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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 88

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 302/23, Beschluss v. 07.11.2023, HRRS 2024 Nr. 88


BGH 2 StR 302/23 - Beschluss vom 7. November 2023 (LG Frankfurt am Main)

Versuch (Mord; Totschlag; Rücktritt: Fehlschlag, Freiwilligkeit, Angst, Schock, vergleichbare seelische Erschütterung, Außerstandesein, Vornahme einer weiteren auf die Tatbestandsverwirklichung ausgerichteten Ausführungshandlung).

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 23 StGB; § 24 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein fehlgeschlagener Versuch oder ein unfreiwilliger Rücktritt vom Versuch dann anzunehmen, wenn der Täter meint, dass er den Erfolg theoretisch noch herbeiführen könnte, er sich jedoch infolge übermächtiger Angst, eines Schocks, einer psychischen Lähmung oder einer vergleichbaren seelischen Erschütterung praktisch außerstande sieht, eine weitere auf die Tatbestandsverwirklichung ausgerichtete Ausführungshandlung vorzunehmen.

2. Eine derartige psychische Beeinträchtigung des Angeklagten, bei der er nicht mehr „Herr seiner Entschlüsse“ gewesen wäre, wird indes nicht belegt, wenn der Angeklagte in der Lage war, seinen Bruder unter Einsatz eines Messers zu „befreien“, mit diesem zunächst zu flüchten und bis zu seiner Entwaffnung seine Verfolger auf Distanz zu halten. Dass er - nachvollziehbar - der Freiheit und Unversehrtheit des ihm sehr nahestehenden Bruders den Vorrang vor der Tötung seiner ihm unbekannten und aus nichtigem Anlass von ihm angegriffenen Gegner gab, schließt einen strafbefreienden Rücktritt vom Tötungsversuch nicht aus.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 8. März 2023 im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der gefährlichen Körperverletzung in drei Fällen schuldig ist.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. November 2017 zu einer Einheitsjugendstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt und ein näher bezeichnetes Messer eingezogen. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung unter Aufrechterhaltung der weitergehenden Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Taten zum Nachteil der Geschädigten N., L. und B. verurteilt worden ist, sowie im Strafausspruch. Im Umfang der Aufhebung hat der Senat die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die weitergehende Revision hat der Senat verworfen.

Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten in Verbindung mit dem in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung (zum Nachteil des Geschädigten A.) wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Taten zum Nachteil der Geschädigten N. und L.) sowie wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Tat zum Nachteil des Geschädigten B.) unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. November 2017 zu einer Einheitsjugendstrafe von sechs Jahren verurteilt und wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung einen Monat der Strafe für vollstreckt erklärt.

Die hiergegen gerichtete und mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg, im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Während die Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten N. keinen durchgreifenden Rechtsfehler aufweist, kann die Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil der Geschädigten L. und B. keinen Bestand haben. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei nicht strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten, erweist sich in diesen Fällen - anders als hinsichtlich des Geschädigten N. - als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

