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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1147

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 203/25, Beschluss v. 25.06.2025, HRRS 2025 Nr. 1147


BGH 2 StR 203/25 - Beschluss vom 25. Juni 2025 (LG Kassel)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schuldfähigkeitsprüfung: widersprüchliche Beweiswürdigung, Einschätzung eines psychiatrischen Sachverständigen, Tatmotiv, fehlende Auseinandersetzung mit Gegenindizien); Verschlechterungsverbot (Aufhebung des Freispruchs bei Aufhebung der Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf die Revision des Angeklagten hin).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 261 StPO; § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Die Unterbringung erfordert darüber hinaus eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Unterzubringende infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist.

2. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

3. Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, ist prinzipiell mehrstufig zu prüfen. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen. Durch die psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Angeklagten bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen Unrechtseinsichtsfähigkeit oder der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 6. Januar 2025 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten hat mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen verletzte der langjährig an paranoider Schizophrenie mit im Vordergrund stehender Wahnsymptomatik in Form eines Verfolgungswahns mit Bedrohungserleben und eines Vergiftungswahns erkrankte Angeklagte am 28. Oktober 2022 im Waschraum einer Gemeinschaftsunterkunft einen Mitbewohner mit einem Messer. Die sachverständig beratene Strafkammer ist davon ausgegangen, dass die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen, krankheitsbedingt aufgehoben gewesen sei.

II.

Die Maßregelanordnung gemäß § 63 StGB hält der revisionsrechtlichen Überprüfung auf die Sachrüge nicht stand.

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Die Unterbringung erfordert darüber hinaus eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Unterzubringende infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395 Rn. 14; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 1. August 2018 - 5 StR 336/18, Rn. 7; vom 5. Februar 2020 - 2 StR 436/19, Rn. 5; vom 7. Mai 2020 - 4 StR 115/20, Rn. 5, und vom 3. September 2024 - 6 StR 155/24, Rn. 7).

2. Diesen Darlegungsanforderungen wird das angefochtene Urteil im Hinblick auf die Schuldfähigkeitsprüfung nicht gerecht.

a) Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, ist prinzipiell mehrstufig zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520 Rn. 7; Beschlüsse vom 14. Juli 2016 - 1 StR 285/16, Rn. 7; vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17, StV 2019, 232, 233, und vom 7. Mai 2020 - 4 StR 115/20, Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen. Durch die psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Angeklagten bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen Unrechtseinsichtsfähigkeit oder der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146; vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135; vom 7. Mai 2020 - 4 StR 115/20, Rn. 7, und vom 17. Januar 2024 - 4 StR 422/23, StV 2025, 382, 383).

b) Die Strafkammer hat sich der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, es sei aufgrund der produktiven psychotischen Wahnsymptomatik des Angeklagten „denkbar“ oder „vermutlich“ so, dass der Angeklagte sich durch sein späteres Opfer beeinträchtigt gefühlt oder die Ausgangssituation wahnhaft fehlinterpretiert habe. Das ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

aa) Diese Würdigung steht zum einen in einem durch die Urteilsgründe nicht aufgelösten Spannungsverhältnis zu der Feststellung des Landgerichts an anderer Stelle, der Angeklagte habe aus einem nicht feststellbaren Motiv unvermittelt auf den Nackenbereich des Geschädigten eingestochen.

bb) Zum anderen verfehlt die Erwägung den Maßstab der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) an die Anordnungsvoraussetzungen der Unterbringung. Dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bei der Anlasstat aufgehoben war, hat das Landgericht mit dieser Erwägung gerade nicht als zweifelsfrei festgestellt, sondern rechtsfehlerhaft als „denkbar“ oder „vermutlich“ offengelassen (vgl. zu ähnlich fehlerhaften Wendungen BGH, Beschlüsse vom 10. Dezember 2009 - 4 StR 437/09, Rn. 3 f.: „nicht ausschließbar“, und vom 13. Juni 2023 - 1 StR 136/23, Rn. 4: „mit einiger Wahrscheinlichkeit“). Die Feststellungslücke wird auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht geschlossen.

cc) Die Strafkammer versäumt es zudem, sich beweiswürdigend mit einer Reihe von Feststellungen auseinanderzusetzen, die der Annahme fehlender Unrechtseinsicht zuwiderlaufen. So zeigte der Angeklagte nur wenige Minuten nach der Tat selbst telefonisch bei der Polizei an, seinen Mitbewohner durch ein Messer verletzt zu haben. Sowohl gegenüber den darauf eintreffenden Polizeibeamten als auch bei seiner erkennungsdienstlichen Behandlung noch am selben Tag behauptete er keine Verfolgungs- oder andere Wahnrechtfertigung, sondern berief sich auf einen Streit um die Sauberkeit der Gemeinschaftsdusche. An dieser Schilderung einer durch einen Streit bedingten Tatmotivation hielt er auch in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht fest.

3. Die Anordnung der Maßregel beruht auf diesen Rechtsfehlern (§ 337 StPO); sie unterliegt mithin der Aufhebung. Zugleich hebt der Senat - wie auch auf Revision nur des Angeklagten veranlasst - den Freispruch mit auf. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten aufgehoben, hindert das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dadurch soll vermieden werden, dass die erfolgreiche Revision eines Angeklagten gegen die alleinige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dazu führt, dass eine Tat, die wegen angenommener Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB nicht zu einer Bestrafung geführt hat, ohne strafrechtliche Sanktion bleibt, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat schuldfähig war (BT-Drucks. 16/1344, S. 17). Dieses gesetzgeberische Ziel kann nur erreicht werden, wenn das Revisionsgericht in diesen Fällen nicht nur die auf rechtsfehlerhaften Feststellungen zur Schuldfähigkeit beruhende Maßregelanordnung, sondern auch den hierauf gestützten Freispruch aufhebt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2009 - 3 StR 369/09, Rn. 9; vom 14. September 2010 - 5 StR 229/10, NStZ-RR 2011, 320; vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, NStZ 2013, 424, und vom 30. Juli 2013 - 4 StR 275/13, Rn. 18; BeckOK-StPO/Wiedner, 56. Ed., § 358, Rn. 34).

4. Die Sache bedarf mithin insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen in Gänze auf, um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Das neue Tatgericht wird, naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen, bei der Entscheidung über die Schuld des Angeklagten und über die Anordnung einer Maßregel auch mögliche normalpsychologische Tatmotive in den Blick zu nehmen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1147

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede