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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 266/02, Urteil v. 11.03.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 266/02 - Urteil vom 11. März 2003 (LG München I)

Gefährliche Körperverletzung (Mittäterschaft, Exzess); Beweiswürdigung (Grenzen der Revisibilität; Freispruch); Garantenstellung (Ingerenz; Möglichkeit der Erfolgsverhinderung: Kenntnis von einer Tathandlung; Tatmacht).

§ 224 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 13 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 13. Dezember 2001 werden verworfen.

Die Kosten der Rechtsmittel und die den Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten D. wegen gefährlicher Körperverletzung zur Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn im übrigen freigesprochen.

Den Angeklagten G. hat es wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zur Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe hat es ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt.

Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen zunächst gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts: Sie erstrebt in einem der beiden verfahrensgegenständlichen Fälle eine Verurteilung des Angeklagten G. auch wegen versuchten Totschlags und beanstandet den Teilfreispruch des Angeklagten D. vom Vorwurf der Beteiligung an dieser Tat. Überdies rügt sie die Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Angeklagten D. verhängten Jugendstrafe zur Bewährung. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

Gegenstand des Verfahrens sind Gewalttätigkeiten, die auf dem Münchener U-Bahnhof Quiddestraße von einer Gruppe junger Leute, zu der auch die beiden Angeklagten gehörten, gegen den Verkehrsmeister N. (erste Tat) und die diesem zu Hilfe eilende Zeugin S. (zweite Tat) begangen wurden.

1. Der Verkehrsmeister N. forderte die Gruppe um die Angeklagten auf, den Sicherheitsstreifen am Gleis freizumachen. Ohne Vorwarnung schlug darauf einer der jungen Leute auf ihn ein, so daß er zu Boden ging.

Darauf traten und schlugen die Angeklagten D. und G. sowie weitere sieben Mitglieder der Gruppe auf Kopf und Körper des am Boden liegenden Zeugen N. ein. Durch die schmerzhaften Mißhandlungen trug der Zeuge Abschürfungen an der Stirn, am Hals und im linken Rückenbereich davon.

2. Die Zeugin S., eine Beamtin des Bundesgrenzschutzes, eilte dem Verkehrsmeister N. zu Hilfe. Sie packte die gesondert Verfolgte B. am rechten Oberarm und fragte sie, was das denn solle. Ohne zu antworten griff diese unvermittelt der Zeugin S. in die Haare und riß sie ruckartig nach hinten; der Kopf der Zeugin stieß dabei an den Pfeiler einer Leuchtreklame und kam auf dem Steinboden auf. Als die Zeugin S. versuchte, sich wieder aufzurichten, versetzte der Angeklagte G., der leichte Wanderstiefel trug, ihr einen Tritt gegen die rechte Kopfseite, den er "etwas abbremste, um ihm an Wucht zu nehmen". Anschließend zog er sich sofort zurück, während B. der Zeugin S. einen Fußtritt in die linke Hals-Nackenregion versetzte, worauf diese bewegungslos auf dem Rücken liegen blieb. Der Angeklagte G. bemerkte, daß sich die Zeugin S. nicht mehr rührte, B. jedoch gleichwohl weiter auf sie einschlug.

Er ging darauf zu ihr zurück und sagte: "Paßt schon, hör' auf, die ist doch schon halb tot." Die B. reagierte darauf nicht, sondern versetzte nun abwechselnd mit einem anderen, nicht ermittelten Täter aus der Gruppe Jugendlicher der Zeugin S. von links und rechts Fußtritte gegen deren Kopf "in Art eines Ping-Pong-Spiels". Nachdem sich dieser dritte Täter entfernt hatte, setzte sie sich mit dem Gesäß auf den Bauch der nach wie vor auf dem Rücken liegenden Zeugin S., packte deren Kopf mit beiden Händen und schlug ihn mit voller Wucht drei bis viermal auf den Steinboden des Bahnsteiges. Mit den Schlägen hörte sie erst auf, als ihr Bruder sie von der Zeugin S. wegzog.

Als sie bereits die Rolltreppe zum U-Bahn-Zwischengeschoß erreicht hatte, kehrte sie nochmals um, lief zur Zeugin S. zurück und versetzte ihr einen weiteren wuchtigen Fußtritt von links gegen den Kopf, der im Augenbereich traf. Erst dann ließ sie endgültig von der Zeugin S. ab. Diese war bewußtlos und befand sich zunächst aufgrund der Schläge und Tritte gegen ihren Kopf und nach mehrmaligem Erbrechen in konkreter Lebensgefahr. Sie erlitt eine Gehirnerschütterung, massive Hämatome am Kopf, Rißwunden am linken Ohr, eine Halswirbel-Schulterdistorsion, ein Brillenhämatom sowie eine Orbitabodenfraktur links. Weiter wurde bei ihr eine verminderte Konvergenzfähigkeit des rechten Auges diagnostiziert.

Die Jugendkammer hat nicht festzustellen vermocht, welche dieser Verletzungen durch den Tritt des Angeklagten G. verursacht waren. Sie geht davon aus, daß der Angeklagte G. mit seinem Eingreifen der B. helfen wollte, weil er annahm, diese sei in Bedrängnis. Er habe indessen den Eintritt des Todes der Zeugin S. nicht billigend in Kauf genommen und sei sich nicht bewußt gewesen, daß ein Tritt, wie er ihn ausführte, auch tödliche Folgen hätte haben können. Von einer Beteiligung des Angeklagten D. an der Mißhandlung der Zeugin S. hat sich die Jugendkammer nicht überzeugen können. Sie hat dementsprechend beide Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil N. und den Angeklagten G. überdies wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil S. schuldig gesprochen, den Angeklagten D. hingegen vom Vorwurf der Beteiligung an der Tat zum Nachteil S. freigesprochen.

II.

1. Die Beschwerdeführerin beanstandet, daß das Landgericht sich im Fall der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil S. (zweite Tat) nicht vom bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten G. überzeugt hat. Die Rüge greift nicht durch.

Der Angeklagte G. hat sich dahin eingelassen, er habe der B. spontan beistehen wollen, Anlauf genommen und gezielt gegen den Kopf der Zeugin S. getreten, um diese "außer Gefecht zu setzen". Im letzten Augenblick sei ihm der Gedanke gekommen, er könne diese ernsthaft verletzen, wenn er voll zutrete. Daher habe er seinen Tritt noch etwas abbremsen können. Die Zeugin S. sei erst im weiteren Verlauf bewußtlos geworden. Er habe die B. aufgefordert, von weiteren Tätlichkeiten abzulassen und sei weggegangen. Die nachfolgenden Mißhandlungen der Zeugin S. habe er nicht mitbekommen, weil es auf dem Bahnsteig zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen U-Bahn-Fahrgästen und seinen Freunden gekommen sei. Tödliche Folgen seines Trittes habe er nie in Erwägung gezogen, geschweige denn billigend in Kauf genommen.

Die Jugendkammer folgt im wesentlichen dieser Einlassung. Sie sieht sie bestätigt durch die Angaben der B. im Ermittlungsverfahren. Diese hatte angegeben, daß G. zugetreten habe, als sich die Zeugin S. gerade wieder habe aufrichten wollen. Erst danach sei sie, B., "völlig ausgerastet" und habe wie wild auf die Zeugin eingeschlagen. Die Kammer geht demnach davon aus, daß der Tritt des Angeklagten G. zu einem Zeitpunkt erfolgte, in dem die Zeugin S. noch nicht "schwer angeschlagen" war. Sie hebt zudem hervor, daß der Angeklagte G. kein schweres Schuhwerk trug, "nur einmal zutrat" und die B. aufforderte aufzuhören, da die Zeugin "ja schon halb tot" sei. Da auch der in Augenschein genommene Videofilm der U-Bahn-Leitzentrale bestätigt hat, daß sich der Angeklagte G. zu dem von ihm angegebenen Zeitpunkt von diesem Geschehen entfernte und sich einer anderen Auseinandersetzung mit dem U-Bahn-Personal zuwandte, hat ihm die Strafkammer das nachfolgende Verhalten der gesondert verfolgten B. und eines weiteren Täters nicht zugerechnet und darin einen Exzeß gesehen.

