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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 484

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 325/23, Beschluss v. 15.03.2023, HRRS 2023 Nr. 484


BVerfG 2 BvR 325/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. März 2023 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Auslieferung nach Polen (Abwesenheitsurteil auf Grundlage einer Verfahrensverständigung; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis der Anhörungsrüge auch bei Geltendmachung eines anderen Grundrechtsverstoßes; Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bei fehlender Bescheidung des Kerns des Parteivorbringens).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 77 Abs. 1 IRG; § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Polen für zulässig erklärt wird, verletzt den Verfolgten in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn die Beschlussgründe auf den Kern seines Vorbringens nicht eingehen, wonach es ein Auslieferungshindernis begründe, dass das dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende polnische Strafurteil - wenngleich diesem eine mit der Staatsanwaltschaft getroffene Verfahrensabsprache zugrunde lag - in seiner Abwesenheit ergangen ist.

2. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Entscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will, durch die Anhörungsrüge aber die Möglichkeit wahrt, dass damit auch die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden.

3. Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern.

4. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht seiner aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Verpflichtung, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nachgekommen ist, auch wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich damit befasst. Schweigt eine Entscheidung jedoch zum Kern des Parteivorbringens, der für den Verfahrensausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, so lässt dies den Schluss zu, dass der Vortrag nicht beachtet worden ist.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG liegen nicht vor.

1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>). Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben hat eine einstweilige Anordnung zu unterbleiben, weil die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobene Verfassungsbeschwerde - nach derzeitigem Stand - unzulässig ist. Sie genügt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität.

a) Dieser in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz verlangt, dass der Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 134, 106 <115 Rn. 27>). Das kann auch bedeuten, dass er zur Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes gehalten ist, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, selbst dann anzugreifen, wenn er im Rahmen der ihm insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will (vgl. BVerfGE 126, 1 <17>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahrt, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die er sich beschwert fühlt, beseitigt werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfGK 19, 23 <24 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 2169/13 u.a. -, Rn. 2; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2016 - 2 BvR 544/16 -, Rn. 4). Denn die Dispositionsfreiheit des Beschwerdeführers enthebt ihn nicht ohne Weiteres der Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes; als Voraussetzung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist dieser der Verfügungsmacht des Beschwerdeführers entzogen (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>).

b) Ausgehend hiervon hat der Beschwerdeführer nicht alle prozessualen Möglichkeiten ergriffen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Verfahren zu beseitigen. Er hat - jedenfalls bislang - keine Anhörungsrüge gemäß § 77 Abs. 1 IRG in Verbindung mit § 33a StPO erhoben (vgl. ferner zur Möglichkeit, eine Verletzung rechtlichen Gehörs auch im Rahmen eines Antrags nach § 33 IRG geltend zu machen: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2. Juni 2010 - 1 AK 23/10 -, juris, Rn. 5; Böhm, in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 33 IRG Rn. 19 <Juli 2011>; Riegel, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, § 33 IRG Rn. 16; Köberer, in: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl. 2020, § 33 IRG Rn. 433; s. ferner auch schon BGHSt 11, 288 <291 f.>), obgleich viel dafür spricht, dass der angegriffene Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 107, 395 <409>). Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210 ff.>; 64, 135 <143>; 65, 227 <234>; 86, 133 <144>; stRspr). Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet auch, dass das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss (vgl. BVerfGE 21, 191 <194>; 96, 205 <216>; stRspr). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Nur dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BVerfGE 25, 137 <140 f.>; 85, 386 <404>; 96, 205 <216 f.>; stRspr).

Zwar hat das Gericht bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit und kann sich auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken, ohne dass darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt. Wenn aber ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen (vgl. BVerfGE 47, 182 <188 f.>; 86, 133 <146>). Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht beachtet worden ist.

bb) Ausgehend hiervon dürfte die angegriffene Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, weil das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht den Kern seines Parteivorbringens betreffend die Frage, ob seine Abwesenheit bei der Gerichtsverhandlung vor dem Amtsgericht in Olawa am 3. April 2019 ein Auslieferungshindernis darstellt, ausweislich der Entscheidungsgründe nicht erwogen hat.

