HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 382
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 597/24, Beschluss v. 08.01.2025, HRRS 2025 Nr. 382
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 19. April 2024 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt sowie eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts und eine Verfahrensbeanstandung gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der zur Tatzeit 22 Jahre alte Angeklagte, der im Haushalt seiner Mutter in O. lebte, Cannabis und Kokain konsumiert sowie ein diazepamhaltiges Medikament eingenommen, bevor er in der Nacht zum 14. Januar 2023 zwischen 1.00 Uhr und 2.00 Uhr das Haus verließ und durch O. lief. Gegen 2.10 Uhr betrat er das mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück der Eheleute E. und H. W. Der Angeklagte klingelte an der Haustür, wodurch E. W. erwachte. Sie öffnete die Terrassentür und rief in Richtung des Angeklagten, ob dort jemand sei, woraufhin dieser darum bat, ihre Toilette nutzen zu dürfen; dies lehnte sie ab, schloss die Terrassentür und weckte ihren Ehemann.
Nunmehr verschaffte sich der Angeklagte Zutritt zum Gebäude, indem er das etwa einen Meter über dem Erdboden befindliche Badezimmerfenster aufdrückte. Er maskierte sich, nahm ein Jagdmesser mit einer Klingenlänge von 13 Zentimetern in die Hand und gelangte über eine Treppe unbemerkt in den Wohnbereich. In der Diele traf er auf die Eheleute W. und bedrohte sie mit dem Jagdmesser. Auf ihre Frage, was er wolle, verlangte der Angeklagte, der spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluss gefasst hatte, mit ihrem Fahrzeug nach Eberswalde zu fahren, die Fahrzeugschlüssel. Alternativ schlug er ihnen vor, ihn nach Eberswalde zu fahren, wobei er sagte, dass sie keine Angst haben müssten, wenn sie täten, was er verlange. Die durch das Vorgehen des Angeklagten eingeschüchterten und verängstigten Eheleute lehnten dies ab und gaben ihm die Fahrzeugschlüssel. Nachdem H. W. auf sein Verlangen ein oberhalb des Carports gelegenes Gartentor geöffnet hatte, startete der Angeklagte das Fahrzeug, wozu er mehrere Versuche benötigte, weil es mit einem Schaltgetriebe ausgestattet war und er den Motor zunächst mehrmals „abwürgte“.
Er forderte die Eheleute auf, eine halbe Stunde zu warten, und sagte ihnen, dass sie danach tun könnten, was sie wollten, sie könnten dann sogar die Polizei rufen. Ferner kündigte er an, dass er das Fahrzeug in Eberswalde am Bahnhof abstellen werde. Anschließend verließ er das Grundstück mit dem Fahrzeug, wobei er nur langsam vorankam, weil zunächst noch die Handbremse aktiviert war. Er stellte es nach rund vier Kilometern am Straßenrand ab und ging zu Fuß weiter in Richtung Eberswalde.
Der Angeklagte wurde alsbald im Rahmen der von der Polizei eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen festgenommen und in eine Gewahrsamszelle gebracht. Dort drehte er nach einiger Zeit den Türspion der Zellentür von innen heraus. Nachdem er in eine andere Zelle gebracht worden war, wickelte er sich eine Decke um den Hals, zog an den Enden der Decke und bekam Atemnot.