a) Die Annahme des Landgerichts wird von der Begründung, der Angeklagte habe „bei lebensnaher Gesamtwürdigung zur Überzeugung der Kammer allein aus diesem emotionalen Zwang zur Hilfe/Befreiung weitere Ausführungshandlungen gegenüber den Zeugen aufgegeben, da dem Angeklagten ein Weiterhandeln nur um den für ihn undenkbaren Verzicht auf die Befreiung des Bruders möglich gewesen wäre“, nicht getragen. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein fehlgeschlagener Versuch oder ein unfreiwilliger Rücktritt vom Versuch dann anzunehmen, wenn der Täter meint, dass er den Erfolg theoretisch noch herbeiführen könnte, er sich jedoch infolge übermächtiger Angst, eines Schocks, einer psychischen Lähmung oder einer vergleichbaren seelischen Erschütterung praktisch außerstande sieht, eine weitere auf die Tatbestandsverwirklichung ausgerichtete Ausführungshandlung vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 1994 - 1 StR 19/94, NStZ 1994, 428; Beschlüsse vom 13. Januar 1988 - 2 StR 665/87, NStZ 1988, 404, 405; vom 22. März 2012 - 4 StR 541/11, NStZ-RR 2012, 239, 240; vom 14. Februar 2023 - 4 StR 442/22, NStZ 2023, 599; MüKo-StGB/Hoffmann-Holland, 4. Aufl., § 24 Rn. 66, 107 mwN). Eine derartige psychische Beeinträchtigung des Angeklagten, bei der er nicht mehr „Herr seiner Entschlüsse“ gewesen wäre, wird indes - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegt hat - durch die Urteilsgründe nicht belegt. Der Angeklagte war nach den getroffenen Feststellungen vielmehr in der Lage, seinen Bruder unter Einsatz des Messers zu „befreien“, mit diesem zunächst zu flüchten und bis zu seiner Entwaffnung seine Verfolger auf Distanz zu halten. Dass er - nachvollziehbar - der Freiheit und Unversehrtheit des ihm sehr nahestehenden Bruders den Vorrang vor der Tötung seiner ihm unbekannten und aus nichtigem Anlass von ihm angegriffenen Gegner gab, schließt einen strafbefreienden Rücktritt vom Tötungsversuch nicht aus.

b) Hinsichtlich der Geschädigten L. und B. ist durch die Urteilsgründe - anders als hinsichtlich des Geschädigten N. - auch ein Fehlschlag der versuchten Delikte nicht belegt. Hinsichtlich des Geschädigten L. geht die Strafkammer vielmehr davon aus, dass ein Weiterhandeln des Angeklagten aufgrund der Gegenwehr des Geschädigten und des Zeugen O. „zumindest wesentlich eingeschränkt“ sei (UA 54, 85); dass dies „sogar ausgeschlossen“ war, hält das Landgericht zwar für möglich, stellt derlei aber nicht fest. Dass der Angeklagte, wie die Strafkammer annimmt, den Geschädigten B., obgleich neben dem auf den Bruder des Angeklagten einwirkenden A. stehend, nicht mehr wahrgenommen habe, als er seinem Bruder zu Hilfe eilte, wird durch die Urteilsgründe nicht nachvollziehbar belegt, insbesondere nicht dadurch, dass er der Hilfe für seinen Bruder den Vorrang vor einem weiteren Angriff auf den Geschädigten B. gegeben hat.

2. Der Rechtsfehler führt zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Korrektur des Schuldspruchs im Hinblick auf die Taten zum Nachteil der Geschädigten L. und B. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen liegen insoweit ? unter Außerachtlassung der rechtsfehlerhaften Annahme des Landgerichts ? die Voraussetzungen für einen strafbefreienden Rücktritt vor. Der Senat schließt aus, dass hierzu in einer neuen Verhandlung abweichende Feststellungen getroffen werden könnten, die eine Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdelikts trügen.

3. Der Strafausspruch hat gleichwohl Bestand. Der Senat kann ausschließen, dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Bewertung auf eine niedrigere Einheitsjugendstrafe gegen den Angeklagten erkannt hätte. Die maßgeblichen, auf den Erziehungsbedarf abstellenden Zumessungserwägungen des Landgerichts - die vorangegangene, nunmehr einbezogene Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags, sein Handeln unter laufender Bewährung und der heimtückische und massive Messereinsatz in der festgestellten Art und Weise gegenüber verschiedenen Personen, der nicht nur eine Missachtung und Rücksichtslosigkeit hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens dritter Personen zeigt, sondern auch die Überwindung hoher innerer Hindernisse erfordert - werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Angeklagten in zwei Fällen ein Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt zugutekommt (zur strafschärfenden Berücksichtigung von Umständen, die sich auf das Tatgeschehen insgesamt beziehen und den Unrechts- und Schuldgehalt auch des vollendeten Delikts charakterisieren (vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 1996 ? 3 StR 445/95, BGHSt 42, 43, 44 f.) und er sich „nur“ im Fall des Geschädigten N. des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 88

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede