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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 20

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 249/23, Urteil v. 02.11.2023, HRRS 2024 Nr. 20


BGH 3 StR 249/23 - Urteil vom 2. November 2023 (LG Duisburg)

Anforderungen an die Beweiswürdigung beim freisprechenden Urteil (Lückenhaftigkeit; Abweichen von Ausführungen eines Sachverständigen; Grad der Überzeugung; isolierte Bewertung von Indizien; Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Falls das Tatgericht eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe für erforderlich gehalten hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantwortet, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob es die Darlegungen des Sachverständigen zutreffend gewürdigt und aus ihnen rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit dessen Ausführungen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt.

2. Soweit eine regelmäßig erforderliche Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zukommenden Beweiswert vorzunehmen ist, kann die Annahme des Tatgerichts in den Urteilsgründen, dass ein einzelnes Indiz „für sich betrachtet“ keinen Tatbezug aufgewiesen habe, die Sorge begründen, dass es die an anderer Stelle genannte Gesamtschau lediglich formelhaft erwähnt und nicht die gebotene Gesamtbewertung vorgenommen hat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 5. Dezember 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte von den in der Anklageschrift unter 1 bis 135 sowie 137 bis 139 aufgeführten Vorwürfen freigesprochen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in acht Fällen, der Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, Körperverletzung und Beischlaf zwischen Verwandten, zweier Fälle der Vergewaltigung in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, des sexuellen Missbrauchs von Kindern, des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 125 Fällen, davon in 99 Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, des Beischlafs zwischen Verwandten (Tat 136 der Anklageschrift) und der Körperverletzung freigesprochen. Die Nebenklägerin beanstandet mit ihrer hiergegen gerichteten Revision die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat weitestgehend Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten liegt nach der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift im Wesentlichen Folgendes zur Last:

Er sei zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 28. Februar 2021 in einer Vielzahl von Fällen gegenüber seiner 1999 geborenen Tochter, der Nebenklägerin, sexuell übergriffig gewesen. Bei dem ersten Übergriff im Jahr 2012 habe er die damals Zwölfjährige dazu gebracht, seinen Penis anzufassen und mit der Zunge daran zu spielen (Tat 1). Im selben Jahr habe sie seinen Penis manipulieren (Tat 2) und den Oralverkehr an ihm ausüben müssen (Tat 3). Zu weiterem Oralverkehr sei es bei sechs anderen Gelegenheiten vor ihrem 14. Geburtstag (Taten 4 bis 9) und Ende des Jahres 2013 (Tat 10) gekommen. Ab Sommer 2015 habe er etwa zwei Mal monatlich bis zum Sommer 2016 anal mit ihr verkehrt (Taten 11 bis 35). Im Sommer 2016 habe er sie verprügelt und danach erstmals vaginal Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt, obwohl sie ihre Ablehnung geäußert habe (Tat 36). Seitdem sei es in mindestens 100 Fällen vor Erreichen ihres 18. Lebensjahres zu Vaginalverkehr gekommen (Taten 37 bis 135). Bei einem Geschlechtsverkehr Ende des Jahres 2017 seien der Angeklagte und die Nebenklägerin von seiner Lebensgefährtin überrascht worden (Tat 136). Am 31. Dezember 2020 habe er vaginalen Geschlechtsverkehr ausgeübt, obschon die Nebenklägerin geäußert habe, damit nicht einverstanden zu sein (Tat 137). Zum letzten nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr sei es etwa im Februar 2021 auf der Motorhaube seines Pkw gekommen (Tat 138). Ebenfalls Anfang 2021 habe er die Nebenklägerin an den Haaren gepackt und mit dem Kopf gegen ein Fenster gedrückt (Tat 139).

2. Das Landgericht hat Feststellungen zum Zusammenleben des Angeklagten mit der Nebenklägerin getroffen, sich aber nicht davon überzeugt, dass er sie im Tatzeitraum sexuell oder körperlich misshandelte und eine der angeklagten Taten beging. Es hat dies im Wesentlichen damit begründet, dass der Angeklagte die Taten in Abrede gestellt habe, es keine Tatzeugen außer der Nebenklägerin gebe und diese unglaubwürdig sei sowie ihre Bekundungen unglaubhaft seien. Ihre Aussage in der Hauptverhandlung zum sexuellen Missbrauch weise erhebliche - in den Urteilsgründen im Einzelnen dargelegte - Abweichungen zu den zuvor weitgehend konstanten Angaben auf. Zwar habe die psychologische Sachverständige die Aussage aus gedächtnispsychologischer Sicht als erlebnisbasiert und glaubhaft eingestuft. Allerdings sei ihre Bewertung nicht nachvollziehbar, bei sämtlichen in der Hauptverhandlung zutage getretenen Abweichungen handele es sich um inkonsistente Details oder durch generische Erinnerungsbilder erklärbare Ungenauigkeiten.

