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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 303/00, Urteil v. 07.11.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 303/00 - Urteil v. 7. November 2000 (LG München II)

Betrug; Beweisantrag; Fehlerhafte Beweiswürdigung (Wahrunterstellung); Aufklärungspflicht

§ 263 StGB; § 244 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Tatrichter muß sich in den Urteilsgründen grundsätzlich nicht ausdrücklich mit als wahr unterstellten Tatsachen auseinandersetzen. Feststellungen und Beweiswürdigung dürfen der Wahrunterstellung lediglich nicht widersprechen; sie müssen sich mit ihr in Einklang bringen lassen. Die in der Wahrunterstellung liegende Zusage kann es aber im Einzelfall ausnahmsweise und weitergehend gebieten, die als wahr unterstellte Tatsache im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich mit zu erwägen. Das ist dann der Fall, wenn sich dies angesichts der im übrigen gegebenen Beweislage aufdrängt und die Beweiswürdigung sich sonst als lückenhaft erwiese (so schon BGHSt 28, 310, 311; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 12, 13).

2. Eine Verurteilung kann nur auf eine hinreichend tragfähige Tatsachengrundlage gestützt werden (vgl. BGH NStZ 1981, 33; 1986, 373).

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 10. März 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Betruges unter Einbeziehung von Einzelfreiheitsstrafen aus einem anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und eine in der anderen Sache zugleich verhängte Gesamtgeldstrafe daneben bestehen lassen. Die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge und mit der Sachbeschwerde Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts machte die Angeklagte unter der falschen Behauptung einer voraufgegangenen Darlehenshingabe einen entsprechenden Rückzahlungsanspruch gegen Dr. L. geltend, der ein langjähriger Bekannter der Angeklagten und ihres Ehemannes war, mittlerweile aber verstorben ist. Dazu kam es wie folgt: Im Jahr 1986 hatten die Angeklagte und ihr Ehemann, der eine urologische Praxis betrieb, erhebliche finanzielle Probleme; sie benötigten dringend weitere Bankkredite. Um den Eheleuten zu helfen, übernahm Dr. L., der in guten Vermögensverhältnissen lebte, selbstschuldnerische Bürgschaften in Höhe von 700.000 DM gegenüber deren Bank und ließ zu Gunsten der Bank eine Grundschuld in gleicher Höhe auf seinem Grundstück eintragen.

Im Jahr 1994 forderte die Angeklagte Dr. L. durch Schreiben ihres Rechtsanwalts zur Rückzahlung eines - wie sie behauptete - von ihr am 20. Mai 1986 an Dr. L. gewährten Bardarlehens in Höhe von 400.000 DM nebst zwischenzeitlich angefallenen Zinsen auf. Sie ließ die Kopie einer Quittung über eine entsprechende Darlehensauszahlung vorlegen, welche sich nach der Beweiswürdigung des Landgerichts als Totalfälschung erweist. Im selben Jahr nahm die Bank Dr. L. als Bürge in Anspruch. Dieser mußte an die Bank der Angeklagten 504.582,61 DM für deren Schuld zahlen, um die Zwangsvollstreckung in sein Grundstück abzuwenden. Den daraus in gleicher Höhe erwachsenen Rückgriffsanspruch gegen die Angeklagte trat er an seine Ehefrau ab, die ihn im Klagewege gegen die Angeklagte geltend machte. In dem daraufhin geführten Zivilprozeß verteidigte sich die Angeklagte erneut damit, an Dr. L. ein Darlehen über 400.000 DM gegeben zu haben und legte wiederum die Kopie einer gefälschten Quittung über die angebliche Ausfolgung des Darlehens vor. Die Parteien schlossen schließlich einen außergerichtlichen Vergleich, wonach die Angeklagte an die Ehefrau des Dr. L. 250.000 DM zu zahlen hatte; die Klage wurde zurückgenommen. Das Landgericht ist überzeugt, daß die Angeklagte tatsächlich kein Darlehen an Dr. L. gegeben hatte. Es hat die Geltendmachung eines entsprechenden Rückzahlungsanspruchs als versuchten Betrug bewertet.

Die Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, Dr. L. sei ein alter Freund ihres Ehemannes gewesen. 1986 habe er befürchtet, daß seiner Ehefrau im Scheidungsfalle ein hoher Zugewinnausgleichsanspruch zuerkannt werde; er habe diesen reduzieren wollen. Deshalb sei vereinbart worden, daß sie, die Angeklagte, Dr. L. ein Darlehen über 400.000 DM gebe. Sie habe das Geld im Tresor einer Freundin in der Nähe von Zürich deponiert gehabt und den Betrag im Beisein des - mittlerweile verstorbenen - A. , einem gemeinsamen Freund der Familien B. und Dr. L., an Dr. L. übergeben und sich von beiden eine Quittung unterschreiben lassen. Zwei bis drei Tage später habe Dr. L. gegenüber der Bank zwei selbstschuldnerische Bürgschaften im, Gesamtwert von 700.000 DM übernommen. Das Original der Quittung habe A. aufbewahrt; nach dessen Tod sei es nicht mehr auffindbar gewesen.

Das Landgericht hält diese Einlassung für widerlegt. Die behauptete Darlehenshingabe erachtet es zunächst nach der Würdigung mehrerer Zeugenaussagen weder für nachgewiesen noch für sicher widerlegt. Die Überzeugung davon, daß die entsprechende Behauptung der Angeklagten unzutreffend sei, gewinnt es sodann maßgeblich auf der Grundlage einer Bewertung der Vermögensverhältnisse der Angeklagten einerseits und des Dr. L. andererseits. Die Strafkammer hebt hervor, Dr. L. habe seinerzeit in besten Vermögensverhältnissen gelebt, die Angeklagte hingegen erhebliche Schulden und laufenden Kreditbedarf gehabt. Unter diesen Umständen sei es völlig unverständlich, wenn die Angeklagte Kredite mit entsprechenden Kreditkosten in Anspruch genommen hätte, anstatt den angeblich in der Schweiz frei verfügbaren Darlehensbetrag in Höhe von 400.000 DM einzusetzen. Auch der Erklärung der Angeklagten, Dr. L. habe das Darlehen von ihr genommen, um sein Endvermögen im Blick auf einen Zugewinnausgleich im Scheidungsverfahren zu reduzieren, folgt die Strafkammer nicht. Dr. L. habe in einem entsprechenden Anwaltsschriftsatz mit der Aufstellung seines Vermögens zwar seine Bürgschaftsverpflichtung, nicht aber eine Darlehensverbindlichkeit in Höhe von 400.000 DM in Abzug gebracht.

II.

Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist Erörterungsmängel auf.

1. Die Revision rügt mit Erfolg, das Landgericht habe eine auf einen entsprechenden Beweisantrag hin als wahr unterstellte Behauptung nicht in die Beweiswürdigung eingestellt und nicht erwogen. Die Verteidigung hatte die Vernehmung einer in der Schweiz aufenthältlichen Freundin der Angeklagten als Zeugin zum Beweis dafür beantragt, daß die Angeklagte tatsächlich am 20. Mai 1986 - dem Tag der behaupteten Darlehenshingabe - bei der Zeugin erschienen sei, um Geld aus deren Tresor zu entnehmen, welches sie bereits seit längerer Zeit dort deponiert gehabt habe. Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO abgelehnt, weil die Vernehmung der Zeugin zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Darüber hinaus hat sie in ihrem Ablehnungsbeschluß allerdings als wahr unterstellt, daß die Angeklagte an dem in Rede stehenden Tag bei der Zeugin erschienen sei und "etwas" aus dem Tresor entnommen habe. In ihrer Beweiswürdigung kommt die Strafkammer darauf nicht zurück.

Die Revision beanstandet mit Recht, daß sich das Landgericht in der Beweiswürdigung mit der als wahr unterstellten Tatsache nicht auseinandergesetzt hat. Das erweist sich hier als Verfahrensmangel (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, daß sich der Tatrichter in den Urteilsgründen grundsätzlich nicht ausdrücklich mit als wahr unterstellten Tatsachen auseinandersetzen muß. Feststellungen und Beweiswürdigung dürfen der Wahrunterstellung lediglich nicht widersprechen; sie müssen sich mit ihr in Einklang bringen lassen. Die in der Wahrunterstellung liegende Zusage kann es aber im Einzelfall ausnahmsweise und weitergehend gebieten, die als wahr unterstellte Tatsache im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich mit zu erwägen. Das ist dann der Fall, wenn sich dies angesichts der im übrigen gegebenen Beweislage aufdrängt und die Beweiswürdigung sich sonst als lückenhaft erwiese (so schon BGHSt 28, 310, 311; vgl. auch BGH StV 1984, 142; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 12, 13). So aber liegt es hier. Gerade weil die Strafkammer nach ausführlicher Würdigung der Zeugenaussagen zur Frage einer Darlehensgewährung von einem "non liquet" ausgeht und seine Überzeugung maßgeblich auf eine Bewertung der wirtschaftlichen Verhältnisse sowohl der Angeklagten als auch des Dr. L. stützt, hätte die unterstellte Tatsache, daß die Angeklagte wirklich, wie von ihr behauptet, am 20. Mai 1986 in Zürich bei ihrer Freundin "etwas" aus deren Tresor entnommen hat, für ihre Einlassung sprechen und ein bedeutsames Indiz für ihre Sachverhaltsdarstellung sein können. Sie war ersichtlich geeignet, das Verteidigungsvorbringen in einem wesentlichen Detail zu stützen. Deshalb durfte sie in der Beweiswürdigung nicht übergangen werden, wenn auch gewichtige Indizien für eine Täterschaft der Angeklagten sprechen mochten.

Danach kann auf sich beruhen, daß auch die Ablehnung des in Rede stehenden Beweisantrages - soweit dessen Behauptungen über die Wahrunterstellung hinausgingen - nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO im Blick auf die Aufklärungspflicht des Tatrichters rechtlichen Bedenken begegnet. Ausweislich der Ablehnungsgründe hatte die benannte, in der Schweiz nahe Zürich lebende Zeugin im vorausgegangenen Zivilprozeß der Zivilkammer mitgeteilt, die Angeklagte habe ihr bereits vor Jahren "von diesem Darlehen an Dr. L. erzählt" (vgl. zur Aufklärungspflicht bei sogenannten Auslandszeugen BGH, Beschluß vom 5. September 2000 - 1 StR 325/00). Das hätte es nahelegen können, diesem Beweisantrag uneingeschränkt nachzugehen.

2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist darüber hinaus auch sachlich-rechtlich lückenhaft, weil es naheliegende, sich aufdrängende Möglichkeiten und Umstände nicht erwogen hat, Die Strafkammer nimmt an, eine Darlehensgewährung der Angeklagten an den vermögenden Dr. L. sei wirtschaftlich nicht sinnvoll gewesen. Die Einlassung der Angeklagten, Dr. L. habe im Blick auf einen etwaigen Zugewinnausgleich sein Endvermögen reduzieren wollen, räumt die Strafkammer mit der Erwägung aus, daß er in seiner Vermögensaufstellung tatsächlich zwar die Bürgschaftsverpflichtung, nicht aber die Darlehensverbindlichkeit angegeben habe. Dabei geht die Strafkammer indessen daran vorbei, daß Dr. L. das Ziel einer Reduzierung seines Endvermögens möglicherweise nicht in dem erstrebten Umfang hätte erreichen können, wenn er neben der Bürgschaft zugleich das genommene Darlehen in die Vermögensaufstellung eingestellt hätte; denn das hätte Einfluß auf die Bewertung der selbstschuldnerischen Bürgschaftsverpflichtung haben können (vgl. § 1375 Abs. 1, § 1376 Abs. 2, 3 BGB). Für den Fall seiner Inanspruchnahme aus der Bürgschaft hätte hinsichtlich des - schon mit Übernahme der Bürgschaft aufschiebend bedingt entstandenen (vgl. BGH NJW 1974, 2000, 2001) - Rückgriffsanspruchs des Dr. L. einerseits und der Darlehensforderung der Angeklagten andererseits eine Aufrechnungslage entstehen können (vgl. § 774 Abs. 1 Satz 1, § 387 BGB).

Zudem mußte sich vor diesem Hintergrund die Frage aufdrängen, ob die Darlehensgewährung in Höhe von 400.000 DM - die mit der über einen Zehnjahreszeitraum anfallenden Zinslast dem Betrag der Bürgschaft und der auf dem Grundstück des Dr. L. eingetragenen Grundschuld entsprechen sollte - nicht gleichsam eine verdeckte Absicherung für den Fall der Inanspruchnahme des Dr. L. aus der Bürgschaft war. Dieser Gesichtspunkt bedurfte um so mehr der Würdigung, als der festgestellte alleinige Beweggrund des Dr. L. für die Übernahme einer Bürgschaft in Höhe von 700.000 DM und die Eintragung einer Grundschuld auf seinem Grundstück (Hilfe für einen alten Freund) bei einem finanziellen Risiko in dieser Höhe eher als ungewöhnlich erscheint. Das Landgericht hat auch diesen Gesichtspunkt nicht erwogen, obgleich er nach Lage des Falles hätte bedacht werden müssen.

Nach allem kommt es nicht mehr darauf an, daß das Landgericht sich auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob es sich bei dem nach der Einlassung der Angeklagten in einem Schweizer Tresor lagernden Bargeldbetrag von 400.000 DM um sogenanntes Schwarzgeld handeln konnte, bei dem die Angeklagte und ihr Ehemann auch eingedenk ihrer hohen Verbindlichkeiten einen Grund gesehen haben könnten, ihn nicht zu deklarieren und in ihre Buchführung einzustellen. Darauf hat sich die Angeklagte zwar selbst nicht berufen; indessen hätte sie sich dann möglicherweise einer weiteren Straftat bezichtigen müssen.

3. Der Schuldspruch kann mithin nicht bestehen bleiben. Der Senat vermag nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß die Strafkammer zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn sie sich mit den bezeichneten Umständen näher auseinandergesetzt hätte. Auch der Rechtsfolgenausspruch muß danach entfallen. Sollte der neue Tatrichter keine weiteren Beweise für einen Betrugsversuch der Angeklagten erheben können, wird er auch zu beachten haben, daß eine Verurteilung nur auf eine hinreichend tragfähige Tatsachengrundlage gestützt werden kann (vgl. BGH NStZ 1981, 33; 1986, 373). Bei der rechtlichen Würdigung wäre zu bedenken, daß hinsichtlich der vorprozessualen Rückzahlungsaufforderung gegenüber Dr. L. auch die Merkmale der Täuschung und Irrtumserregung geprüft werden müßten (§ 263 Abs. 1 StGB).

Bearbeiter: Karsten Gaede