Dies gilt zunächst, soweit das Oberlandesgericht angenommen hat, die Verurteilung in Abwesenheit mache die Auslieferung nicht unzulässig, weil die polnischen Behörden mitgeteilt hätten, die Verurteilung habe auf einer Absprache zwischen dem Beschwerdeführer und der Staatsanwaltschaft beruht, sodass er gewusst habe, dass er in der nachfolgenden Gerichtsverhandlung absprachegemäß verurteilt werde, wenn er nicht erscheine. Der Sache nach geht das Oberlandesgericht insoweit offenbar davon aus, bei einer Verfahrensabsprache zwischen einem Verfolgten und der Staatsanwaltschaft nach Art. 335 der polnischen Strafprozessordnung könne es nicht zu einem der Auslieferung entgegenstehenden Abwesenheitsurteil im Sinne des § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG kommen. Dieser Rechtsauffassung hat der Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren allerdings ausdrücklich widersprochen und auf die seine Auffassung stützende Rechtsprechung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen hingewiesen. Letzteres ist davon ausgegangen, ein Abwesenheitsurteil im Sinne des § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG liege auch dann vor, wenn der Verfolgte zu der Sitzung, die das Gericht in Ansehung einer Verfahrensabsprache zwischen Staatsanwaltschaft und Verfolgtem gemäß Art. 335 der polnischen Strafprozessordnung anberaumt hat, nicht erscheint und ein Urteil entsprechend der Absprache ergeht (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 18. Juni 2020 - 1 AuslA 5/20 -, juris, Rn. 21 ff.). Hiermit hätte sich das Oberlandesgericht auseinandersetzen müssen.

Soweit sich das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht darüber hinaus auf den Standpunkt gestellt hat, die polnischen Behörden hätten dem Beschwerdeführer die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens zugesichert, hat es den Kern seines Vorbringens ebenfalls nicht erkennbar erwogen. Auch insoweit hat der Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren unter Auseinandersetzung mit den Regelungen des polnischen Wiederaufnahmerechts umfangreiche rechtliche Ausführungen gemacht und seinem Standpunkt unter Verweis auf verfassungs- und obergerichtliche Rechtsprechung sowie Stimmen im Schrifttum (BVerfGE 140, 317; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Januar 2011 - 1 AK 51/10 -, juris; Hackner, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, § 83 IRG Rn. 24) Nachdruck verliehen. Zu alledem verhält sich das Oberlandesgericht nicht. Dies legt den Schluss nahe, dass es den Vortrag des Beschwerdeführers nicht beachtet hat.

Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 23. Februar 2023 dürfte auch auf diesem Gehörsverstoß beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht, hätte es die Rechtsauffassung des Beschwerdeführers zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen, zu einem anderen, ihm günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

c) Zwar steht die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>; 134, 106 <115 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 - 1 BvR 37/15 -, Rn. 4 f.). Vorliegend war und ist es dem Beschwerdeführer allerdings zuzumuten, eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs zunächst gegenüber dem Fachgericht geltend zu machen. Dies gilt umso mehr, als sich dem Beschwerdeführer nach Erhebung einer Gehörsrüge grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, im Fall einer für zulässig erklärten und bewilligten Auslieferung, deren Durchführung unmittelbar erfolgen kann, erforderlichenfalls wiederum um verfassungsgerichtlichen (Eil)Rechtsschutz nachzusuchen. Das Abwarten einer Entscheidung über einen entsprechenden Antrag kann sich nämlich als unzumutbar im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erweisen (vgl. für einen Antrag nach § 33 IRG BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. 26).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 484

Bearbeiter: Holger Mann