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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 67

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 145/10, Beschluss v. 17.11.2010, HRRS 2011 Nr. 67


BGH 1 StR 145/10 - Beschluss vom 17. November 2010 (LG Mannheim)

Beweisantrag (Unzulässigkeit der Vernehmung eines späteren Mitangeklagten; zwischenzeitliche Verfahrensverbindung; Zeitpunkt der Entscheidung; Recht auf ein faires Verfahren; Recht auf Ladung und Vernehmung eines Entlastungszeugen); ausreichende Kompensation der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung.

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMKR; § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; Art. 13 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Mitangeklagter kann nicht Zeuge sein, so dass ein Beweisantrag auf seine Vernehmung unzulässig ist im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dies gilt auch dann, wenn das Verfahren gegen den Mitangeklagten zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht verbunden war, zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag aber mit dem des Antragstellers verbunden war.

2. Das Tatgericht ist auch nicht gehalten, unverzüglich nach Antragstellung eine Entscheidung zu treffen, sondern konnte diese längstens bis zu dem in § 258 Abs. 1 StPO bezeichneten Schluss der Beweisaufnahme zurückstellen. Angeklagter und Verteidigung haben keinen Anspruch auf sofortige oder alsbaldige Entscheidung. Es entspricht vielmehr dem Grundsatz der Prozessökonomie, über einen Beweisantrag erst dann zu entscheiden, wenn hierzu eine aus Sicht des Gerichts hinreichend zuverlässige Entscheidungsgrundlage besteht, die durch einen möglichen oder gar nahe liegenden weiteren Verfahrensverlauf nicht alsbald wieder in Frage gestellt werden würde. Nur ausnahmsweise können besondere Umstände - etwa unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness - eine zeitnahe Verbescheidung des Beweisantrags erfordern.

3. Bei der Bemessung der Höhe einer Kompensation wegen der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung ist auch in den Blick zu nehmen, dass eine überzogene strafmildernde Berücksichtigung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel generell den Zielen effektiver Verteidigung der Rechtsordnung zuwiderliefe; dies gilt namentlich im Bereich - hier gegebener - schwerer Wirtschaftskriminalität (vgl. BGH wistra 2006, 428).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 8. Juli 2009 werden als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts, die durch das weitere Revisionsvorbringen nicht entkräftet werden, bemerkt der Senat:

1. Entgegen dem Revisionsvorbringen des Angeklagten W. ist die Ablehnung von dessen Beweisantrag Nr. 18, mit dem die zeugenschaftliche Einvernahme des Mitangeklagten G. beantragt wurde, rechtsfehlerfrei. Die Strafkammer hat den Antrag zu Recht gemäß § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO als unzulässig abgelehnt. Ein Mitangeklagter kann nicht Zeuge sein, insoweit besteht ein Beweiserhebungsverbot (Fischer in KK-StPO, 6. Aufl. § 244 Rn. 109; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. § 244 Rn. 49). Zwar waren zum Zeitpunkt der Antragstellung die gemeinsam begonnenen Verfahren abgetrennt gewesen, nicht indes (anders als in dem der Entscheidung BGH, Urteil vom 29. März 1984 - 4 StR 781/83, NStZ 1984, 464, zugrunde liegenden Fall) zum insoweit einzig maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag, zu dem die Verfahren wieder verbunden waren und damit (erneut) eine prozessuale Gemeinsamkeit bestand.

Die Strafkammer war auch nicht gehalten, unverzüglich nach Antragstellung eine Entscheidung zu treffen, sondern konnte diese - im Rahmen der dem Vorsitzenden gemäß § 238 StPO obliegenden Verfahrensleitung - längstens bis zu dem in § 258 Abs. 1 StPO bezeichneten Schluss der Beweisaufnahme zurückstellen (vgl. Becker in LR-StPO, 26. Aufl. § 244 Rn. 133; Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 44 jew. mwN; vgl. auch Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. Rn. 198 ff.). Angeklagter und Verteidigung haben keinen Anspruch auf sofortige oder alsbaldige Entscheidung. Es entspricht vielmehr dem Grundsatz der Prozessökonomie, über einen Beweisantrag erst dann zu entscheiden, wenn hierzu eine aus Sicht des Gerichts hinreichend zuverlässige Entscheidungsgrundlage besteht, die durch einen möglichen oder gar nahe liegenden weiteren Verfahrensverlauf nicht alsbald wieder in Frage gestellt werden würde. Umstände, die ausnahmsweise - etwa unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness - eine zeitnahe Verbescheidung des Beweisantrags hätten erfordern können (vgl. Dahs StraFo 1998, 254; Hanack JZ 1970, 561), sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

2. Ohne Beschwer für den Angeklagten G. hat die Strafkammer aufgrund einer von ihr festgestellten Verfahrensverzögerung ausgesprochen, dass von der (revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden) Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren ein Jahr als vollstreckt gelte. Soweit der Angeklagte G. insoweit rügt, das Landgericht habe die Verzögerung nicht ausreichend berücksichtigt, da es eine solche von zwei Jahren und vier Monaten bis zur Anklageerhebung und weiteren sechs Monaten bis zu deren Eröffnung hätte feststellen müssen, bleibt dies ohne Erfolg.

Unbeschadet der Frage, ob der Senat dies hier auf die insoweit einzig erhobene Sachrüge hin prüfen kann (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2003 - 1 StR 445/03; Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 376/03), erweist sich die Rüge jedenfalls als unbegründet. Wollte man - entgegen den Darlegungen zum Verfahrensgang in der staatsanwaltschaftlichen Gegenerklärung - die von der Revision behauptete Verfahrensverzögerung unterstellen, wäre diese hier durch die vom Landgericht vorgenommene Kompensation immer noch hinlänglich ausgeglichen, zumal deutlich gravierendere individuelle Belastungen des Angeklagten infolge der behaupteten weiteren Verfahrensverzögerung weder von der Revision aufgezeigt werden noch ersichtlich sind. Bei der Bemessung der Höhe einer Kompensation ist auch in den Blick zu nehmen, dass eine überzogene strafmildernde Berücksichtigung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel generell den Zielen effektiver Verteidigung der Rechtsordnung zuwiderliefe; dies gilt namentlich im Bereich - hier gegebener - schwerer Wirtschaftskriminalität (vgl. BGH, Urteil vom 8. August 2006 - 5 StR 189/06, wistra 2006, 428).

3. Die Rüge des Angeklagten G., die Strafkammer hätte wegen einer aufgrund langer Verfahrensdauer nicht mehr einbeziehungsfähigen, weil zwischenzeitlich erlassenen Verurteilung einen Härteausgleich vornehmen müssen, ist verfehlt. Dadurch, dass die frühere Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen wurde und keine nachträgliche Gesamtstrafe mit einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe mehr gebildet werden konnte, ist dem Angeklagten ein Vorteil, kein Nachteil entstanden (BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2006 - 1 StR 377/06; BGH, Urteil vom 18. August 2004 - 2 StR 249/04, NStZ-RR 2004, 330 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 67

Externe Fundstellen: NStZ 2011, 168

Bearbeiter: Karsten Gaede