HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht

Von Prof. Dr. Günther Jakobs, Bonn *

I. Einleitung: Strafe als Widerspruch oder als Sicherung

Wenn hier von Bürgerstrafrecht und von Feindstrafrecht die Rede ist, so von zwei Idealtypen, die sich kaum je rein verwirklicht finden lassen: Noch in die Beurteilung einer wenig mehr als Langeweile erregenden Allerweltstat - Bürgerstrafrecht - wird sich zumindest leichte Abwehr zukünftiger Gefahren einmischen - Feindstrafrecht -, und selbst der bürgerfernste Terrorist wird zumindest formell als Person behandelt, wenn ihm im Strafverfahren[1] die Rechte eines bürgerlichen Beschuldigten zugestanden werden. Es kann also nicht darum gehen, zwei isolierte Strafrechtssphären gegenüberzustellen, sondern zwei Pole einer Welt zu beschreiben oder zwei gegenläufige Tendenzen in einem Zusammenhang des Strafrechts aufzuzeigen, wobei sich diese Tendenzen durchaus überlagern können, scil. solche zur Behandlung des Täters als Person oder andere zu seiner Behandlung als Gefahrenquelle oder als Mittel zur Abschreckung anderer. Dies als erstes!

Zweitens ist vorab zu bemerken, daß die Bezeichnung "Feindstrafrecht" nicht prinzipiell pejorativ gemeint ist. Gewiß, ein Feindstrafrecht ist Zeichen für eine mangelhafte Befriedung, die freilich nicht unbedingt den Befriedenden, sondern auch den Widerspenstigen anzulasten sein mag; zudem, ein Feindstrafrecht steht immerhin mindestens für ein regelgeleitetes und deshalb nicht spontan-affektives Verhalten. - Dies vorausgeschickt, beginne ich mit dem Mittelteil der Begriffe, mit der Strafe.

Strafe ist Zwang und zwar verschiedenartiger - hier nur auszugsweise zu behandelnder - Zwang, gemischt in inniger Verbindung. Da ist zunächst der Zwang als Bedeutungsträger, als Träger der Antwort auf die Tat: Die Tat als Tat einer vernünftigen Person bedeutet etwas, nämlich eine Desavouierung der Norm, einen Angriff auf ihre Geltung, und die Strafe bedeutet gleichfalls etwas, nämlich die Behauptung des Täters sei unmaßgeblich und die Norm gelte unverändert fort, die Gestalt der Gesellschaft bleibe also erhalten. Tat wie Strafzwang sind insoweit Mittel symbolischer Interaktion[2], und der Täter wird als Person ernst genommen; denn wäre er inkompetent, müßte seiner Tat nicht widersprochen werden.

Aber Strafe bedeutet nicht nur etwas, sondern bewirkt auch physisch etwas: So kann etwa der Inhaftierte außerhalb der Vollzugsanstalt keine Delikte mehr begehen - sichere Spezialprävention für die Dauer der Freiheitsstrafe. Es ist wohl unwahrscheinlich, daß die Freiheitsstrafe die regelmäßige Reaktion auf schwerere Taten geworden wäre, wenn sie nicht diesen sichernden Effekt aufwiese. Der Zwang soll insoweit nichts bedeuten, sondern wir-

ken, was heißt, er gelte nicht der Person im Recht sondern dem gefährlichen Individuum. Das dürfte besonders deutlich werden, wenn man von der sichernden Wirkung der Freiheitsstrafe zur Sicherungsverwahrung als Maßregel übergeht (§ 61 Nr. 3, § 66 StGB); der Blick wendet sich dann nicht nur zurück auf die abzuurteilende Tat, sondern auch und hauptsächlich vorwärts in die Zukunft, in der sich ein "Hang zu erheblichen Straftaten" für die Allgemeinheit "gefährlich" auswirken könnte (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). An die Stelle der an sich kompetenten Person, der mit der Strafe widersprochen wird, tritt also das gefährliche Individuum[3], gegen das - hier: mit einer Maßregel, nicht einer Strafe - physisch effektiv vorgegangen wird: Gefahrbekämpfung statt Kommunikation, Feindstrafrecht (hier immerhin im weiteren Sinn Strafrecht: Die Maßregel setzt eine Straftat voraus) statt Bürgerstrafrecht, und der Ausdruck "Recht" bedeutet in beiden Begriffen durchaus unterschiedliches, wie später noch zu zeigen sein wird.

In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion[4] findet sich zum Problem wenig bis nichts. Von denen, die das Recht überall suchen, zugleich es unmittelbar zu haben sich versichern und dies mit stets vornehmen Ton verkünden, statt sich die Arbeit aufzuerlegen, ihre Subjektivität durch eine Prüfung dessen, was ist und was sein kann, auszubilden, kann auch nichts erwartet werden. Freilich lehrt die Philosophie der Neuzeit genug, um das Problem zumindest anpacken zu können.

II. Einige rechtsphilosophische Entwürfe

"Recht" heißt die Bindung zwischen Personen, die ihrerseits Träger von Rechten und Pflichten sind, während das Verhältnis zu einem Feind nicht durch Recht, sondern durch Zwang bestimmt wird. Nun ist alles Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden[5], und der schärfste Zwang ist derjenige des Strafrechts. Man könnte deswegen argumentieren, jede Strafe, ja schon jede Notwehr, gelte einem Feind. Eine solche Argumentation ist keineswegs neu, sie hat vielmehr prominente philosophische Vorbilder.

Insbesondere diejenigen Autoren, die den Staat in strenger Weise durch einen Vertrag begründen, stellen ein Verbrechen dergestalt dar, daß der Straftäter den Vertrag bricht und nunmehr der Segnungen des Vertrags nicht mehr teilhaftig ist: Er lebt mit den anderen nicht mehr in einem Rechtsverhältnis. Dementsprechend heißt es bei Rousseau[6], jeder "Übeltäter", der das "gesellschaftliche Recht" angreife, höre auf, "Mitglied" des Staates zu sein, da er mit diesem im Krieg liege, wie das gegen den Übeltäter ergangene Urteil beweise. Die Konsequenz lautet: "Man läßt den Schuldigen weniger als Staatsbürger (citoyen), denn als Feind (ennemi) sterben". Ähnlich argumentiert Fichte: "Wer den Bürgervertrag in einem Stücke verläßt, sey es mit Willen, oder aus Unbedachtsamkeit, da, wo im Vertrage auf seine Besonnenheit gerechnet wurde, verliert der Strenge nach alle seine Rechte als Bürger und als Mensch, und wird völlig rechtlos"[7]. Fichte mildert diese Vogelfreiheit[8] des Verbrechers regelmäßig durch die Konstruktion eines Abbüßungsvertrags[9], dies jedoch nicht beim "absichtliche(n) vorbedachte(n) Mord": Hier bleibt es bei der Rechtlosigkeit: "... der Verurtheilte wird erklärt für eine Sache, für ein Stück Vieh"[10]. Mit eiserner Konsequenz fährt Fichte fort, mangels Personqualität sei die Hinrichtung des Verbrechers "nicht Strafe, sondern nur Sicherungsmittel"[11]. Einzelheiten sollen dahinstehen; denn schon die kleine Skizze dürfte gezeigt haben, daß der Bürgerstatus nicht unbedingt etwas Unverlierbares sein muß.

Ich möchte dem Konzept von Rousseau und Fichte nicht folgen; denn es ist in seiner radikalen Trennung des Bürgers mit seinem Recht einerseits vom Unrecht des Feindes andererseits zu abstrakt. Eine Rechtsordnung muß im Grundsatz auch einen Verbrecher im Recht halten und zwar aus einem doppelten Grund: Der Delinquent hat ein Recht, mit der Gesellschaft wieder ins Reine zu kommen, und dazu muß er seinen Status als Person, als Bürger, jedenfalls: im Recht, behalten, und zudem hat der Delinquent die Pflicht zur Wiedergutmachung, und auch Pflichten setzen Personalität voraus, mit anderen Worten, der Verbrecher kann sich nicht durch seine Tat willkürlich aus der Gesellschaft verabschieden.

Hobbes hat das erkannt. Er ist zwar dem Worte nach (auch) Vertragstheoretiker, aber der Sache nach eher ein Philosoph der Institutionen. Sein Unterwerfungsvertrag - neben den, gleichberechtigt, die Unterwerfung per Gewalt tritt! - ist weniger als Vertrag im eigentlichen Sinn denn als Metapher dafür zu verstehen, daß die (zukünfti-gen) Bürger den Staat bei dessen Selbstorganisation nicht stören[12]. Dazu durchaus passend beläßt Hobbes dem

Verbrecher im Grundsatz seine Bürgerrolle[13]: Der Bürger kann seinen Status nicht selbst aufheben. Anders verhält es sich freilich bei Rebellion, also Hochverrat: "Denn die Natur dieses Verbrechens liegt in der Aufkündigung der Unterwerfung[14], was einen Rückfall in den Kriegszustand bedeutet.... Und diejenigen, die sich auf diese Weise vergehen, werden nicht als Untertanen, sondern als Feinde bestraft"[15].

Für Rousseau und Fichte ist an sich jeder Verbrecher Feind, für Hobbes immerhin der Hochverräter. Kant, der das Vertragsmodell als regulative Idee bei der Begründung und Begrenzung der Staatsgewalt benutzt[16], siedelt das Problem auf der Schwelle zwischen dem (fiktiven) Naturzustand und dem staatlichen Zustand an. Zur Ermöglichung des gesicherten Eigentums soll bei Kant jede Person die Befugnis haben, jede andere unter eine bürgerliche Verfassung zu zwingen[17]. Sofort drängt sich die Frage auf: Was sagt Kant zu denjenigen, die sich nicht zwingen lassen? In seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" widmet er dem Problem, wann man gegen einen Menschen feindlich verfahren dürfe, eine lange Fußnote[18] und führt aus: "Der Mensch aber oder das Volk im bloßen Naturzustande benimmt mir... (die erforderliche) Sicherheit, und lädirt mich schon durch eben diesen Zustand, in dem er neben mir ist, obgleich nicht thätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde und ich kann ihn nöthigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen"[19]. Wer also das Leben in einem "gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand" nicht mitmacht, muß weichen, was heißt, er wird hinausgeworfen (oder in die Sicherungsverwahrung hineingeworfen), jedenfalls muß man ihn nicht als Person, sondern kann ihn, wie Kant ausdrücklich vermerkt[20] "als einen Feind behandeln"[21].

Bei Kant wird, wie soeben zitiert, nicht als Person behandelt, wer mich "ständig... bedroht", wer sich nicht in einen bürgerlichen Zustand zwingen läßt. Durchaus vergleichbar entpersonalisiert Hobbes den Hochverräter; auch dieser leugnet ja die gegebene Verfassung dem Prinzip nach. Hobbes und Kant kennen also ein Bürgerstrafrecht - gegen nicht beharrlich, nicht prinzipiell delinquierende Personen - und ein Feindstrafrecht gegen prinzipielle Abweichler; dieses exkludiert, jenes beläßt den Personenstatus. Recht ist jenes, das Bürgerstrafrecht, auch am Verbrecher; dieser bleibt Person. Aber dieses, das Feindstrafrecht, ist Recht in einem anderen Sinn. Gewiß hat der Staat ein Recht, sich vor Individuen, die immer wieder delinquieren, zu sichern; Sicherungsverwahrung ist schließlich ein Rechtsinstitut. Mehr noch, die Bürger haben ein Recht, von ihm, dem Staat, geeignete Maßnahmen zu verlangen, eben ihr Recht auf Sicherheit[22], durch das Hobbes den Staat begründet und begrenzt: Finis oboedientiae est protectio[23]. Aber in diesem Recht ist der Feind, bei Hobbes der Hochverräter, bei Kant der ständig Bedrohende, nicht enthalten; es ist das Recht der anderen. Bürgerstrafrecht ist das Recht aller, Feindstrafrecht das Recht derjenigen, die gegen den Feind stehen; dem Feind gegenüber ist es nur physicher Zwang, bis hin zum Krieg. Dieser Zwang mag in zweifacher Hinsicht beschränkt sein. Erstens muß der Staat den Feind nicht von allen Rechten ausschließen. So bleibt etwa der Sicherungsverwahrte in seiner Rolle als Sacheigentümer unangetastet. Und zweitens muß der Staat nicht alles tun, wozu er frei ist, sondern er kann sich zurücknehmen, insbesondere um die Möglichkeit eines späteren Friedensschlusses nicht zu verbauen. Aber das ändert nichts daran, daß die Maßnahme gegen den Feind nichts bedeutet, sondern nur zwingt. Bürgerstrafrecht erhält die Normgeltung, Feindstrafrecht (im weiteren Sinn: das Maßregelrecht eingeschlossen) bekämpft Gefahren; - gewiß gibt es massenweise Zwischenformen.

III. Wirkliche Personalität und faktische Gefährlichkeit

Warum, so bleibt zu fragen, trennen Hobbes und Kant in der geschilderten Art und Weise? Die Antwort sei in die

Gestalt einer These gekleidet: Kein normativer Zusammenhang, und auch der Bürger, die Person im Recht, ist ein solcher, gilt aus sich heraus; er muß vielmehr auch im großen und ganzen die Gesellschaft bestimmen, nur dann ist er wirklich.

Zur Erläuterung der These soll mit Bemerkungen dazu begonnen werden, was - sit venia verbo - der Normalfall der Sequenz von Verbrechen und Strafe bedeutet. Verbrechen gibt es nicht in chaotischen Verhältnissen, sondern nur als Bruch der Normen einer praktizierten Ordnung. Niemand hat dies schärfer herausgearbeitet als Hobbes[24], der im Naturzustand allen Menschen ein jus naturale auf alles zuspricht, also in moderner Terminologie nur ein sogenanntes jus, dem eben nicht eine obligatio, eine Pflicht, des anderen korrespondiert, das vielmehr nur Bezeichnung für die normativ grenzenlose und nur durch die physische Gewalt jedes einzelnen begrenzte Freiheit ist, zu tun und zu lassen, was man will, so man nur kann. Wer will und kann, mag den anderen aus nichtigem Anlaß erschlagen; das ist, wie Hobbes ausdrücklich vermerkt[25], sein jus naturale, und mit einem Verbrechen hat solches nichts gemein, da im Naturzustand mangels einer verbindlich definierten Ordnung auch keine Normen einer solchen Ordnung gebrochen werden können.

Verbrechen werden also erst im geordneten Gemeinwesen, im Staat, möglich, so wie das Negative stets nur vor der Folie des Positiven bestimmt werden kann und vice versa. Dabei erscheint das Verbrechen nicht etwa als Anfang vom Ende des geordneten Gemeinwesens, sondern nur als dessen Irritation, als ein reparierbarer Ausrutscher. Zur Verdeutlichung stelle man sich beispielsweise vor, ein Neffe erschlage zur Beschleunigung des Erbfalls seinen Erbonkel. An einem solchen Fall geht kein Staat zugrunde. Mehr noch, die Tat richtet sich nicht gegen den Bestand des Staates und nicht einmal prinzipiell gegen denjenigen seiner Institutionen: Der böse Neffe gedenkt ja, seinerseits den Lebensschutz und den Eigentumsschutz des Staates zu genießen; er verhält sich also evident selbstwidersprüchlich, mit anderen Worten, er optiert, wie jeder erkennt, für eine nicht bestandsfähige Welt, und zwar nicht nur praktisch in einer bestimmten Lage nicht bestandsfähig, sondern bereits theoretisch: Die Welt ist denkunmöglich.

Deshalb sieht der moderne Staat im Täter einer - erneut wähle ich das ungenaue Wort - Normaltat, anders als es bei den strengen Vertragstheoretikern Rousseau und Fichte der Fall ist, nicht einen Feind, den es zu vernichten gilt, sondern einen Bürger, eine Person, die durch ihr Verhalten die Normgeltung ramponiert hat und deshalb zwangsweise, aber als Bürger (und nicht als Feind) herangezogen wird, um den Normgeltungsschaden wieder auszugleichen. Dies geschieht, indem durch die Strafe, also durch die Wegnahme der Entfaltungsmittel des Täters, verdeutlicht wird, man halte an der vom Täter enttäuschten Erwartung fest, behandele also diese als gültig und die Handlungsmaxime des Täters als unmaßgeblich[26].

So einfach, ja geradezu idyllisch - der Täter spricht sich schon wegen der Inkonsistenz seiner Maxime das Urteil selbst - verhält es sich freilich nur, wenn der Täter trotz seiner Tat die Gewähr dafür bietet, sich im großen und ganzen als Bürger, also als rechtstreu agierende Person, zu benehmen. Wie sich Normgeltung nicht völlig kontrafaktisch durchhalten läßt, so auch nicht Personalität. Dies sei kurz verdeutlicht, zunächst zur Normgeltung:

Wenn eine Norm die Gestalt einer Gesellschaft bestimmen soll, so muß das normgemäße Verhalten in der Hauptsache wirklich erwartbar sein, was heißt, die Kalkulationen der Personen müßten davon ausgehen, die anderen würden sich normgemäß und eben nicht normbrechend verhalten. Zumindest in Fällen auch nur einigermaßen gewichtiger Normen bedarf diese Erwartbarkeit der Normtreue anderer einer gewissen kognitiven Untermauerung, um wirklich werden zu können. Ein krasses Beispiel: Wenn ich ernsthaft damit rechnen muß, in einer Parkanlage verletzt, beraubt und vielleicht sogar getötet zu werden, wird mich auch die Gewißheit, jedenfalls im Recht zu sein, nicht dazu bringen, mich ohne Not in diese Anlage zu begeben. Ohne hinreichende kognitive Sicherheit erodiert die Normgeltung und wird zum leeren Versprechen, leer, weil es keine wirklich lebbare gesellschaftliche Gestalt mehr anbietet. Theoretisch mag man diese Untermauerung des Normativen durch das Faktische unter Hinweis darauf ablehnen, was nicht sein dürfe, dürfe auch dann nicht sein, wenn es wahrscheinlich sein werde, aber Personen wollen nicht nur Recht haben, sondern auch mit ihrem Leib durchkommen, also für sich als bedürftige Individuen ein Auskommen finden[27], und das Vertrauen auf das, was nicht sein darf, verhilft eben nur dann zu einer Orientierung, mit der man sein Auskommen finden kann, wenn es vom Wissen, was sein wird, nicht allzu stark konterkariert wird. Eben deshalb argumentiert Kant, jeder dürfe jeden anderen unter eine bürgerliche Verfassung zwingen[28].

Ebenso verhält es sich mit der Personalität eines Straftäters: Rein kontrafaktisch, ohne jede kognitive Untermauerung, läßt sich auch diese nicht durchhalten; wenn der andere nicht nur als Individuum, also als nach Lust und Unlust kalkulierendes Wesen berechnet, sondern wenn er als Person genommen werden soll, was heißt, wenn von seiner Orientierung an Recht und Unrecht ausgegangen werden soll, dann muß auch diese normative Erwartung im großen und ganzen kognitiv unterfangen sein, und zwar um so deutlicher, je gewichtiger die in Rede stehenden Normen sind.

Das Beispiel der Sicherungsverwahrung als Maßregel wurde bereits genannt. An zahlreichen weiteren Regelungen des Strafrechts läßt sich ablesen, daß dann, wenn die Erwartung personalen Verhaltens dauerhaft enttäuscht wird, die Bereitschaft zur Behandlung des Verbrechers als Person schwindet. So geht der Gesetzgeber (um zunächst beim materiellen Recht zu bleiben) zu einer - offen so genannten - Bekämpfungsgesetzgebung über, etwa bei der Wirtschaftskriminalität[29], beim Terrorismus[30], bei der organisierten Kriminalität[31], bei "Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten"[32] sowie überhaupt bei "Verbrechen"[33], wobei jeweils Individuen bekämpft werden sollen, die sich in ihrer Haltung (etwa bei Sexualdelikten) oder in ihrem Erwerbsleben (etwa bei Wirtschaftskriminalität, Rauschgiftkriminalität, sonst organisierter Kriminalität) oder durch Einbindung in eine Organisation (beim Terrorismus, bei organisierter Kriminalität, schon bei der Verbrechensverabredung, § 30 StGB) vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt haben, also die kognitive Mindestgarantie nicht leisten, die für die Behandlung als Person erforderlich ist. Die Reaktion des Rechts auf solche Kriminalität zeichnet sich parallel zur soeben angeführten Kantischen Differenzierung zwischen bürgerlichem Zustand und Naturzustand dadurch aus, daß es nicht primär um den Ausgleich eines Normgeltungsschadens geht, sondern um die Beseitigung einer Gefahr: Die Strafbarkeit wird weit in den Bereich der Vorbereitung vorverlagert, und die Strafe gilt der Sicherung vor zukünftigen Taten, nicht der Ahndung vollzogener. Kurzum, der Gedanke des Gesetzgebers ist folgender: Der andere "lädirt mich schon durch eben... (seinen gesetzlosen) Zustand (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde"[34]. Nochmals anders formuliert: Ein Individuum, das sich nicht in einen bürgerlichen Zustand zwingen läßt, kann der Segnungen des Begriffs der Person nicht teilhaftig werden. Der Naturzustand ist eben ein Zustand der Normlosigkeit, also exzessiver Freiheit wie exzessiven Kampfes. Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was Norm ist, und wer verliert, hat sich dieser Bestimmung zu beugen.

Wem das alles noch dunkel erscheint, dem sei durch einen Hinweis auf die Taten vom 11. September 2001 blitzartig zu einer Erhellung verholfen. Was beim Delinquenten alltäglicher Art noch selbstverständlich ist, scil. ihn nicht als gefährliches Individuum, sondern als falsch agierende Person zu behandeln, wird, wie soeben gezeigt, beim Hangtäter oder bei dem in eine Organisation eingepaßten Täter schon schwierig - die Notwendigkeit der Reaktion auf die von seinem immer wieder anomischen Verhalten ausgehende Gefahr schiebt sich in den Vordergrund - und endet beim Terroristen, als welcher hier derjenige bezeichnet wird, der die Legitimität der Rechtsordnung prinzipiell leugnet und deshalb darauf aus ist, diese Ordnung zu zerstören. Nun soll nicht bezweifelt werden, daß auch ein Terrorist, der mordet und anderes mehr unternimmt, vom Strafrecht eines jeden Staates, das diese Taten zu Verbrechen erklärt, als ein zu bestrafender Verbrecher dargestellt werden kann. Verbrechen bleiben auch dann Verbrechen, wenn sie mit radikalen Absichten und im großen Stil begangen werden. Aber es ist doch sehr wohl zu fragen, ob nicht durch die strikte Fixierung allein auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt wird - eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren - die gegenüber einem Terroristen, der die Erwartung generell personalen Verhaltens gerade nicht rechtfertigt, schlechthin unangemessen ist. Anders formuliert, wer den Feind unter den Begriff des bürgerlichen Verbrechers bringt, sollte sich nicht wundern, wenn die Begriffe "Krieg" und "Strafverfahren" durcheinandergeraten. Nochmals anders formuliert, wer dem Bürgerstrafrecht seine rechtsstaatlichen Eigenschaften - Bändigung der Affekte; Reaktion nur auf externalisierte Taten, nicht auf bloße Vorbereitungen[35]; Achtung der Personalität des Verbrechers im Strafverfahren u. a. m. -, wer ihm also diese Eigenschaften nicht nehmen will, sollte das, was man gegen Terroristen tun muß, wenn man nicht untergehen will, anders nennen, eben Feindstrafrecht, gebändigten Krieg.

Das Strafrecht kennt also zwei Pole oder Tendenzen seiner Regelungen, scil., einmal den Umgang mit dem Bürger, wobei gewartet wird, bis dieser seine Tat externalisiert, und sodann reagiert wird, um die normative Gestalt der Gesellschaft zu bestätigen, und zum anderen den Umgang mit dem Feind, der weit im Vorfeld abgefangen und seiner Gefährlichkeit wegen bekämpft wird. Ein Beispiel für den ersten Typ mag der Umgang mit einem Totschläger bilden, der als Alleintäter erst beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung strafbar wird (§§ 22, 212 StGB), ein Beispiel für den zweiten Typ der Umgang mit dem Rädelsführer oder dem Hintermann (was das auch immer sein mag) einer terroristischen Vereinigung, den eine gegenüber dem versuchten Totschläger nur marginal mildere Strafe[36]bereits dann trifft, wenn er die Vereinigung gründet oder sich in ihr betätigt (§ 129 a StGB), also eventuell Jahre vor der - mehr oder weniger vage - in Aussicht genommenen Tat[37]; der Sache nach dürfte es sich um eine "Strafe" genannte, vorweggenommene Sicherungsverwahrung handeln.

IV. Skizze zum Strafverfahrensrecht

Im Strafprozeßrecht findet sich diese Polarisierung wieder; die Versuchung liegt nahe zu sagen: selbstverständlich. Das kann hier nicht vertieft dargestellt, soll aber immerhin skizziert werden. Der Beschuldigte ist einerseits mitwirkende Person, üblicherweise "Prozeßsubjekt" genannt; das unterscheidet ja gerade den reformierten Prozeß vom Inquisitionsprozeß. Zu nennen sind etwa[38] das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht, Beweisanträge zu stellen, bei Vernehmungen anwesend zu sein und, dies insbesondere, bei der eigenen Aussage weder unzulässig getäuscht, noch gezwungen, noch verlockt zu werden (§ 136 a StPO).

Andererseits tritt dieser personalen, prozeßsubjekthaften Seite[39] mannigfacher schierer Zwang gegenüber, vorweg bei der Untersuchungshaft (§§ 112, 112 a StPO); wie die Sicherungsverwahrung, so bedeutet auch sie nichts für den Beschuldigten, sondern erschöpft sich ihm gegenüber in physischem Zwang, dies nicht, weil der Beschuldigte dem Prozeß beiwohnen muß - am Prozeß nimmt auch eine beschuldigte Person teil, und zwar aus Einsicht -, sondern weil er dazu durch die Inhaftierung gezwungen wird. Dieser Zwang richtet sich nicht gegen die Person im Recht - diese verdunkelt nicht und flieht nicht - sondern gegen das Individuum, das mit seinen Trieben und Ängsten für den ordentlichen Rechtsgang gefährlich wird, sich insoweit als Feind geriert. Ebenso verhält es sich bei jedem Zwang zu einem Eingriff, etwa zu einer Blutentnahme (§ 81 a StPO), sowie bei denjenigen Überwachungsmaßnahmen, von denen der Beschuldigte zum Zeitpunkt ihrer Vornahme nichts weiß, jedenfalls nichts wissen soll, weil die Maßnahmen nur funktionieren, solange der Beschuldigte sie nicht kennt. Zu nennen sind beispielsweise die Überwachung der Telekommunikation (§ 100 a StPO), sonstige geheime Ermittlungen (§ 100 c StPO) und der Einsatz verdeckter Ermittler (§ 110 a StPO). Wie im materiellen Feindstrafrecht so gilt auch hier, daß solche Maßnahmen nicht außerhalb des Rechts erfolgen, aber die Beschuldigten werden insoweit, als bei ihnen eingegriffen wird, von ihrem Recht exkludiert: Der Staat hebt in rechtlich geordneter Weise Rechte auf.

Gleichfalls wie im materiellen Recht gelten die krassesten feindstrafprozessualen Regelungen der Erledigung terroristischer Gefahren, wobei ein Hinweis auf die Kontaktsperre, also die Aufhebung der Kontaktmöglichkeit zwischen einem Gefangenen und seinem Verteidiger zur Vermeidung von Gefahren für Leben, Leib oder Freiheit einer Person, genügen mag (§§ 31 ff EGGVG). Das ist freilich nur der positivrechtlich geregelte Extremfall. Was sich jenseits des geordneten Strafprozesses ereignen kann, ist seit den Taten vom 11. September 2001 weltweit bekannt: In einem Verfahren, das schon mangels einer Trennung von der Exekutive gewiß nicht als justizförmig, aber sehr wohl als kriegsförmig bezeichnet werden kann, versucht der Staat, auf dessen Territorium die Taten begangen wurden, mit Hilfe anderer Staaten, auf deren Territorien sich bislang, freilich nur bislang, nichts Vergleichbares ereignet hat, die Quellen der Terroristen zu zerstören und ihrer selbst habhaft zu werden, besser noch, sie sogleich zu töten, dabei die Tötung auch unschuldiger Menschen, Kollateralschaden genannt, in den Kauf nehmend. Die doppeldeutige Rechtsstellung der Gefangenen - Verbrecher? Kriegsgefangene? - belegt, daß es um Verbrechensverfolgung durch Krieg geht.

V. Verwischung: Bürger als Feinde?

Der Staat kann mit Delinquenten also in zweierlei Art und Weise verfahren: Er kann in ihnen delinquierende Bürger sehen, Personen, die einen Fehler gemacht haben, oder aber Individuen, die durch Zwang davon abgehalten werden müssen, die Rechtsordnung zu zerstören. Beide Sichtweisen haben bereichsweise ihren legitimen Platz, was zugleich heißt, daß sie auch am falschen Platz angewandt werden können.

Personalität ist, wie gezeigt wurde, als nur normative Konstruktion unwirklich. Wirklich ist sie erst, wenn die Erwartungen, die sich an eine Person richten, auch im großen und ganzen erfüllt werden. Gewiß, eine Person kann auch kontrafaktisch als Person konstruiert werden, aber eben nicht dauernd oder auch nur überwiegend. Wer keine hinreichende kognitive Sicherheit personalen Verhaltens leistet, kann nicht nur nicht erwarten, noch als Person behandelt zu werden, sondern der Staat darf ihn auch nicht mehr als Person behandeln, weil er ansonsten das Recht auf Sicherheit der anderen Personen verletzen würde. Es wäre also völlig falsch, das, was hier als Feindstrafrecht bezeichnet wurde, zu verteufeln; damit läßt sich das Problem, wie man mit den Individuen umgehen soll, die sich nicht unter eine bürgerliche Verfassung zwingen lassen, nicht lösen. Kant fordert, wie schon angeführt wurde, die Trennung von ihnen, was nichts anderes heißt, als daß man sich vor seinen Feinden schützen müsse[40].

Auf der anderen Seite ist nicht jeder Verbrecher ein prinzipieller Gegner der Rechtsordnung. Deshalb ist die Einführung einer mittlerweile kaum noch übersehbaren Menge an feindstrafrechtlichen Strängen und Partikeln in das allgemeine Strafrecht aus rechtsstaatlicher Sicht ein Übel. Ein die Verbrechensvorbereitung betreffendes Beispiel[41] soll das verdeutlichen: Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 und das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kannten keine Bestrafung der isolierten Verbre-

chensvorbereitung. Nachdem sich im Kulturkampf, einem Kampf des Staates für die Verweltlichung der gesellschaftlichen Institutionen, ein Ausländer (der Belgier Duchesne) gegenüber hohen ausländischen kirchlichen Stellen (dem Jesuitenprovinzial von Belgien und dem Erzbischof von Paris) erboten hatte, gegen Zahlung einer beachtlichen Summe den deutschen Reichskanzler (Bismarck) zu töten, wurde eine Vorschrift eingeführt, die solche Vorbereitungen bei schwersten Verbrechen mit Gefängnis von 3 Monaten bis zu 5 Jahren, ansonsten bei Verbrechen mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bedrohte (§§ 49 a, 16 RStGB nach der Novelle von 1876) - eine Regelung, die wegen ihrer Milde offenbar nicht darauf abstellte, wie gefährlich ein Feind werden kann, sondern was ein Täter bislang angegriffen hat: die öffentliche Sicherheit. 1943 (!) wurde die Vorschrift (unter anderem) dergestalt verschärft, daß die Strafe an diejenige der geplanten Tat gebunden wurde; das Delikt gegen die öffentliche Sicherheit wurde damit in eine echte Bestrafung von Vorbereitungen verwandelt, und diese Änderung ist bis heute nicht rückgängig gemacht worden. Angeknüpft wird also an das noch nicht betätigte, sondern nur geplante Verhalten, also nicht an den verwirklichten Normgeltungsschaden, sondern an die kommende Tat[42], mit anderen Worten, an die Stelle des aktuellen Normgeltungsschadens tritt die Gefahr künftiger Schäden - eine feindstrafrechtliche Regelung. Was bei Terroristen - prinzipiellen Gegnern - angemessen sein mag, eben auf die Größe der Gefahr und nicht auf den verwirklichten Normgeltungsschaden abzustellen, wird hier auf den Fall jeder Planung eines Verbrechens, etwa eines einfachen Raubs, übertragen. Solches überflüssige Feindstrafrecht - es fehlt jede Begründung für die exorbitante Strafdrohung - ist dem Rechtsstaat schädlicher als es etwa die oben erwähnte Kontaktsperre ist; denn im letzteren Fall wird nur der - mutmaßliche - Terrorist nicht als Person behandelt, im ersteren jeder Täter eines Verbrechens im technischen Sinn und jeder Anstifter dazu (§§ 12 Abs. 1, 30 StGB), so daß ein großer Teil des Bürgerstrafrechts vom Feindstrafrecht durchsetzt wird.

VI. Kontrafaktische Personalisierung: Feinde als Personen

Die Ausführungen wären nicht vollständig, wenn nicht noch folgender Gedankengang angeschlossen würde: Wie gezeigt, ist Person nur, wer eine hinreichende kognitive Gewähr für personales Verhalten bietet, dies als Konsequenz der Erkenntnis, daß jede Normativität der kognitiven Untermauerung bedarf, um wirklich zu werden. Davon ist auch die Rechtsordnung selbst nicht ausgenommen: Nur wenn sie im großen und ganzen durchgesetzt wird, hat sie mehr als eine gedachte, scil. eine wirkliche Geltung. Dagegen steht freilich die heute geläufige Annahme, es gebe überall auf der Welt eine rechtsverbindliche Mindestordnung dergestalt, daß Verstöße gegen elementare Menschenrechte nicht hingenommen werden dürften, gleich wo sie sich ereignen, daß vielmehr auf solche Verletzungen mit Intervention und Strafe zu reagieren sein soll. Das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, das Rom-Statut[43] und das Völkerstrafgesetzbuch[44] sind Konsequenzen dieser Annahme. Schaut man sich genauer an, was an internationaler und nationaler Strafgerichtsbarkeit etabliert wird, so zeigt sich, daß die Strafe von einem Mittel zur Erhaltung der Normgeltung zu einem Mittel zur Begründung von Normgeltung mutiert. Solches muß nicht unangemessen sein, aber es muß bezeichnet und theoretisch verarbeitet werden; ein kleiner Versuch zur Lösung dieser Aufgabe sei im folgenden unternommen:

Krasse Verletzungen elementarer Menschenrechte geschehen, wie bekannt ist und keines Belegs bedarf, an vielen Orten der Erde. Freilich geschehen sie dort weit überwiegend deshalb, weil Menschenrechte an diesen Orten bislang nicht in dem Sinn etabliert worden sind, daß sie auch im großen und ganzen durchgesetzt würden; denn ansonsten würden vereinzelte Menschenrechtsverletzungen auch an diesen Orten als Störung der etablierten Ordnung verstanden und bestraft, ohne daß es einer auswärtigen Gerichtsbarkeit bedürfte. Von einigen - hauptsächlich westlichen - Staaten wird also eine globale Geltung von Menschenrechten behauptet, der am Ort der Taten zumindest die Täter radikal und erfolgreich widersprechen. Nun negiert ein Täter stets die Geltung der die Tat verbietenden Norm für das von ihm geplante Verhalten; denn ansonsten könnte er die Tat nicht begehen. Demnach scheint es sich so zu verhalten, daß jedenfalls - bei einer Menschenrechtsverletzung irgendwo auf der Welt wie im Grundfall einer Straftat im Staat - der Täter sich gegen die verbietende Norm wendet und daß die dadurch tangierte Normgeltung durch Strafe in ihrer Unantastbarkeit bestätigt wird. Bei einer solchen Gleichsetzung würden jedoch wesentliche Unterschiede übergangen.

Im Grundfall eines Delikts in einem Staat wird eine im großen und ganzen etablierte Ordnung in einem Einzelfall mißachtet. Es besteht bereits ein Gewaltmonopol des Staates, und diesem untersteht der Täter, auch schon vor seiner Tat. Kant hat dies dahin formuliert, im "gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustande" habe die "Obrigkeit" über den Täter wie über sein Opfer "Gewalt"[45]. Es handelt sich demnach um einen Zustand der Gewißheit, der Staat leiste für die normativen Erwartungen des Opfers gegenüber dem Täter hinreichende Sicherheit, so daß eine Tat, so sie doch erfolgen sollte, als kognitiv nicht in Rechnung zu stellende Besonderheit erscheint und durch Zurechnung zum Täter sowie dessen Bestrafung neutrali-

siert werden kann. Soviel zur Lage im Zustand verwirklichter Rechtsgeltung, eben im funktionierenden Staat!

Anders verhält es sich mit der globalen Geltung der Menschenrechte. Von einem weltweiten Zustand verwirklichter Rechtsgeltung kann keine Rede sein, sondern nur von einem Postulat der Verwirklichung. Dieses Postulat mag gut begründet sein, ist damit aber so wenig verwirklicht, wie ein zivilrechtlicher Anspruch schon erfüllt ist, nur weil er gut begründet werden kann. Mit anderen Worten, es geht insoweit nicht bereits um die Erhaltung eines "gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustands", vielmehr erst einmal um seine Herstellung. Der Zustand vor der Herstellung des "bürgerlich-gesetzlichen" Zustands ist der Naturzustand, und in diesem gibt es keine Personalität, jedenfalls keine gesicherte Personalität. Deswegen ist gegen die Menschenrechtsverletzer, die ja auch für sich keine hinreichende Sicherheit bieten, Personen zu sein, an sich alles erlaubt, was notwendig ist, um den "gemeinschaftlich-gesetzlichen" Bereich zu sichern, und das geschieht dann ja auch, indem zunächst Krieg geführt und nicht etwa sogleich die Polizei ausgeschickt wird, einen Haftbefehl zu vollstrecken. Hat man den Täter freilich in der Hand, wechselt man zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozeßordnung, als gehe es um einen Totschlag aus verschmähter Liebe oder ähnliche bürgerliche Partialkonflikte. Der Täter wird also zur Person erklärt, um die Fiktion der universalen Geltung der Menschenrechte aufrechterhalten zu können. Ehrlicher wäre es, diesen Zwang bei der Begründung einer Ordnung vom Recht zur Erhaltung einer Ordnung zu trennen: "Bürger" Milošewić stammt so wenig aus der Gesellschaft, die ihn vor Gericht stellt, wie es bei "Bürger" Capet der Fall war. Selbstverständlich wende ich mich nicht gegen universal geltende Menschenrechte, aber ihre Etablierung ist eben etwas anderes als ihre Sicherung. Wenn es der Errichtung einer "gemeinschaftlich-gesetzlichen" Weltverfassung dient, mögen Menschenrechtsverletzer bestraft werden; nur, solches ist keine Strafe gegen schuldige Personen, sondern gegen gefährliche Feinde, und deshalb sollte man die Sache auch so nennen: Feindstrafrecht.

VII. Zusammenfassung

1. Beim Bürgerstrafrecht ist die offene Funktion der Strafe

Widerspruch , beim Feindstrafrecht die Beseitigung einer Gefahr. Die jeweiligen Idealtypen werden in reiner Ausprägung kaum je praktisch vorkommen. Beide Typen können legitim sein.

2. Im streng vertragstheoretisch argumentierenden Naturrecht ist an sich jeder Delinquent ein Feind (Rousseau, Fichte). Zur Erhaltung eines Adressaten für normative Erwartungen ist es jedoch vorzugswürdig, dem nicht prinzipiell Abweichenden den Bürgerstatus zu belassen (Hobbes, Kant).

3. Der prinzipiell Abweichende bietet keine Garantie personalen Verhaltens; deshalb kann er nicht als Bürger behandelt, sondern muß als Feind bekriegt werden. Dieser Krieg erfolgt mit einem legitimen Recht der Bürger und zwar mit ihrem Recht auf Sicherheit; er ist aber, anders als Strafe, nicht auch Recht am Bestraften, vielmehr ist der Feind exkludiert.

4. Die materiellrechtlichen gegenläufigen Tendenzen - Widerspruch versus Gefahrbeseitigung - finden eine Parallele im Verfahrensrecht.

5. Ein klar umrissenes Feindstrafrecht ist rechtsstaatlich weniger gefährlich als eine Durchmischung allen Strafrechts mit Einsprengseln feindstrafrechtlicher Regelungen.

6. Die internationale oder nationale Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen nach einem politischen Umbruch trägt feindstrafrechtliche Züge, ohne allein deswegen illegitim zu sein.


* Der hier für Deutschland erstmals publizierte Aufsatz ist ebenso bereits erschienen in "Foundations and Limits of Criminal Law and Criminal Procedure (Gedächtnisschrift Prof. Fu-Tseng-Hung, hrsgg. v. Yu-hsiu Hsu, Taipei 2003).

[1] Hauptsächlich - etwa zur Kontaktsperre siehe unten IV.

[2] Dazu Jakobs Norm, Person, Gesellschaft, 2. Auflage, 1999, S. 98 ff.

[3] Zu den Begriffen "Individuum" und "Person" Jakobs (Fn. 2) S. 9 ff, 29 ff.

[4] Erstmals Jakobs ZStW 97 S. 751 ff, 783 f; ders. in: Eser u.a. (Hrsg.) Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 47 ff, 51 ff; dazu Schulz ZStW 112 S. 653 ff, 659 ff; dagegen Eser aaO. (Die Deutsche Strafrechtswissenschaft) S. 437 ff, 444 f; Schünemann GA2001 S. 205 ff., 210 ff.

[5] Kant Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kant's Werke, Akademie-Ausgabe, Band 6, 1907, S. 203 ff, 231 (Einleitung in die Rechtslehre, § D).

[6] Rousseau Staat und Gesellschaft. "Contrat Social", übersetzt und kommentiert von Weigand, 1959, S. 33 (Zweites Buch, 5. Kapitel).

[7] Fichte Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Sämtliche Werke, hrsgg. von J. H. Fichte, Zweite Abtheilung, A. Zur Rechts- und Sittenlehre, Erster Band, o. J., S. 260.

[8] Wie Fn. 7.

[9] AaO. (Fn. 7) S. 260 ff. - Beiläufig: Ein Vertrag mit einem Vogelfreien, Rechtlosen?

[10] (Fn. 7) S. 278 f.

[11] (Fn. 7) S. 280.

[12] Siehe auch Kersting Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 95: "Der Fundamentalvertrag ist die Begriffsform, unter die die politische Empirie gebracht werden muß, um wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich zu sein; er stellt das Interpretationsraster dar, unter das geschichtliche Staatsgründungsvorgänge subsumiert werden müssen, um politisch begriffen werden zu können". - Ders. in: ders. (Hrsg.) Thomas Hobbes. Leviathan etc. (Klassiker Auslegen), 1996, S. 211 ff, 213 f.

[13] Hobbes Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsgg. von Fetscher, übersetzt von Euchner, 1984, S. 237 ff (28. Kapitel).

[14] Besser wäre: in der faktischen Aufhebung; - Institutionen lassen sich nicht kündigen.

[15] Hobbes (Fn. 13) S. 242 (28. Kapitel); ders. Vom Bürger, in: Gawlick (Hrsg.) Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, 1959, S. 233 (Kapitel 14, Absatz 22).

[16] Kant Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werke (Fn. 5) Band 8, S. 273 ff, 297; - dazu Kersting Philosophie (Fn. 12) S. 199 ff.

[17] Kant (Fn. 5) S. 255 f (1. Theil, 1. Hauptstück, § 8).

[18] Kant Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werke (Fn. 5) Band 8, S. 341 ff, 349 (2. Abschnitt, Fn.)

[19] Wenn es aaO. (Fn. 18) heißt, ich dürfe nur (aber immerhin doch) gegen den, der "mich schon tätig lädirt hat", "feindlich verfahren", so bezieht sich das auf ein Delikt im "bürgerlich-gesetzlichen Zustande", so daß "feindlich" die Übelszufügung gemäß dem Strafgesetz, nicht aber eine Entpersonalisierung charakterisiert.

[20] AaO. (Fn. 18) S. 349.

[21] Diese Aussage widerspricht freilich Kants Position zum Lügenproblem, bei dem Kant die Kontextabhängigkeit (scil. Gegenseitigkeit) praktizierter Personalität vernachlässigt: Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Werke (Fn. 5) Band 8 S. 421 ff. - Dazu Oberer in: Geismann und Oberer (Hrsg.) Kant und das Recht der Lüge, 1986, S. 7 ff; Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 89 ff; Annen Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. Ein Beitrag zur Ethik und zum Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1997, S. 97 ff.

[22] Grundlegend Isensee Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983.

[23] Der Zweck des Gehorsams ist der Schutz; Hobbes (Fn. 13) S. 171 (21. Kapitel); ders. (Fn. 15) S. 132 f (Kapitel 6 Abs. 3).

[24] (Fn. 13) S. 99 ff (14. Kapitel).

[25] Hobbes (Fn. 13) S. 99 (14. Kapitel).

[26] Siehe oben I.

[27] Siehe Fn. 3.

[28] Wie Fn. 17.

[29] Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29. 7. 1976, BGBl I S. 2034; Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15. 5. 1986, BGBl I S. 721.

[30] Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19. 12. 1986, BGBl I S. 2566.

[31] Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15. 7. 1999, BGBl I S. 1302.

[32] Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 1. 1998, BGBl I S. 160.

[33] Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994, BGBl I S. 3186.

[34] Kant wie Fn. 18.

[35] Jakobs ZStW 97 (Fn. 4) S. 751 ff.

[36] 3 bis 15 Jahre statt 5 bis 15 Jahre, §§ 30, 212, 49 StGB.

[37] Zum Versuch der Beteiligung, § 30 StGB, unten V.

[38] Eine gründlichere Auflistung gibt Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Auflage, 1998, § 18.

[39] Zu den Bedingungen einer Mitwirkungspflicht als Konsequenz der Personstellung grundlegend Pawlik GA 1998 S. 378 ff mit umfassenden Nachweisen. - Roxin (Fn. 38) ordnet die Notwendigkeit, "das Verfahren über sich ergehen zu lassen", dem Zwang zu. Dem ist zu widersprechen: Das Verfahren ist an sich der Weg zur Bereinigung der Situation durch personalen Umgang miteinander.

[40] Kant wie Fn. 18.

[41] Zur Geschichte des § 30 StGB siehe LK-Roxin (Jähnke u.a., Hrsg., StGB. Leipziger Kommentar. Großkommentar, 11. Auflage, 16. Lieferung, 1994) § 30 vor Rdn. 1.

[42] Obgleich allgemein die scharfe Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch für ein rechtsstaatliches Desiderat erster Klasse gehalten wird, fehlt eine kritische Betrachtung der Strafbarkeit der Verbrechensvorbereitung nach § 30 StGB, die - für Verbrechen bei Täterschaft und Anstiftung - die Bedeutung der Grenze marginalisiert, nahezu völlig; wiederum kritisch dazu Jakobs ZStW 97 (Fn. 4) S. 752.

[43] BT Drucksache 14/2682 S. 9 ff.

[44] Art. 1 des Gesetzes zur Einführung eines Völkerstrafgesetzbuches vom 26. 6. 2002, BGBl I S. 2254.

[45] Wie Fn. 18.