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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 78/00, Beschluss v. 11.04.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 78/00 - Beschluß v. 11. April 2000 (LG Hechingen)

Vergewaltigung (in der Ehe); Regelwirkung

§ 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Einzelfall der (verkannten) Widerlegung der Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung in der Ehe und Krankheit des Täters).

2. Für die Entscheidung, ob die Regelwirkung des Regelbeispiels für den besonders schweren Fall ausnahmsweise wegen gewichtiger Milderungsgründe entfällt, ist auf das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit abzustellen und zu prüfen, ob sich angesichts deutlich überwiegender Milderungsgründe die Bewertung der Tat als besonders schwerer Fall als unangemessen erweisen würde (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 299).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 15. November 1999 im Strafausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Strafausspruchs, ist im übrigen aber unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der zur Tatzeit 64jährige asthmakranke Angeklagte, der unter einer beginnenden organischen Persönlichkeitsstörung leidet, ist mit dem Tatopfer seit 1987 in zweiter Ehe verheiratet. Zwischen den Eheleuten war es immer wieder zu Streitigkeiten und massiven Auseinandersetzungen gekommen. Anlaß hierfür war der sehr häufige Wunsch des Angeklagten gewesen, mit seiner Ehefrau geschlechtlich zu verkehren. Dafür hatte diese ihm nach seiner Einstellung jederzeit zur Verfügung zu stehen. Infolgedessen hatte sich seine Frau bereits wiederholt zu einer Nachbarin geflüchtet und vorübergehend auch in einem Frauenhaus Unterkunft gefunden.

Die Situation verschärfte sich schließlich aufgrund einer Blasenerkrankung der Ehefrau, die die Ausübung des ehelichen Verkehrs erschwerte und für sie schmerzhaft machte. Sie litt zudem zum Tatzeitpunkt an einer Scheidenentzündung, nachdem ihr kurz zuvor ein Blasenkatheter entfernt worden war. Am Tattag bedrängte der Angeklagte seine Frau, die sich schließlich mit seinem Vorschlag einverstanden erklärte, sich nackt auf das Bett zu legen und sich vom Angeklagten streicheln zu lassen. Dieser wollte sich dabei selbst befriedigen. Die Ausübung des Geschlechtsverkehrs wollte seine Frau - wie der Angeklagte wußte - auf keinen Fall. Während des weiteren Verlaufs faßte der sexuell erregte Angeklagte indessen den Entschluß, entgegen der getroffenen Absprache nun doch den Verkehr auszuüben. Er ignorierte die Aufforderung seiner Frau, dies zu unterlassen. Die Geschädigte begann sich zur Wehr zu setzen, indem sie versuchte den Angeklagten wegzudrücken und ihm mit der rechten Hand gegen die Brust schlug. Es gelang ihr jedoch nicht, den auf ihr liegenden, körperlich überlegenen Angeklagten abzuwehren. Um ihren Widerstand zu überwinden, hielt dieser sie an den Oberarmen fest und führte etwa 20 bis 30 Minuten den Geschlechtsverkehr durch. Dies war für das Opfer mit erheblichen Schmerzen verbunden.

2. Auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat das Landgericht den Angeklagten zu Recht der Vergewaltigung schuldig gesprochen. Die Begründung, mit der das Landgericht von der Regelwirkung der Vergewaltigung für die Annahme eines besonders schweren Falles der sexuellen Nötigung ausgeht und den Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB zugrundelegt, hält rechtlicher Nachprüfung indessen nicht stand. Die angestellten Erwägungen werden den Besonderheiten des Falles, die sich aus der Beziehung zwischen dem persönlichkeitsgestörten Angeklagten und der Geschädigten sowie aus dem Tatverlauf ergeben, nicht in jeder Hinsicht gerecht; insoweit erweist sich die gebotene Gesamtwürdigung als lückenhaft.

a) Trifft ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall nach § 177 Abs. 2 StGB mit gewichtigen Milderungsgründen zusammen, so kann die Regelwirkung entfallen. Der Bestrafung kann dann ausnahmsweise der Normalstrafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB zugrundegelegt werden. In extremen Ausnahmefällen kann sogar eine weitergehende Milderung des Normalstrafrahmens (§ 177 Abs. 1 StGB) und die Bemessung der Strafe aus dem Rahmen für den minder schweren Fall (§ 177 Abs. 5 StGB) in Betracht zu ziehen sein (vgl. BGH NStZ 1999, 615; Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. § 177 Rdn. 35). Für die Entscheidung, ob die Regelwirkung des Regelbeispiels für den besonders schweren Fall ausnahmsweise wegen gewichtiger Milderungsgründe entfällt, ist - ähnlich wie bei der Prüfung der Voraussetzungen eines minder schweren Falles - auf das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit abzustellen und zu prüfen, ob sich angesichts deutlich überwiegender Milderungsgründe die Bewertung der Tat als besonders schwerer Fall als unangemessen erweisen würde (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 299).

