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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 737

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 204/08, Beschluss v. 18.06.2008, HRRS 2008 Nr. 737


BGH 1 StR 204/08 - Beschluss vom 18. Juni 2008 (LG München)

Keine Verletzung des fairen Verfahrens durch das Inaussichtstellen einer rechtswidrigen Verfahrensabsprache (Verzicht auf die Sicherungsverwahrung gegen verfahrensfremde Aufklärungshilfe; Hinweispflicht; Besorgnis der Befangenheit; Vertrauensschutz und Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung: Feststellung von Vertrauenstatbeständen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Vor § 1 StPO; Art. 6 EMRK; § 266 StGB; § 24 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Schafft das Tatgericht einen festgestellten Vertrauenstatbestand, auf Grund dessen der Angeklagte ein zur Verurteilung führendes Geständnis abgibt und den der Tatrichter sodann unter Verwertung des Geständnisses enttäuscht, liegt hierin ein revisibler Verstoß gegen das Recht auf ein faires Strafverfahren vor. Zu den Anforderungen an die Feststellung eines solchen Vertrauenstatbestandes durch eine angekündigte Höchststrafe in Verbindung mit der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung.

2. Die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist einer Verständigung im Strafverfahren nicht zugänglich (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 39; NStZ 2005, 526). Es ist insbesondere sachfremd, die Nichtanordnung gegen eine Aufklärungshilfe für andere Straftaten zu versprechen. Dies gilt auch dann, wenn die Anordnung der Maßregel nur nach § 66 Abs. 2 StGB in Betracht kommt. Ein nach einem gerichtlichen Höchststrafangebot abgegebenes Geständnis ist - gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt es abgegeben wird - grundsätzlich nicht geeignet, die Ermessensausübung entscheidend zu beeinflussen (vgl. BGH NStZ 2005, 526).

3. Eine dies missachtende Verfahrensweise der Beteiligten vermag - für sich allein - eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht zu begründen. Ein Rechtsnachteil hätte dem Angeklagten hieraus nur erwachsen können, wenn die Strafkammer auf Grund des früheren Angebots einer Nichtanordnung in ihrer Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht mehr unbefangen gewesen wäre. Das Vorgehen hat auch nicht wegen seiner Rechtswidrigkeit zur Konsequenz, dass das Urteil aufgehoben werden müsste.

4. Die tatsächliche Richtigkeit des Revisionsvortrags, aus dem sich ein verfahrensrechtlicher Verstoß ergeben soll, muss erwiesen sein und kann nicht lediglich nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" unterstellt werden (vgl. BGHSt 16, 164, 167; BGH NStZ 2008, 353).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 10. September 2007 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs in 127 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung, davon in 44 Fällen in Tateinheit mit Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten, in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen in 62 tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt und gemäß § 66 Abs. 2 StGB die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten ist unbegründet, da die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

Dies gilt neben der Sachrüge, die in allgemeiner Form erhoben ist, auch für die Verfahrensrüge, mit der die Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahrens geltend gemacht wird:

1. Folgender Verfahrensgang liegt zugrunde:

Zwischen dem 1. und dem 2. Hauptverhandlungstag fand zwischen den Berufsrichtern, dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern ein Gespräch im Hinblick auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung statt. Auf Grund dieses Gesprächs gab der Vorsitzende am zweiten Verhandlungstag zu Protokoll: "Dem Angeklagten wird seitens der Strafkammer in Aussicht gestellt, bei einem Geständnis nach Anklage eine Strafobergrenze von fünf Jahren und sechs Monaten, ohne Anordnung einer Sicherungsverwahrung, unter Berücksichtigung eines heutigen Geständnisses und des Alters des Angeklagten".

Die Staatsanwaltschaft erklärte sich hiermit nicht einverstanden.

Der Angeklagte legte an diesem Verhandlungstag und an den folgenden Verhandlungstagen kein Geständnis ab. Am 5. Verhandlungstag erklärte der Vorsitzende, dass sich die Kammer an ihre Erklärung vom 2. Verhandlungstag nur noch gebunden fühlen würde, wenn der Angeklagte bis zum nächsten Verhandlungstermin ein Geständnis ablegen werde. Der Angeklagte und seine Verteidiger legten besonderen Wert auf eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu dem Vorschlag des Gerichts, weil ihnen bewusst war, dass eine Absprache über die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung nicht zulässig ist und deshalb bei einer Nichteinbindung der Staatsanwaltschaft eine Korrektur im Rechtsmittelweg drohte. Der Angeklagte nahm deshalb zwischen dem 5. und dem 6. Verhandlungstag Kontakt zu der Staatsanwaltschaft auf und bot ihr Aufklärungshilfe zu bestimmten Straftaten Dritter an. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft am 6. Verhandlungstag in Aussicht, dass sie einer Verurteilung zu fünf Jahren und sechs Monaten ohne die Verhängung der Sicherungsverwahrung akzeptieren würde, wenn der Angeklagte substantielle Aufklärungshilfe in den anderen Verfahren leisten würde. Im Hauptverhandlungsprotokoll ist hierzu vermerkt:

"Im Hinblick darauf, dass es ... zu einem Gespräch zwischen dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gekommen ist und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer Aufklärung oder Aufklärungshilfe bei anderen strafbaren Handlungen noch nicht abschließend beurteilt werden können, unterbleibt der an sich für heute vorgesehene Hinweis an den Angeklagten, dass die ursprüngliche Strafobergrenze nicht mehr in Betracht kommt".

Die Vernehmungen des Angeklagten zu der angebotenen Aufklärungshilfe waren nach dem 7. Verhandlungstag abgeschlossen. Am 8. Verhandlungstag erklärte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, er könne "der vom Gericht dem Angeklagten in Aussicht gestellten Strafobergrenze bei einem umfassenden Geständnis von fünfeinhalb Jahren" nicht näher treten, weil die Angaben des Angeklagten keine Ermittlungsansätze böten bzw. einer Überprüfung nicht standhielten.

Nach einer kurzen Sitzungsunterbrechung gab der Angeklagte durch Verteidigererklärung ein Geständnis "nach Anklage in vollem Umfang" ab. Im Anschluss hieran gab der Vorsitzende zu Protokoll, dass die Kammer das Geständnis zur Kenntnis nehme, über die Frage der Sicherungsverwahrung könne jedoch erst nach Anhörung der Sachverständigen entschieden werden. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung auf Antrag der Verteidigung "zur Vorbereitung eines unaufschiebbaren Antrags" unterbrochen. Sie wurde fortgesetzt, ohne dass ein solcher Antrag gestellt wurde. Nach weiterer Beweisaufnahme erstatteten die Sachverständigen am 11. Verhandlungstag ihre Gutachten, in denen sie sich für die Verhängung der Sicherungsverwahrung aussprachen. Nach Schluss der Beweisaufnahme beantragte der Staatsanwalt eine Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von acht Jahren sowie die Anordnung der Sicherungsverwahrung.

Die Verteidigung beantragte, die von der Kammer am 2. Verhandlungstag in Aussicht gestellten Rechtsfolgen zu verhängen.

2. Die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist einer Verständigung im Strafverfahren nicht zugänglich (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 39; NStZ 2005, 526). Gleichwohl haben die Verfahrensbeteiligten, denen dies bewusst war, eine solche Verständigung angestrebt. Sie taten dies im Laufe der Hauptverhandlung sogar auch noch aus sachfremden Gesichtspunkten (Aufklärungshilfe für andere Straftaten). Dieses Vorgehen lief auf eine erhebliche Rechtsverletzung hinaus. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Anordnung der Maßregel hier nur nach § 66 Abs. 2 StGB in Betracht kam und deshalb im Ermessen der Strafkammer stand. Ein nach einem gerichtlichen Höchststrafangebot abgegebenes Geständnis ist - gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt es abgegeben wird - grundsätzlich nicht geeignet, die Ermessensausübung entscheidend zu beeinflussen (vgl. BGH NStZ 2005, 526).

Die rechtswidrige Verfahrensweise der Beteiligten vermag - für sich allein - eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht zu begründen. Ein Rechtsnachteil hätte dem Angeklagten hieraus nur erwachsen können, wenn die Strafkammer auf Grund dieser Vorgänge in ihrer Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht mehr unbefangen gewesen wäre. Derartiges hat die Revision nicht vorgetragen noch hatte sie das Geschehen zum Gegenstand eines - insoweit vorgreiflichen (vgl. BGH aaO) - Befangenheitsgesuchs gemacht.

Die Vorgehensweise des Landgerichts hat auch nicht schon allein deshalb, weil sie rechtswidrig ist, zur Konsequenz, dass das Urteil aufgehoben werden muss. Das würde nämlich dazu führen, dass das Revisionsgericht beanstandenswertes Verhalten des Tatrichters - ohne Rücksicht auf die Auswirkungen dieses Verhaltens auf die Verfahrensbeteiligten - durch die Aufhebung des Urteils "sanktioniert". Der Bundesgerichtshof hat wiederholt und in unterschiedlichen Zusammenhängen ausgesprochen, dass das Revisionsgericht den Tatrichter nicht zu "sanktionieren" oder zu "maßregeln" hat (StV 2004, 196; NStZ-RR 2006, 112, 114 f.; BGHSt 51, 84, 87).