Etwas anderes ergebe sich nicht daraus, dass die Lebensgefährtin des Angeklagten im Jahr 2017 unerwartet dazu kam, als er tagsüber mit entkleidetem Oberkörper im abgedunkelten Wohnzimmer stand und sich die vollständig bekleidete Nebenklägerin in ihr Zimmer begab. Dies lasse „für sich betrachtet nicht zwingend“ auf die Anbahnung sexueller Handlungen schließen. Dass die Nebenklägerin laut Aussage der Lebensgefährtin während des gemeinsamen Zusammenlebens ein „blaues Auge“ aufwies, lasse „nicht den zweifelsfreien Schluss“ auf eine Verletzung durch den Angeklagten zu. Auch das Auffinden eines Schwangerschaftstestes im Kleiderschrank der damals - ihre Freizeit nahezu ausschließlich in der Wohnung des Angeklagten verbringenden - 18-jährigen Nebenklägerin ermögliche nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Überzeugung den Rückschluss auf sexuellen Verkehr mit dem Angeklagten.

II.

Die Revision der Nebenklägerin ist in geringem Umfang - hinsichtlich Tat 136 der Anklage - unzulässig und im verbleibenden Teil begründet.

1. Das Rechtsmittel der Nebenklägerin ist unbeschränkt eingelegt und begehrt ausdrücklich eine „umfassende Nachprüfung in sachlichrechtlicher Hinsicht“. Es ist gemäß § 400 Abs. 1, § 401 Abs. 1 Satz 1, § 395 Abs. 1 StPO lediglich insoweit zulässig, als der Angeklagte von dem Vorwurf sie betreffender nebenklagefähiger Delikte freigesprochen worden ist. Insofern ergibt sich aus der Revisionsbegründung, dass die Beschwerdeführerin mit der Sachrüge einen Schuldspruch wegen Nebenklagedelikten und somit ein zulässiges Anfechtungsziel anstrebt (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2022 - 2 StR 442/21, NStZ-RR 2022, 213, 214; KK-StPO/Allgayer, 9. Aufl., § 400 Rn. 3). Ein solches zeigt die Revision hingegen nicht auf, soweit dem Angeklagten bei Tat 136 ausschließlich ein Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 Abs. 1 StGB) zur Last liegt. Hierbei handelt es sich nicht um ein Delikt, das nach § 395 Abs. 1 und 3 StPO zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt. Dass in Bezug auf den konkreten Lebenssachverhalt die Verurteilung wegen einer nebenklagefähigen Straftat begehrt wird, folgt aus der Rechtsmittelbegründung nicht.

2. Der Freispruch hält in dem Umfang, in dem er der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt, dieser nicht stand; denn die vom Landgericht in den Urteilsgründen niedergelegte Beweiswürdigung ist nicht ohne Rechtsfehler.

a) Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es auf der Grundlage einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls Zweifel an den Taten nicht zu überwinden vermag, so hat das Revisionsgericht dies grundsätzlich hinzunehmen; denn die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm bei der Beweiswürdigung ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlich rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt oder erkennen lässt, dass das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Überzeugung gestellt hat. Liegt ein Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre. Gleichermaßen Sache des Tatgerichts ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen be- und entlastenden Indizien zu bewerten. Das Revisionsgericht ist insoweit auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt und nicht befugt, auf der Grundlage einer abweichenden Beurteilung der Bedeutung der Indiztatsachen in dessen Überzeugungsbildung einzugreifen (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 15. Dezember 2021 - 3 StR 441/20, StV 2022, 486 Rn. 23 mwN).

b) Hieran gemessen kann der Freispruch keinen Bestand haben. Die Beweiswürdigung ist hinsichtlich der Angaben der psychologischen Sachverständigen lückenhaft, weil diese nicht in nachvollziehbarer Weise dargestellt sind.

Falls das Tatgericht eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe für erforderlich gehalten hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantwortet, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob es die Darlegungen des Sachverständigen zutreffend gewürdigt und aus ihnen rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit dessen Ausführungen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Oktober 2017 - 3 StR 368/17, juris Rn. 11; vom 17. Januar 2023 - 5 StR 525/22, juris Rn. 16; Urteile vom 14. September 2017 - 4 StR 45/17, StV 2018, 199 Rn. 10; vom 28. Mai 2018 - 1 StR 51/18, NStZ-RR 2018, 275, 276, jeweils mwN).

Das Landgericht hat die Einschätzung der Sachverständigen, die Zeugenaussage der Nebenklägerin sei aus gedächtnispsychologischer Sicht als erlebnisbasiert und glaubhaft einzustufen, nicht geteilt. Es hat es indes unterlassen, die Angaben der Sachverständigen in einer Weise zu vermitteln, die dem vorgenannten Maßstab genügt. Es hat das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten weder im Zusammenhang wiedergegeben noch in einer anderen Form, welche dessen vollständige Erfassung ermöglicht. Die Darstellung in den Urteilsgründen bezieht sich vielmehr im Wesentlichen auf die Erklärungen der Sachverständigen für Inkonstanzen der Zeugenaussage. Die Gesichtspunkte, welche die Sachverständige als für den Erlebnisbezug maßgeblich angesehen hat, werden demgegenüber nicht mitgeteilt. Ohne deren Kenntnis ist es hier nicht möglich, die Gewichtung der aus sachverständiger Sicht für und gegen die Glaubhaftigkeit sprechenden Argumente nachzuvollziehen. Zudem ist den Ausführungen in den Urteilsgründen, dass sich die Sachverständige nicht mit in der Hauptverhandlung zutage getretenen Abweichungen dezidiert auseinandergesetzt habe, nicht zu entnehmen, ob sich die Sachverständige dazu etwa durch konkrete Nachfragen veranlasst gesehen, aber auf nähere Ausführungen verzichtet oder lediglich im Rahmen der Gutachtenerstattung eine Vertiefung für entbehrlich gehalten hat, ohne dass Nachfragen Anlass zu weiterer Darlegung gegeben haben.

c) Demnach kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass die Beweiswürdigung noch in anderer Hinsicht Bedenken begegnet.

aa) Dass das Landgericht dem durch die Lebensgefährtin des Angeklagten beobachteten Geschehen im Jahr 2017 (vgl. dazu oben unter I. 2.) mit der Begründung keine Bedeutung beigemessen hat, dies lasse „für sich betrachtet nicht zwingend“ auf die Anbahnung sexueller Handlungen schließen, deutet auf einen unzutreffenden Beurteilungsmaßstab hin; denn die Überzeugung des Tatgerichts von einem bestimmten Sachverhalt erfordert keine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Es genügt vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt; „zwingend“ muss ein Beweisergebnis nicht sein (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 240; vom 1. August 2018 - 3 StR 651/17, juris Rn. 43; vom 6. Juli 2022 - 2 StR 50/21, NStZ 2023, 494 Rn. 36; vom 30. November 2022 - 6 StR 243/22, NStZ-RR 2023, 59, 60).

bb) Zudem ist eine erforderliche Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zukommenden Beweiswert vorzunehmen (vgl. etwa BGH, Urteile vom 26. Mai 1999 - 3 StR 110/99, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20; vom 11. Oktober 2016 - 5 StR 181/16, NStZ 2017, 600, 601; vom 15. Dezember 2021 - 3 StR 441/20, StV 2022, 486 Rn. 24 mwN). Soweit das Landgericht dem genannten Vorfall aus dem Jahr 2017 ausdrücklich „für sich betrachtet“ keine tatbezogene Bedeutung beigemessen hat, ist zu besorgen, dass es die an anderer Stelle genannte Gesamtschau lediglich formelhaft erwähnt und nicht die gebotene Gesamtbewertung vorgenommen hat. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass es sich in diesem Rahmen nicht mit den an anderer Stelle genannten Angaben einer Halbschwester der Nebenklägerin auseinandergesetzt hat, die Nebenklägerin habe mit dem Angeklagten „komisch kuscheln“ und „auf ihm drauf liegen“ müssen (vgl. zur Indizwirkung einer „fragwürdig anmutenden“ Szene BGH, Urteil vom 31. August 2023 - 4 StR 435/22, juris Rn. 9).

cc) Im Übrigen hat das Landgericht dasjenige Tatgeschehen nicht mitgeteilt, das einer Verurteilung des Angeklagten aus dem Jahr 2014 wegen Körperverletzung in zwei Fällen zugrunde liegt. Somit bleibt nach den Urteilsgründen offen, inwieweit die - in Bezug auf den Vorwurf der Körperverletzung - einschlägigen Delikte Aufschluss über die Täterpersönlichkeit geben und in die Beweiswürdigung einzustellen sein könnten (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2021 - 3 StR 183/20, NStZ 2022, 509 Rn. 8 mwN).

3. Danach bedarf die Sache, abgesehen von dem Tatvorwurf unter Nr. 136 der Anklageschrift, insgesamt einer neuen tatgerichtlichen Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 20

Bearbeiter: Fabian Afshar