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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 406/00, Urteil v. 17.10.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 406/00 - Urteil v. 17. Oktober 2000 (LG Ingolstadt)

Arglosigkeit; Wehrlosigkeit; Heimtücke; Mord; Beweiswürdigung; Überlegung

§ 211 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Alternative der heimtückischen Begehungsweise scheidet aus, wenn der Angeklagte nicht die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat erfaßt und bewußt ausgenutzt hat (vgl. BGHSt 6, 121; BGH NStZ 1997, 491). Hierzu muß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfaßt haben, daß er sich dessen bewußt ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 1, 9 und 26).

2. Heimtücke verlangt weder eine längere Überlegung noch das Vorhandensein eines länger erwogenen Tatplanes (vgl. BGH NStZ 1984, 21; BGH NStZ 1987, 555 m.w.Nachw.).

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 20. April 2000 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft strebt mit ihrer Revision eine Verurteilung wegen Mordes an.

Das allein auf - die Sachbeschwerde gestützte - vom Generalbundesanwalt nicht vertretene - Rechtsmittel ist unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte E. M. die Ehefrau des Angeklagten und das spätere Tatopfer, dem Angeklagten in der Nacht zum 4. Juli 1999 nach einem heftigen Streit erklärt, daß sie sich von ihm scheiden lassen werde, und verbrachte die restliche Nacht auf der Gästecouch im Flur der Ehewohnung. Am Morgen begab sich der Angeklagte zu der noch mit dem Rücken auf der Couch liegenden E. M., kniete sich vor ihr hin und versuchte sie umzustimmen. Als sie ihren Entschluß für unabänderlich erklärte, fühlte sich der Angeklagte "tief gekränkt" und geriet darüber so "in Wut", daß er sich entschloß, seine Ehefrau zu töten. Zur Verwirklichung dieser Absicht begann er ohne Vorankündigung, E. M. mit beiden Händen am Hals zu würgen. Diese war durch seinen Angriff völlig überrascht und deshalb zu einer ernsthaften Gegenwehr oder zu einer Flucht nicht in der Lage. Sie konnte zwar noch äußern, daß sie doch bei ihm bleibe, der Angeklagte schenkte diesen Worten aber keinen Glauben mehr und fuhr statt dessen unter vermehrter Kraftanstrengung mit dem Würgen fort, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen. Als sich nach einiger Zeit der Brustkorb seines Opfers immer noch hob und senkte, hörte der Angeklagte mit dem Würgen auf und drückte nunmehr ein großes Couchkissen in Erstickungsabsicht solange auf das Gesicht seiner Ehefrau, bis er vom Eintritt des Todes überzeugt war. E. M. verstarb aufgrund der strangulierenden Gewalteinwirkung gegen ihren Hals.

Das Landgericht hat den Angeklagten nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt. Das Mordmerkmal der Heimtücke hat es verneint, weil es keine sichere Überzeugung davon habe gewinnen können, daß der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers bewußt ausnutzte. Es habe sich um eine affektbetonte Spontantat gehandelt, da der Angeklagte seine Ehefrau in plötzlich aufsteigender Wut und Verbitterung über deren Entschluß, ihn zu verlassen, getötet habe. Es sei deshalb nicht auszuschließen, daß ihm bei Beginn des Würgevorgangs nicht bewußt war, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.

2. Die Bewertung des Landgerichts läßt keinen Rechtsfehler erkennen.

Die Schwurgerichtskammer ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, daß eine Verurteilung wegen Mordes in der Alternative der heimtückischen Begehungsweise ausscheidet, wenn der Angeklagte nicht die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat erfaßt und bewußt ausgenutzt hat (vgl. BGHSt 6, 121; BGH NStZ 1984, 21; BGH NStZ 1997, 491). Hierzu muß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfaßt haben, daß er sich dessen bewußt ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 1, 9 und 26).

Soweit das Landgericht sich nicht vom Vorliegen dieser subjektiven Erfordernisse des Mordmerkmals der Heimtücke hat überzeugen können, ist dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen - mithin auch von den subjektiven Gegebenheiten - zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen hätte. Kann der Tatrichter vorhandene Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsgericht eine solche Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewißheit gestellt hat (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 1983, 277; BGH NStZ 1984, 180). Die Revision hat nicht dargetan und es ist auch sonst nicht ersichtlich, daß ein solcher Fehler hier gegeben ist.

a) Mit der Beanstandung, das Landgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, daß der Angeklagte von kleiner, schmächtiger Statur, seine Ehefrau jedoch relativ kräftig gewesen sei, kann die Beschwerdeführerin schon deshalb keinen Erfolg haben, weil die Urteilsfeststellungen hierzu nichts enthalten. Die in diesem Zusammenhang von der Beschwerdeführerin angeführten Lichtbilder sind insoweit sämtlich urteilsfremd und können deshalb - entsprechende Verfahrensrügen sind nicht erhoben - nicht in das Revisionsverfahren eingeführt werden.

b) Auch im übrigen greift der - hier allein in Betracht kommende - Angriffspunkt etwaiger Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung nicht durch. Das Landgericht hat sich mit allen maßgeblichen - auch für ein Ausnutzungsbewußtsein des Angeklagten sprechenden -Gesichtspunkten auseinandergesetzt. Soweit die Revision geltend macht, der Angeklagte habe blitzschnell gehandelt, um das Opfer nicht mißtrauisch zu machen, und er habe das Würgen als "effektivste Tötungshandlung" gewählt, damit Nachbarn nicht aufmerksam würden, entfernt sie sich damit wiederum - worauf die Verteidigung wie auch der Generalbundesanwalt zutreffend hinweisen - von den zugrundeliegenden Feststellungen des Landgerichts. Danach hat der Angeklagte spontan in plötzlich aufsteigender Wut und Verbitterung gehandelt und fester gewürgt, weil er dem Einlenken seiner Ehefrau nicht getraut hat. Auf dieser allein maßgebenden Tatsachengrundlage liegt die Möglichkeit, daß der Angeklagte die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat nicht erkannt hat, sogar so nahe, daß es besonderer - hier nicht ersichtlicher - Umstände bedurft hätte, aus denen sich ergibt, daß der Angeklagte trotz seiner Erregung die für die Heimtücke entscheidenden Gesichtspunkte in sein Bewußtsein aufgenommen hat, wenn auch Heimtücke weder eine längere Überlegung noch das Vorhandensein eines länger erwogenen Tatplanes verlangt (vgl. BGH NStZ 1984, 21; BGH NStZ 1987, 555 m.w.Nachw.).

Was die Beschwerdeführerin im übrigen einwendet, erschöpft sich in dem unzulässigen Versuch, die tatrichterliche Würdigung durch eine eigene zu ersetzen.

II.

Die gemäß § 301 StPO gebotene Prüfung des Urteils auf Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten hat ebenfalls einen Mangel nicht aufgedeckt. Insbesondere begegnet der Weg, auf dem das Landgericht zur Bejahung der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten gelangt ist, keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Bei der Bestimmung des geringen Gewichts der Persönlichkeitsstörung bezüglich des gesetzlichen Merkmals der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" hat es nicht isoliert auf die Charakterstruktur des Angeklagten abgestellt, sondern - wie sich deutlich aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt - auch die Tat in ihren konkreten Zusammenhängen im Blick gehabt.

Bearbeiter: Karsten Gaede