Diese Würdigung ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Angriffe der Revision gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts erschöpfen sich in dem revisionsrechtlich unzulässigen Versuch, die Wertung des hierzu berufenen Tatgerichts durch eine eigene zu ersetzen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2 und Überzeugungsbildung 21). Die Würdigung der erhobenen Beweise ist Sache des Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des Beweisergebnisses eine abweichende Überzeugungsbildung möglich erschienen wäre. Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt, in sich widersprüchlich oder lückenhaft ist oder sich so weit von einer festen Tatsachengrundlage entfernt, daß die gezogenen Schlußfolgerungen sich letztlich als reine Vermutungen erweisen.

Einen derartigen Rechtsfehler vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen; er ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Überzeugungsbildung der Jugendkammer beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Die von ihr gezogenen Folgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

Schließlich erweist es sich nicht als rechtlicher Mangel, daß die Jugendkammer nicht ausdrücklich erörtert hat, ob die lebensgefährdende Behandlung der Zeugin S. durch die B. dem Angeklagten unter dem Gesichtspunkt einer Garantenhaftung aufgrund eigenen gefährdenden Vorverhaltens zuzurechnen ist (sog. Ingerenz). Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, daß solches nicht in Betracht kam. Der Angeklagte hatte sich vom Tatgeschehen ab- und einer anderen Auseinandersetzung zugewandt. Als Garant hätte er indessen den weiteren lebensgefährlichen Angriff der B. erkennen müssen, um die Möglichkeit zu rechtzeitigem, hinderndem Eingreifen zu haben (vgl. nur BGHSt 38, 356, 358; BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 7).

Ergänzend nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in dessen Antragsschrift vom 6. Dezember 2002, die dieser auch in der Hauptverhandlung vorgetragen hat.

2. Die Beschwerdeführerin rügt überdies, daß die Jugendkammer den Angeklagten D. im Falle zum Nachteil S. (zweite Tat) freigesprochen hat. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist indessen auch insoweit aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht überwinden kann, so ist auch dies durch das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Allerdings ist der Tatrichter gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Das ist vorliegend geschehen. Entgegen der Auffassung der Revision erweist es sich nicht als Widerspruch, daß die Jugendkammer sich zur Frage der Identifizierung des Angeklagten D. als "drittem Täter" mangels anderer unterstützender Beweismittel auf frühere polizeiliche Angaben der gesondert verfolgten B. nicht meinte verlassen zu können.

Dafür führt die Jugendkammer Gründe an. Unter anderem habe B. den Angeklagten D. erst als Mittäter genannt, als sie mit dem Verdacht der Beteiligung ihres Bruders konfrontiert worden sei. Schließlich ist es nicht etwa denkgesetzlich verfehlt, daß die Kammer auch brieflichen Andeutungen der B. Zweifel dahin entnimmt, diese könne mit der Benennung des Angeklagten D. bezweckt haben, ihren Bruder zu entlasten. Angesichts weiterer Ungereimtheiten und im Blick auf die Entstehung der polizeilichen Angaben der B. (in der Hauptverhandlung hat diese die Aussage verweigert) ist von Rechts wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Landgericht Zweifel an der Schuld des Angeklagten D. insoweit nicht zu überwinden vermochte.

3. Schließlich begegnet die Aussetzung der gegen den Angeklagten D. verhängten Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung keinen rechtlichen Bedenken (§ 21 Abs. 1, 2 JGG). Zum Zeitpunkt des Urteils hatte sich dieser erstmals inhaftierte Angeklagte bereits seit einem Jahr in Untersuchungshaft befunden. Die Jugendkammer hat seine Entwicklung als "günstig" beurteilt. Sie hat auch sonst die erforderlichen Wertungen vorgenommen.

Rechtliche Mängel sind nicht erkennbar. Eine ins einzelne gehende Richtigkeitskontrolle der Rechtsfolgenerwägungen ist ausgeschlossen.

4. Der Senat hält zudem die angesichts des aggressiven Vorgehens der Angeklagten und der Brutalität des Tatgeschehens eher milden Strafen für nicht so niedrig, als daß sie nicht mehr geeignet wären, den Zweck einer Jugendstrafe im konkreten Fall zu erfüllen.

5. Die sachlichrechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat auch im übrigen keinen die Angeklagten zu Unrecht begünstigenden oder sie beschwerenden (vgl. § 301 StPO) Rechtsfehler ergeben.

Bearbeiter: Karsten Gaede