3. Bei einer Revision des Angeklagten ist vielmehr entscheidend, ob bei dieser Vorgehensweise gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens, und zwar zum Nachteil des Angeklagten, verstoßen wurde. Diesen Verstoß sieht die Revision darin, dass das Landgericht sich nicht an seine Erklärung vom 2. Verhandlungstag gehalten und trotz des Geständnisses die Sicherungsverwahrung angeordnet habe, obwohl der Angeklagte bei Abgabe seines Geständnisses noch auf die Erklärung vom 2. Verhandlungstag vertrauen konnte. Wäre bewiesen, dass das Landgericht tatsächlich einen Vertrauenstatbestand geschaffen und der Angeklagte gerade deswegen das Geständnis abgelegt hat, dann läge freilich der gerügte Verstoß vor, und das hätte zur Aufhebung des Urteils geführt.

Der Senat hält es hingegen nicht für erwiesen, dass der Angeklagte das Geständnis im Vertrauen auf eine (weiter geltende) Zusage, bei einem Geständnis werde keine Sicherungsverwahrung angeordnet, abgelegt hat. Für den Angeklagten - auf seine Sichtweise kommt es hier an - war vielmehr von Anfang an erkennbar, dass das Gericht zu einer Verständigung über die Sicherungsverwahrung nur bei einem frühen Geständnis - vor oder zu Beginn der Beweisaufnahme - bereit war; denn ein wesentlicher Zweck der Verständigung war für das Gericht ersichtlich die Vermeidung einer längeren Beweisaufnahme. Dies wurde dem Angeklagten noch verdeutlicht, als der Vorsitzende am 5. Verhandlungstag eine Bindung der Kammer an ihre Erklärung vom 2. Verhandlungstag nur noch bis zum nächsten Verhandlungstermin kundtat. Da es - wie die dienstliche Erklärung des Sitzungsstaatsanwalts belegt - dem auch insoweit anwaltlich beratenen Angeklagten angesichts der auch seinen Verteidigern bekannten Unzulässigkeit der vorgesehenen Verständigung über die Sicherungsverwahrung vorrangig auf die Einbindung der Staatsanwaltschaft ankam, stand für den weiteren Prozessablauf entscheidend die Frage im Vordergrund, ob ihm diese Einbindung - durch Aufklärungshilfe in anderer Sache - gelingt. Hiervon hing für den Angeklagten ab, ob es zu der Verständigung mit dem Gericht kommt. Von dem Gelingen einer Einbindung der Staatsanwaltschaft machte auch die Strafkammer ersichtlich ihre Entscheidung abhängig, wie sich insbesondere aus ihrem hierauf Bezug nehmenden Protokollvermerk vom 6. Verhandlungstag ergibt. Nachdem es dem Angeklagten nicht gelungen war, die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu erhalten, konnte er auf Grund dieses Verfahrensablaufs nicht mehr davon ausgehen, dass die Kammer doch noch auf ihre ursprüngliche Erklärung vom 2. Verhandlungstag zurückkommt. Jedenfalls fehlt dem Senat insoweit eine ausreichend sichere Grundlage für eine erfolgreiche Verfahrensrüge. Die tatsächliche Richtigkeit des Revisionsvortrags, aus dem sich ein verfahrensrechtlicher Verstoß ergeben soll, muss erwiesen sein und kann nicht lediglich nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" unterstellt werden (vgl. BGHSt 16, 164, 167; BGH NStZ 2008, 353).

Im Übrigen hat die Strafkammer durch ihre Protokollerklärung im Anschluss an das Geständnis, das Geständnis werde zur Kenntnis genommen, über die Frage der Sicherungsverwahrung jedoch erst nach Anhörung der Sachverständigen entschieden, ihre Haltung bestätigt. Die Verteidigung hat dies auch dahin verstanden, dass das Geständnis nicht ohne weiteres zur Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung führt, was sich aus ihrem auf die Erklärung des Gerichts folgenden Unterbrechungsantrag wegen eines unaufschiebbaren Antrags (d.h. Befangenheitsantrags) ergibt. Die Verteidigung hatte daher die Möglichkeit, ihr weiteres prozessuales Vorgehen nach der von der Kammer vorgesehenen Verfahrensweise auszurichten.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 737

Externe Fundstellen: NStZ 2008, 620; StV 2008, 561

Bearbeiter: Karsten Gaede