b) Seine Annahme, dass der Angeklagte ungeachtet der zur Tatzeit bestehenden Mischintoxikation von Kokain, Cannabis und Diazepam uneingeschränkt schuldfähig war, hat das sachverständig nicht beratene Landgericht im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Angesichts des „koordinierten und komplexen Leistungsbildes“ in der Tatsituation könne eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ungeachtet des vorangegangenen Rauschmittelkonsums ausgeschlossen werden. Seine Interaktion mit den Eheleuten W. sei durchweg situationsadäquat und schlüssig gewesen. So sei er etwa in der Lage gewesen, die Haustürklingel zu betätigen, ein kurzes Gespräch mit E. W. zu führen und ihr einen schlüssigen Vorwand dafür zu nennen, ihn ins Haus zu lassen. Auf ihre ablehnende Antwort habe er situationsadäquat geantwortet. Ferner sei er in der Lage gewesen, sich unbemerkt Zutritt zum Haus zu verschaffen und in die Diele vorzudringen. Zuvor habe er sich eine Sturmhaube übergezogen und ein Jagdmesser bereitgehalten und sich damit im Kontext des unbefugten Eindringens in ein bewohntes Haus schlüssig verhalten. Auch im Zusammenhang mit der Nutzung des Fahrzeugs hätten sich keine Leistungsdefizite gezeigt, die auf eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen könnten. Seine Schwierigkeiten beim Starten und Führen des Fahrzeugs ließen sich darauf zurückführen, dass es ihm nicht vertraut und er deshalb mit dessen Steuerung überfordert gewesen sei. Unter Berücksichtigung des im Übrigen „koordinierten und komplexen Leistungsbildes“ gebe schließlich auch das Verhalten des Angeklagten im polizeilichen Gewahrsam keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung.
c) Diese Ausführungen erweisen sich als lückenhaft. Das Landgericht hat allein auf das koordinierte und situationsadäquate Vorgehen des Angeklagten abgestellt und nicht erkennbar bedacht, dass es bei der Steuerungsfähigkeit um die Fähigkeit geht, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen. Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden. Denn auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. August 2024 ? 5 StR 215/24, Rn. 13; vom 23. November 2022 - 4 StR 426/22, Rn. 16; vom 12. Mai 2022 - 5 StR 99/22, NJW 2022, 1966 Rn. 10, jeweils mwN).
Gemessen hieran hätte der Erörterung bedurft, ob die motivationale Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich beeinträchtigt war, weil Auffälligkeiten seines - wenngleich situationsadäquaten und geordneten - Verhaltens darauf hindeuten, dass er nicht mehr uneingeschränkt in der Lage war, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Willensentschluss zu bilden. So verhält es sich etwa im Hinblick darauf, dass er mitten in der Nacht bei den Eheleuten W. klingelte und E. W. zunächst unmaskiert gegenübertrat, um sich - wovon das Landgericht ausgegangen ist - unter einem Vorwand Zutritt zum Haus zu verschaffen. Gleiches gilt für den Umstand, dass er sich anschließend maskierte, eine schwerwiegende Straftat beging, um mit dem Fahrzeug der Eheleute W. nach Eberswalde zu fahren, und offen blieb, weshalb der in O. wohnhafte Angeklagte mitten in der Nacht dorthin wollte. Schließlich legt auch das Verhalten des Angeklagten im Polizeigewahrsam nahe, dass sein Hemmungsvermögen erheblich vermindert gewesen sein könnte.
d) Der Rechtsfehler lässt den Schuldspruch unberührt, weil auszuschließen ist, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben war (§ 20 StGB). Er führt zur Aufhebung des Strafausspruchs, weil nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beurteilung den Strafrahmen des § 250 Abs. 3 StGB gemäß den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert und eine niedrigere Strafe verhängt hätte.
2. Die Sache bedarf deshalb insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung, wobei es angesichts der Besonderheiten des Falles geboten erscheint, zur Beurteilung der Frage, ob der Angeklagte uneingeschränkt schuldfähig war, einen Sachverständigen hinzuzuziehen.
Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird auch erneut zu prüfen haben, ob eine Strafmilderung gemäß den §§ 46a, 49 Abs. 1 StGB in Betracht kommt. Die Annahme des Landgerichts, dass es ungeachtet der erheblichen Ausgleichsleistungen an dem erforderlichen kommunikativen Prozess fehle, weil der Angeklagte sich lediglich formal bei den Geschädigten entschuldigt habe und seine Erklärungen Ausdruck seiner „Selbstbezogenheit“ seien, entbehrt einer tragfähigen Begründung.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 382
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede