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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 312

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 278/05, Urteil v. 21.02.2006, HRRS 2006 Nr. 312


BGH 1 StR 278/05 - Urteil vom 21. Februar 2006 (LG Landshut)

Beweiswürdigung beim Freispruch (überspannte Anforderung an die erforderliche Gewissheit und zweite Aufhebung durch den BGH; Erörterungsmangel und Lückenhaftigkeit; glaubhafte Aussagen eines Zeugen bei Zweifeln an seiner Glaubwürdigkeit; Widersprüchlichkeit).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Es ist bei einer entsprechend sorgfältigen und umfassenden Würdigung aller Erkenntnisse nicht schon im Ansatz ausgeschlossen, einem Zeugen teilweise zu glauben und teilweise nicht. Zwar müssen insbesondere dann, wenn ein Zeuge in einem zentralen Punkt erkennbar gelogen hat, gewichtige Gesichtspunkte dafür sprechen, ihm im Übrigen zu glauben; wie im Kern schon aus § 261 StPO folgt, gibt es aber keinen Rechts- und auch keinen Erfahrungssatz, dass einer Zeugenaussage zumal zu unterschiedlichen Lebenssachverhalten, nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden könnte.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 18. Februar 2005 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

Der Ausspruch darüber, dass die wegen vorsätzlicher Körperverletzung rechtskräftig festgesetzte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, entfällt.

Im Übrigen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen.

Gründe

I.

Dem Angeklagten lagen zahlreiche, teilweise schwerwiegende Delikte zur Last, die er sämtlich zum Nachteil der Nebenklägerin, seiner inzwischen von ihm geschiedenen Ehefrau, begangen haben soll.

1. Er war in dieser Sache bereits durch Urteil des Landgerichts Landshut vom 9. Mai 2003 wegen gefährlicher Körperverletzung (Strafe hierfür: ein Jahr) und wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Strafe hierfür: sechs Monate) zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden. Von weiteren Vorwürfen, die insbesondere, aber nicht ausschließlich Sexualdelikte betrafen, war er freigesprochen worden, da die Strafkammer die Aussagen der Nebenklägerin, soweit sie nicht durch anderweitige Beweismittel gestützt waren, nicht als ausreichende Grundlage für eine Verurteilung ansah. Die Revision der Nebenklägerin gegen dieses Urteil hatte in dem Umfang Erfolg gehabt, in dem das Urteil gemäß § 400 Abs. 1 StPO einer Überprüfung durch den Senat zugänglich war (Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 379/03, teilweise abgedruckt in NStZ 2004, 635 f.). Ergebnis war, dass die Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe bestehen blieb. Die vom Senat für sich genommen ausdrücklich als rechtsfehlerfrei bewertete Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung wurde dagegen insgesamt aufgehoben, da insoweit eine tateinheitliche Verurteilung wegen weiterer nebenklagefähiger Tatbestände in Betracht kam. Ebenfalls aufgehoben wurden die Freisprüche, denen der Vorwurf von Körperverletzungs- und (oder) Sexualdelikten zu Grunde lag.

2. Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer konnte sich erneut nicht von der Richtigkeit der vom Angeklagten in vollem Umfang bestrittenen Vorwürfe überzeugen. Weitergehend als in dem ersten Urteil des Landgerichts in dieser Sache betrifft dies auch den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung.

Sie hat deshalb lediglich (deklaratorisch) festgestellt, dass der Angeklagte wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt ist und hat ihn im Übrigen freigesprochen. Hinsichtlich der Strafe von sechs Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung hat sie geprüft, ob sie zur Bewährung ausgesetzt werden kann, und hat dies bejaht.

II.

Die gegen dieses Urteil gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben mit der Sachrüge (hinsichtlich der Nebenklägerin: erneut) Erfolg.

1. Die Strafkammer kommt (erneut) zu dem Ergebnis, die Angaben der Nebenklägerin seien keine hinlängliche Grundlage für eine Verurteilung. Eine Verurteilung sei nur möglich, soweit diese Angaben durch andere Beweismittel bestätigt und gestützt werden. Selbst auf dieser Grundlage hat der Freispruch vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung keinen Bestand.

a) Die Strafkammer hat festgestellt, dass der Zeuge Z. in der ersten Hauptverhandlung in dieser Sache ausgesagt hatte, die Nebenklägerin sei am Abend des in Rede stehenden Tages (12. September 1999) zu ihm gekommen und habe sehr "derhaut" - was so viel wie nicht unerheblich verletzt bedeuten soll - ausgesehen. Nunmehr, so die Strafkammer, "konnte oder wollte" er sich an das Datum des Besuchs und auch an konkrete Verletzungen nicht mehr erinnern. Daher stehe - anders als in der ersten Hauptverhandlung - kein Beweismittel zur Verfügung, das die - grundsätzlich unzulänglichen - Aussagen der Nebenklägerin bestätigen könne.

b) Die Strafkammer war allerdings - anders als insbesondere die Revision der Nebenklägerin dies zu vertreten scheint - nicht daran gebunden, dass der Senat die früher getroffenen Feststellungen (um einheitliche Feststellungen zu ermöglichen) nur deshalb aufgehoben hatte, weil noch zusätzliche Feststellungen möglich erschienen und im Übrigen den Schuldspruch als für sich genommen rechtsfehlerfrei bezeichnet hat. Mit der Aufhebung des Schuldspruchs einschließlich der zu Grunde liegenden Feststellungen hatte die Strafkammer in eigener Verantwortung neu über diesen Punkt zu befinden.

c) Die Strafkammer hat jedoch verkannt, dass auch die von ihr festgestellten früheren Aussagen des Zeugen ihrer Würdigung unterlagen. Es versteht sich weder von selbst, dass die früheren Aussagen schon für sich genommen unglaubhaft waren, noch versteht sich von selbst, dass das Aussageverhalten des Zeugen in der neuen Hauptverhandlung ohne weiteres entscheidend gegen die Glaubhaftigkeit seiner früheren Aussagen spricht. Dieses Aussageverhalten lässt vielmehr die unterschiedlichsten Auslegungen möglich erscheinen, z. B.

- die Erinnerung des Zeugen ist wegen Zeitablaufs verblasst;

- der Zeuge will zu seiner ursprünglich richtigen Aussage nicht mehr stehen; - der Zeuge will nicht einräumen, dass seine ursprüngliche Aussage falsch war.

Mit diesen und etwaigen sonstigen Möglichkeiten, die offensichtlich zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, hätte sich die Strafkammer auseinandersetzen und dementsprechend sämtliche angefallenen Erkenntnisse über Aussage und Aussageverhalten des Zeugen würdigen müssen. Dies ist nicht geschehen. Die Feststellung, es gebe kein Beweismittel zur Stützung der Angaben der Nebenklägerin, lässt vielmehr besorgen, die Strafkammer habe allein die Aussage des Zeugen in der (zweiten) Hauptverhandlung für ein berücksichtigungsfähiges Beweisergebnis gehalten. Schon dies führt zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen worden ist.

2. Im Übrigen kann das Urteil deshalb keinen Bestand haben, weil die für Verurteilung oder Freispruch zentralen Aussagen der Nebenklägerin im Ansatz nicht rechtsfehlerfrei gewürdigt worden sind.

a) Kann der Tatrichter nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen und spricht er den Angeklagten daher frei, so hat das Revisionsgericht dies allerdings regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn die tatrichterlichen Feststellungen "lebensfremd erscheinen" mögen. Es gibt nämlich im Strafprozess keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf der Gewissheit des Richters, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs beruht.

Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit im Ansatz unzutreffende ("überspannte") Anforderungen gestellt sind (st. Rspr., vgl. nur BGH StraFo 2003, 381; BGH NStZ-RR 2003, 371 <LS>; BGH NJW 2002, 2188, 2189 m. w. N.).

b) So verhält es sich hier.

Die Strafkammer führt aus, die Unglaubhaftigkeit der Aussagen der Nebenklägerin habe sich "bereits auf Grund der vorgenommenen Beweiswürdigung" ergeben, ohne dass es der Ausführungen der von der Strafkammer angehörten Sachverständigen bedurft hätte. Die Ausführungen dieser Sachverständigen, deren Zuziehung, so die Strafkammer, gleichwohl "angezeigt" gewesen sei und die die Nebenklägerin nach den Urteilsfeststellungen insgesamt Stunden exploriert hat (vgl. hierzu unter dem Gesichtspunkt des Schutzes (potentieller) Opfer generell BGH NJW 2005, 1519, 1521), sind dann aber doch in den Urteilsgründen auf insgesamt etwa 30 Seiten minutiös nachgezeichnet. Sie werden von der Strafkammer als überzeugende Bestätigung des Beweisergebnisses bewertet.

Gegen die Ausführungen der Sachverständigen, jedenfalls so wie sie von der Strafkammer übereinstimmend an mehreren Stellen des Urteils mitgeteilt sind, bestehen an einer zentralen Stelle Bedenken. Es heißt:

".. trotz der detaillierten und konstanten Schilderung einzelner der Anklage zu Grunde liegender Sachverhalte" - an anderer Stelle ist insoweit von "einzelne(n) Vergewaltigungen" die Rede - , "welche für den Wahrheitsgehalt der Aussage sprechen mag, ... ist es ... nicht möglich, ... einzelne ... Tatvorwürfe ... als ... wahr herauszugreifen, da die Glaubhaftigkeit ... immer bezogen auf das gesamte Aussageverhalten eines Zeugen gesehen werden muss".

Dies trifft so nicht zu. Es ist bei einer entsprechend sorgfältigen und umfassenden Würdigung aller Erkenntnisse nicht schon im Ansatz ausgeschlossen, einem Zeugen teilweise zu glauben und teilweise nicht. Zwar müssen insbesondere dann, wenn ein Zeuge in einem zentralen Punkt erkennbar gelogen hat, gewichtige Gesichtspunkte dafür sprechen, ihm im Übrigen zu glauben; wie im Kern schon aus § 261 StPO folgt, gibt es aber keinen Rechtsund auch keinen Erfahrungssatz, dass einer Zeugenaussage zumal zu unterschiedlichen Lebenssachverhalten, nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden könnte. Dies hatte der Senat auch bereits in seinem ersten Urteil in dieser Sache näher dargelegt. Hierauf nimmt er Bezug (vgl. auch Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 261 Rdn. 11a; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 29 jew. m. w. N.).

Die Strafkammer macht sich an anderer Stelle des Urteils dies - mit den Worten jener Entscheidung - im Prinzip auch zu Eigen, erklärt jedoch auch das Gegenteil für überzeugend und richtig. Der von ihr angelegte Maßstab ist also unklar. Nachdem die Strafkammer zwar bei der Schilderung einzelner gewichtiger Taten im Hinblick auf ihren Inhalt und die insoweit zutage getretene Aussagekonstanz erhebliche Anhaltspunkte dafür sieht, dass diese Schilderung richtig sein könnte, sie andererseits aber doch nicht zu einer Verurteilung kommt, kann der Senat nicht ausschließen, dass sich die aufgezeigten Unklarheiten auf die Entscheidung ausgewirkt haben. Dies führt zur Aufhebung auch der übrigen Freisprüche, ohne dass es noch auf weiteres ankäme.

3. Der Senat bemerkt jedoch: Die Nebenklägerin hat eine der von ihr dem Angeklagten vorgeworfenen Vergewaltigungen nach den Urteilsfeststellungen wie folgt geschildert: Sie habe für den Sohn die Milch warm gemacht, als sie der Angeklagte im Streit über das Haus mit einer schwarz-grauen Pistole bedroht habe. Der Sohn habe geweint, sie habe ihn beruhigt. Dann habe sie der Angeklagte auf das Bett geworfen und mit einem Schal und einer Strumpfhose ans Bett gefesselt. Die Pistole habe er auf das Fensterbrett gelegt. Er habe sich ausgezogen, sie geschlagen und gewürgt und mit ihr den Geschlechtsverkehr ausgeübt. Dabei habe er ihre Hose zerrissen. Nach dem Geschlechtsverkehr habe er ihr eine zuvor mitgebrachte Knoblauchwurst und ein gedrechseltes Holzstück gegen ihren Willen in die Scheide eingeführt.

Die Schilderung anderer Vorfälle ist damit vergleichbar. Gleichwohl geht die Strafkammer davon aus, gegen einen "erlebnisfundierten Bericht" spreche der deutliche "Detaillierungsbruch" zwischen den Angaben zum "Rahmenbereich" einerseits und dem "Kerngeschehen" andererseits. Ohne nähere Erörterung erscheint dies unter den gegebenen Umständen nicht tragfähig begründet.

Im Übrigen weist der Senat insbesondere auf die im schriftlichen Antrag des Generalbundesanwalts näher ausgeführten Gesichtspunkte hin.

4. Die Strafkammer hat die bereits rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten zur Bewährung ausgesetzt. Sie hat dabei verkannt, dass diese Strafe durch Anrechnung von Untersuchungshaft vollständig verbüßt ist. Eine bereits vollständig verbüßte Strafe kann nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden (BGHSt 31, 25). Der entsprechende Ausspruch hatte daher zu entfallen.

III.

In Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts hat der Senat die Sache nunmehr an ein anderes Landgericht zurückverwiesen.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 312

Externe Fundstellen: StV 2006, 181

Bearbeiter: Karsten Gaede