weiterer Strafen im Beschlussverfahren gemäß § 460 StPO entschieden werden könne. Es bestehe kein absoluter Vorrang des Urteilsverfahrens vor dem Beschlussverfahren; Ausnahmefälle seien bereits anerkannt worden. Der Grundsatz der Dispositionsfreiheit gebiete die Ausklammerung der Frage nachträglicher Gesamtstrafenbildung aus dem Prüfungsprogramm der Berufungshauptverhandlung. Der Disposition durch den Rechtsmittelführer gebühre der Vorrang gegenüber dem verfahrensökonomischen Gesichtspunkt, ein von Amts wegen zu betreibendes gesondertes Beschlussverfahren durch die Behandlung der Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB zu erübrigen. Der Rechtsmittelführer könne beachtliche Gründe haben, die Frage der ihm (z.B. bei bisheriger Aussetzung der einziehungsfähigen Freiheitsstrafe zur Bewährung und drohender Nichtaussetzung der zu bildenden Gesamtfreiheitsstrafe) möglicherweise nachteiligen nachträglichen Gesamtstrafenbildung erst zu späterer Zeit prüfen zu lassen, zu der z.B. wegen Erledigung im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB eine Einbeziehung ausscheidet oder die Legalprognose für eine Strafaussetzung sich verbessert hat.

Das Oberlandesgericht Brandenburg ist ebenfalls der Ansicht, die mit der Regelung des § 318 StPO gewährte Dispositionsfreiheit des Rechtsmittelführers erlaube ihm die Beschränkung seines Rechtsmittels mit der Wirkung, dass die nicht angegriffenen Teile der Entscheidung in Rechtskraft erwachsen. Die neu entstandene Gesamtstrafenlage erfordere keine Korrektur zu Lasten der Dispositionsfreiheit des Rechtsmittelführers, weil die Bildung der Gesamtstrafe nach Rechtskraft der Entscheidung im Beschlusswege gemäß § 460 StPO nachträglich erfolgen könne.

Das Oberlandesgericht München hat deshalb die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

"Ist bei einer Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB durch das Berufungsgericht zulässig?".

Der Generalbundesanwalt ist der Rechtsauffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts beigetreten und hat beantragt, wie folgt zu beschließen:

"Bei einer Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB durch das Berufungsgericht zulässig, wenn der erste Richter eine Entscheidung zu dieser Frage nicht getroffen hat".

Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass die Vorlegungsfrage des Oberlandesgerichts München zu weit gefasst ist. Sie würde nämlich über die Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren hinaus nach ihrem Wortlaut auch solche Fälle erfassen, in denen dem erstinstanzlichen Richter die Strafen, welche hätten einbezogen werden können, bekannt waren und er daher bewusst eine Entscheidung über die Gesamtstrafenbildung getroffen hat. Hat der Tatrichter aber die Anwendung des § 55 StGB geprüft und rechtsirrtümlich abgelehnt, ist eine Korrektur dieses Urteilsspruchs nur im Rechtsmittelzug möglich. § 55 StGB ist dann nicht i.S.d. § 460 StPO "außer Betracht geblieben" (vgl. KK-Appl StPO 6. Aufl. § 460 Rdn. 5). In solchen Fällen bleibt es bei entsprechender - wirksamer - Rechtsmittelbeschränkung bei der Rechtskraft der Entscheidung und diese könnte auch im Beschlussverfahren gemäß §§ 460 ff. StPO nicht korrigiert werden. Liegen die entsprechenden Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung durch den Berufungsrichter vor, ist eine Gesamtstrafenbildung durch ihn nicht nur zulässig, sondern er ist hierzu grundsätzlich verpflichtet (BGHSt 25, 382, 383), er hat sie vorzunehmen.

Der Senat hat daher die Vorlegungsfrage wie folgt präzisiert und neu gefasst:

Auch bei einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB vorzunehmen, wenn der erstinstanzliche Richter eine Entscheidung zu dieser Frage nicht getroffen hat.

II.

Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind gegeben.

1. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsfrage noch nicht entschieden. Der Beschluss vom 11. Februar 1988 (4 StR 516/87 = BGHSt 35, 208 f.) betraf einen anders gelagerten Sachverhalt, bei dem insbesondere das Verschlechterungsverbot zu prüfen war.

2. Die Vorlegungsfrage ist entscheidungserheblich.

Das Oberlandesgericht München kann die Revision der Angeklagten nicht wie beabsichtigt verwerfen, ohne von der Rechtsansicht des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg und des Oberlandesgerichts Brandenburg abzuweichen. Neben den vom vorlegenden Oberlandesgericht bereits genannten Judikaten steht auch der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 24. November 2006 (Az.: 2 Ss 210/06) der beabsichtigten Verwerfung entgegen.

Die Vorlegungsfrage wäre allerdings dann nicht entscheidungserheblich, wenn die Berufungsbeschränkung unwirksam wäre. Gegen die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung könnte zwar sprechen, dass das Amtsgericht Rosenheim rechtsfehlerhaft die Tagessatzhöhe nicht festgesetzt hat und dass die letzte Vorstrafe der Angeklagten unvollständig und damit rechtsfehlerhaft mitgeteilt wird (vgl. u.a. BayObLG NStZ-RR 2004, 336). Bedenken begegnet aber vor allem die Behauptung des vorlegenden Oberlandesgerichts, die Erwägungen des Amtsgerichts zur Bemessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe seien hier inhaltlich nicht so eng mit der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung verbunden, dass diese nicht unabhängig davon überprüft werden könnte.

Denn das Amtsgericht hat bei der Begründung der Bewährungsversagung formuliert: "Unter Berücksichtigung aller oben im Einzelnen bereits geschilderten Umstände, auf die verwiesen wird und die auch für die Sozialprognose erheblich sind".

Die Rechtsansicht des vorlegenden Oberlandesgerichts - der sich auch der Generalbundesanwalt angeschlossen hat -, dass die Berufungsbeschränkung gleichwohl wirksam ist, ist noch vertretbar, so dass die Vorlage zulässig ist (vgl. KK-Hannich 6. Aufl. Rdn. 43 zu § 121 GVG mwN).

Auch die weiteren Erwägungen des Oberlandesgerichts, die zur Begründung der beabsichtigten Verwerfung der Revision angeführt werden, insbesondere auch dazu, dass kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot gegeben ist, sind vertretbar und deshalb für den Senat bindend.

Danach ist die Vorlegungsfrage entscheidungserheblich.

III.

Der Senat beantwortet die Vorlegungsfrage wie aus der Beschlussformel ersichtlich.

In der Sache stimmt der Senat der vom Generalbundesanwalt und dem vorlegenden Oberlandesgericht vertretenen Rechtsansicht zu (vgl. auch MeyerGoßner StPO 53. Aufl. Rdn. 20a zu § 318; Graf-Eschelbach StPO Rdn. 28 zu § 318; Ruß in einer Anmerkung NStZ 1983, 137; Landgericht Freiburg NStZ-RR 2008, 236).

Sinn und Zweck des Gesetzes (§ 55 StGB und §§ 460 ff. StPO) gebieten eine Gesamtstrafenbildung durch das erkennende Gericht. Die Dispositionsbefugnis des Rechtsmittelführers hindert eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch das Berufungsgericht nicht.

1. § 55 StGB regelt die nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe. Er gilt auch für das Berufungsgericht (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. Rdn. 20 zu § 55). Der Tatrichter ist grundsätzlich verpflichtet, auf eine Gesamtstrafe zu erkennen, wenn im Zeitpunkt seines Urteils die Voraussetzungen der §§ 53 ff. StGB vorliegen. Er darf die Festsetzung der Gesamtstrafe nicht dem Verfahren nach §§ 460 ff. StPO überlassen (BGHSt 12, 1; 20, 292, 293; 23, 98, 99; 25, 382, 384; vgl. auch KK-Appl StPO 6. Aufl. Rdn. 4 zu § 460). Dies ergibt sich aus dem Grundgedanken des § 55 Abs. 1 StGB, die durch eine getrennte Aburteilung entstandenen Vor- und Nachteile auszugleichen. Danach sind Taten, die bei gemeinsamer Aburteilung nach §§ 53, 54 StGB behandelt worden wären, auch nach getrennter Aburteilung noch nachträglich so zu behandeln, dass der Täter im Ergebnis weder besser noch schlechter gestellt ist (st. Rspr.; vgl. Fischer aaO Rdn. 2 zu § 55 mwN). Hierbei kommt es allein auf die materiellrechtliche Regelung und nicht auf die verfahrensrechtliche Situation an (BGHSt 32, 193).

Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, der auf Grund einer Hauptverhandlung und des darin gegebenen unmittelbaren persönlichen Eindrucks von dem Angeklagten entscheidet (vgl. Ruß in NStZ 1983, 137, 138). Sein Urteil bietet eine bessere Garantie für eine gerechte Strafzumessung als ein nachträgliches Beschlussverfahren (vgl. BGHSt 12, 1, 6 ff.; 25, 382, 384).

Das Urteilsverfahren ist wegen des in ihm erhobenen Strengbeweises und wegen des in der Hauptverhandlung gewinnbaren unmittelbaren persönlichen Eindrucks dem Beschlussverfahren grundsätzlich überlegen (vgl. Rissing-van Saan in Leipziger Kommentar StGB 12. Aufl. Rdn. 46 zu § 55). Im Nachverfahren wird hingegen gemäß § 462 Abs. 1 Satz 1 StPO ohne mündliche Verhandlung im Freibeweisverfahren entschieden.

Das Beschlussverfahren kommt nur zum Zuge, wenn bei der tatrichterlichen Entscheidung § 55 StGB "außer Betracht geblieben" ist (vgl. KK-Appl aaO Rdn. 4 zu § 460), wobei mit den Worten "außer Betracht geblieben sind" ein tatsächliches Geschehen umschrieben wird (BGHSt 12, 1, 3).

Dass insbesondere aus prozessökonomischen Gründen vereinzelt Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen wurden (vgl. hierzu Fischer aaO Rdn. 35 zu § 55) rechtfertigt nicht, für den vorliegenden Fall eine weitere Ausnahme anzunehmen. Denn prozessökonomische Gesichtspunkte sprechen gerade dafür, dass das Berufungsgericht selbst gleich die Gesamtstrafenbildung vornimmt. Nur so wird auch dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen.

Für dieses Ergebnis spricht auch der prozessökonomische Grund, dass sich nicht noch ein weiteres Gericht im Rahmen eines Verfahrens nach §§ 460 ff. StPO mit der Gesamtstrafenbildung befassen soll. Deshalb steht die neu geschaffene Möglichkeit für das Revisionsgericht (§ 354 Abs. 1b StPO), den Ausspruch über die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufzuheben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist, gerade nicht entgegen. Denn Ziel des Gesetzes ist, dass das erkennende Gericht selbst sofort die Gesamtstrafenbildung vornimmt. Zudem bietet das Verfahren vor dem Gericht, das auf Grund einer Hauptverhandlung und des darin gegebenen unmittelbaren persönlichen Eindrucks von dem Angeklagten entscheidet, eine bessere Garantie für eine gerechte Strafzumessung (BGHSt 25, 382, 384).

Das Verfahren gemäß §§ 460 ff. StPO dient der Nachholung der unterlassenen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB. § 460 StPO erfasst die Fälle, in denen die nach § 55 StGB grundsätzlich zwingend gebotene Gesamtstrafenbildung im Erkenntnisverfahren unterblieben ist. § 460 StPO stellt nur einen zusätzlichen Rechtsbehelf zur Sicherung des mit § 55 StGB verfolgten Zieles dar, wobei das Erkenntnisverfahren grundsätzlich Vorrang hat.

Es wäre widersinnig, die gebotene Gesamtstrafenbildung in das minder wertvolle Ersatzverfahren zu verlagern, wenn eines der Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist und deshalb die Möglichkeit besteht, die Gesamtstrafe in einer Hauptverhandlung festzusetzen, in der die Bildung einer gerechten Gesamtstrafe weit sicherer verbürgt ist (BGHSt 12, 1, 9).

Das Gesetz will, dass in allen Strafsachen von einiger Bedeutung neben den Berufsrichtern auch Laienrichter über die Schuld- und Straffrage mitentscheiden. Sie können aber bei der Bildung einer Gesamtstrafe nur mitwirken, wenn über ihre Höhe in einer Hauptverhandlung und nicht im Beschlussverfahren entschieden wird. Die Ausschaltung der Laienrichter bei der Bildung der Gesamtstrafe auch in Fällen, in denen ihre Mitwirkung in einer Hauptverhandlung nach der Verfahrenslage noch möglich ist, würde deshalb einen sachlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die gesetzlich geregelte Zuständigkeit und Besetzung der Gerichte bedeuten (BGHSt 12, 1, 7).

2. Weder die eingetretene Teilrechtskraft, noch die Dispositionsbefugnis stehen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung durch das Berufungsgericht entgegen.

a) Das Nachverfahren gemäß §§ 460 ff. StPO bezweckt die Verwirklichung des materiellen Rechts ohne Rücksicht auf die Rechtskraft der vorliegenden Urteile (BGHSt 35, 208, 214). Liegen die Voraussetzungen des § 460 StPO vor, so darf in die Rechtskraft früherer Entscheidungen eingegriffen werden. Der beschließende Richter im nachträglichen Verfahren hat keine größeren Befugnisse als der erkennende Richter (vgl. Ruß aaO).

Was im Nachverfahren gemäß §§ 460 ff. StPO zulässig ist, kann in der zweiten Instanz schwerlich untersagt sein (vgl. Stree in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. Rdn. 42 zu § 55).

§ 55 StGB ermächtigt und verpflichtet den Tatrichter in rechtskräftige frühere Gesamtstrafen einzugreifen; dies gilt erst recht für die Durchbrechung der Rechtskraft im selben Rechtszug (vgl. Meyer-Goßner aaO Rdn. 20a zu § 318 StPO). Für die Bildung der Gesamtstrafe nach § 55 StGB gibt die sachliche, nicht die verfahrensrechtliche Lage den Ausschlag.

b) Der Angeklagte wird in seiner Freiheit zur Einlegung und Beschränkung der Berufung nicht beeinträchtigt, da die Gesamtstrafenbildung ohne Rücksicht auf sein Rechtsmittel auf jeden Fall stattfindet (vgl. auch BGHSt 35, 208, 215). Deshalb gebührt dem auf Grund einer Hauptverhandlung entscheidenden Berufungsrichter der Vorzug. Dem gesetzgeberischen Ziel einer einheitlichen Entscheidung auf Grund einer Gesamtwürdigung der Taten und des Täters würde das Gericht nicht gerecht werden, wenn es auf das Verfahren nach §§ 460 ff. StPO verweisen würde.

Hat der erstinstanzliche Richter keine Gesamtstrafenentscheidung getroffen, muss das Berufungsgericht die Gesamtstrafenbildung nachholen (BGHSt 35, 212).

Hierin liegt kein Verstoß gegen § 331 Abs. 1 StPO; denn die Gesamtstrafenbildung enthält in diesem Fall keine Abänderung der vorausgegangenen Rechtsfolgenentscheidungen, sondern einen im Berufungsurteil erstmals vorzunehmenden gesetzlich gebotenen richterlichen Gestaltungsakt (BGHSt 35, 212; Fischer aaO Rdn. 20 zu § 55 StGB mwN). Das Verschlechterungsverbot setzt voraus, dass der erste Richter eine Rechtsfolge festgesetzt hat, um deren Verschärfung es geht. Fehlt es - wie hier - an der Festsetzung einer solchen Rechtsfolge, liegt eine richterliche Entscheidung, deren Änderung zum Nachteil des Angeklagten möglich wäre, überhaupt nicht vor (BGHSt 35, 212, 213).

Soweit das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg auf etwaige Vorteile des Rechtsmittelführers verweist, die durch eine spätere Entscheidung im Nachverfahren entstehen könnten, ist darauf hinzuweisen, dass eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung den Verurteilten weder schlechter noch besser stellen soll. Nach der Auffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg dürfte der Berufungsrichter eine dem erstinstanzlichen Richter unbekannte gesamtstrafenfähige, aber zwischenzeitlich vollstreckte, Verurteilung nicht im Wege des Härteausgleichs bei der Straffestsetzung berücksichtigen, obwohl sich dies unmittelbar zu Gunsten des Angeklagten auswirken würde (z.B. könnte hierdurch eine Freiheitsstrafe von einem oder zwei Jahren unterschritten werden).

IV.

Die Vorlegungsfrage ist daher wie aus der Beschlussformel ersichtlich zu beantworten.

Die Entscheidung entspricht dem Antrag des Generalbundesanwalts.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 662

Externe Fundstellen: BGHSt 55, 220; NJW 2010, 3589

Bearbeiter: Karsten Gaede