b) Das Landgericht hat vorliegend zu Recht erwogen, ob eine Ausnahme von der Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB in Betracht kommt. Die konkrete Würdigung hierzu begegnet jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Das Landgericht hat gemeint, die Regelwirkung für die Annahme eines besonders schweren Falles entfalle hier nicht. Das Schwergewicht der Milderungsgründe liege in der organischen Persönlichkeitsstörung des Angeklagten und nicht in einer "Abschwächung von Tatbestandselementen", die den besonders schweren Fall prägten. Daher hat es den Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB zugrundegelegt und diesen wegen nicht ausschließbarer erheblicher Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert. Bei der konkreten Strafbemessung hat es weiter mildernd in Rechnung gestellt, daß der Angeklagte nicht vorbestraft ist, bislang in geordneten Verhältnissen gelebt hat, daß sein Gesundheitszustand angegriffen und er wegen seines vorgerückten Alters besonders strafempfindlich ist; überdies hat es berücksichtigt, daß die Geschädigte ihm verziehen hat und wieder bereit ist, mit ihm zusammenzuleben. Straferschwerend hat es auf die Dauer der Tatausführung, die "rohe Gesinnung" des Angeklagten und die für ihn erkennbaren Schmerzen seiner Ehefrau sowie das mißbrauchte Vertrauen abgehoben, nachdem er ihr zuvor versprochen hatte, er werde sie "nur streicheln".

Die Prüfung des Landgerichts, ob die von der Verwirklichung eines Regelbeispiels ausgehende Regelwirkung für die Annahme eines besonders schweren Falles der sexuellen Nötigung hier wegen Vorliegens gewichtiger Milderungsgründe entfällt, vernachlässigt wesentliche Besonderheiten des Sachverhalts. Schon das Abheben auf die von der Strafkammer vermißte "Abschwächung von Tatbestandselementen" läßt besorgen, daß die Kammer die im Zuge der konkreten Strafzumessung angesprochenen täterbezogenen Milderungsgründe in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang nicht hinreichend bedacht hat. Das gilt namentlich im Blick auf Alter und Gesundheitszustand des bis dahin nicht vorbestraften Angeklagten. Das Landgericht hätte sich überdies damit auseinandersetzen müssen, welche Bedeutung für die Beurteilung der Schwere des Falles und den anzuwendenden Strafrahmen die langjährige Ehe zwischen Täter und Opfer sowie der Umstand hatte, daß das Opfer dem Angeklagten verziehen hat und wieder bereit ist, mit ihm zusammenzuleben. Darüber hinaus wäre ausdrücklich zu erwägen gewesen, daß der sexuelle Kontakt zwischen den Eheleuten zunächst einverständlich stattfand. Auch das Maß der Gewaltanwendung durch den Angeklagten, mit dem er letztlich absprachewidrig den Geschlechtsverkehr erzwang, wäre zu gewichten gewesen. Bei allem durfte die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten nicht nur bei der Frage einer Strafrahmenmilderung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB berücksichtigt werden. Nach dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen ist das emotionale Verhalten des Angeklagten raschen Wechseln unterworfen. Zu seinem Krankheitsbild gehört, daß Bedürfnisse und Impulse meist ohne Berücksichtigung von Konsequenzen geäußert werden. In diesem Zusammenhang hätte auch bei der Prüfung einer Ausnahme von der Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB bedacht werden müssen, daß es sich um eine im Zustand - insoweit einvernehmlich bewirkter - sexueller Erregung begangene Spontantat handelte, bei der sich ersichtlich die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten ausgewirkt hat.

In der Gesamtschau drängte sich angesichts der Fülle gewichtiger Milderungsgründe auf, das Vorliegen eines besonders schweren Falles zu verneinen und den Normalstrafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB zugrundezulegen. Es liegt nicht fern, daß auch dieser aus den vom Landgericht angeführten Gründen nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB zu mildern wäre. Das hätte zur Folge, daß von einer dem Angeklagten günstigeren Untergrenze des Strafrahmens auszugehen wäre. Nicht völlig ausgeschlossen erscheint zudem, daß einer der Ausnahmefälle angenommen werden könnte, in denen trotz Verwirklichung eines Regelbeispiels im Sinne des § 177 Abs. 2 StGB bei entfallender Regelwirkung der Strafrahmen für den minder schweren Fall angewendet werden kann (§ 177 - der neue Tatrichter wird dies jedenfalls prüfen müssen - Abs. 5 StGB);

c) Der dargestellte Mangel des Urteils führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Die zugrundeliegenden Feststellungen können bestehen bleiben, da sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind. Ergänzende Feststellungen sind zulässig.

Externe Fundstellen: StV 2000, 557

Bearbeiter: Karsten Gaede