hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 458/02, Beschluss v. 11.03.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 458/02 - Beschluss vom 11. März 2003 (LG München I)

Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten zur Prüfung des § 21 StGB (histrionische Persönlichkeitsstörung); Strafzumessung (strafschärfende Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten in Ausnahmefällen).

§ 46 StGB; § 21 StGB; Art. 6 EMRK

Leitsatz des Bearbeiters

Verteidigungsverhalten darf, selbst wenn es objektiv sinnlos ist, von Ausnahmefällen abgesehen, grundsätzlich nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden. Dies schließt jedoch die im Ansatz den Angeklagten begünstigende Prüfung, ob Verteidigungsverhalten Anhaltspunkte für eine im Sinne des § 21 StGB bedeutsame Schuldminderung bietet, nicht aus.

Entscheidungstenor

1. Der Angeklagten wird auf Ihren Antrag gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 14. März 2002 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Damit sind die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 18. Juni 2002 und 13. August 2002 gegenstandslos.

2. Die Revision der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Hinsichtlich der Wiedereinsetzung nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Verteidigers im Schriftsatz vom 12. Februar 2003 Bezug.

II.

Die Angeklagte hat ihrem Ehemann anläßlich eines von sinnlosen Verdächtigungen gekennzeichneten Streits, in dessen Verlauf sie ihn auch nicht unerheblich beleidigt hatte ("Ich ficke Deine Mutter") zwei Messerstiche in den Rücken versetzt. Ein Stich führte nicht zu lebensbedrohlichen Verletzungen, der andere Stich war tödlich. Die Schwurgerichtskammer, die sich von Heimtücke (§ 211 StGB) nicht überzeugen konnte, hat die Angeklagte wegen Totschlags zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Ihre auf die Sachrüge gestützte, nur zum Strafausspruch näher ausgeführte Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

Der näheren Ausführung bedarf nur folgendes:

1. Nach sachverständiger Beratung hat die Schwurgerichtskammer mit eingehender Begründung festgestellt, daß die Angeklagte "eine Reihe von Kriterien einer histrionischen Persönlichkeit" aufweist, ihre Schuldfähigkeit bei der Tat aber nicht im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war. In diese Prüfung hat die Schwurgerichtskammer auch das häufig wechselnde Verteidigungsverhalten der Angeklagten einbezogen. So hatte sie etwa angegeben, im Rahmen des Streits das Tatmesser aus der Küche geholt zu haben, um es zu verstecken. Sie habe ihrem Ehemann nur den weniger gefährlichen Stich versetzt, mit dem tödlichen Stich habe sie nichts zu tun, obwohl offensichtlich - anderes hat auch die Angeklagte nicht behauptet - außer ihr und ihrem Ehemann niemand in der Wohnung war. Ersichtlich auf all dies gestützt führt die Schwurgerichtskammer aus, daß die Angeklagte sich "Aspekten, die ihren Interessen zuwider laufen", in einer Weise verschließen würde, die mit ihren "intellektuellen Fähigkeiten" - die Angeklagte war in ihrer Heimat als Wirtschaftsjuristin tätig gewesen - nicht vereinbar seien. Vielmehr "variiere sie in impressionistischer Weise ihre Schilderungen" und "setze auf manipulative und provokante Verhaltensweisen ohne sich mit Fakten auseinanderzusetzen".

Allerdings darf Verteidigungsverhalten, selbst wenn es objektiv sinnlos ist, von hier offenbar nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen, grundsätzlich nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden. Dies schließt jedoch die im Ansatz den Angeklagten begünstigende Prüfung, ob Verteidigungsverhalten Anhaltspunkte für eine im Sinne des § 21 StGB bedeutsame Schuldminderung bietet, nicht aus.

2. Die Revision, die sich nicht gegen die Ablehnung erheblich verminderter Schuld wendet, sieht in diesem Zusammenhang folgenden Rechtsfehler: Die Strafkammer hat zwar zu Gunsten der Angeklagten ihre histrionischen Persönlichkeitszüge ebenso berücksichtigt wie eine mögliche Mitverursachung der Tat durch den Getöteten. Diesen Aspekt hat sie jedoch insofern wieder relativiert, als die Angeklagte einen - ersichtlich gemessen an den sonstigen ständigen Auseinandersetzungen der Beteiligten - belanglosen Streit zum Anlaß nahm, sich mit Messerstichen "durchzusetzen". Die Revision meint, es sei Ausfluß der Persönlichkeit der Angeklagten, ihr nachteilige Aspekte nicht zur Kenntnis zu nehmen (vgl. oben II. 1.). Die letztlich strafschärfende Berücksichtigung der Belanglosigkeit des Streits bedeute daher im Ergebnis, daß ihr eine ihr nicht vorwerfbare Persönlichkeitsstörung zum Nachteil gereiche. Der Senat sieht im Ergebnis keinen die Angeklagte beschwerenden Rechtsfehler. Ob die festgestellten "manipulativen und provokanten" Verhaltensweisen Ausdruck der histrionischen Persönlichkeit oder ob sie hiervon unabhängig sind, wird allerdings nicht deutlich. Der Senat braucht dem jedoch nicht näher nachzugehen.

Die Schwurgerichtskammer führt nämlich mit eingehender Begründung aus, daß die Angeklagte bei der Tat "nicht in einer bedrängten Lage reagierte und sich (subjektiv) verteidigen wollte". Wenn die Angeklagte aber nicht glaubte, sich verteidigen zu müssen, kann ihre Neigung, ihr nachteilige Aspekte nicht zur Kenntnis zu nehmen, ihre Einschätzung des Streites auch nicht beeinflußt haben. Die genannte Relativierung des von der Strafkammer (gleichwohl) strafmildernd berücksichtigten Verhaltens des Getöteten kann die Angeklagte daher nicht beschweren.

Bearbeiter: Karsten Gaede