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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 466

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 412/22, Beschluss v. 04.01.2023, HRRS 2023 Nr. 466


BGH 5 StR 412/22 - Beschluss vom 4. Januar 2023 (LG Dresden)

Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung wegen nicht hinreichend gewährter Akteneinsicht.

§ 338 Nr. 8 StPO; § 344 Abs. 2 S. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO sind neben der geltend gemachten Beeinträchtigung der Rechte des Angeklagten die konkreten Umstände im Einzelnen anzugeben, aus denen sich eine wesentliche Beschränkung der Verteidigung ergibt. Die bloße Mitteilung der Beschlusslage durch den Beschwerdeführer genügt insoweit nicht. Wird die Rüge mit der Stoßrichtung erhoben, dass der Verteidigung die Einsicht in Akten nicht hinreichend gewährt worden sei, erfordert dies jedenfalls die Darstellung des Verfahrensgangs unter Mitteilung der konkreten zeitlichen und sonstigen Umstände, aus denen sich ergibt, warum die der Verteidigung zur Verfügung stehende Zeit zur Datensichtung nicht ausgereicht haben sollte.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 8. April 2022 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine auf die Sachrüge und Verfahrensrügen gestützte Revision bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

1. Soweit die vom Angeklagten erhobene Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt (§ 338 Nr. 8 StPO) mit der Stoßrichtung erhoben worden ist, dass sein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, hilfsweise dessen Unterbrechung bis zur Gewährung von Akteneinsicht in die von seinem Verteidiger beantragte Beiziehung der „Rohdaten“ von Chats und zugehörigen Bild-Dateien des Landeskriminalamts Sachsen abgelehnt oder das Verfahren nicht von Amts wegen ausgesetzt worden ist, erweist sie sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

aa) In der Hauptverhandlung vom 25. Januar 2022 erklärte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, es sei eine Möglichkeit der Einsichtnahme in die beim Landeskriminalamt vorhandenen Daten der Encro-Chat-Kommunikation im Zusammenhang mit dem angeklagten Tatkomplex in den Räumlichkeiten des Landeskriminalamts Sachsen geschaffen worden. Hierüber habe er den Verteidiger per E-Mail unterrichtet. Der daraufhin geäußerten Annahme des Strafkammervorsitzenden, damit sei dem Begehren der Verteidigung entsprochen worden, diese möge nunmehr zeitnah mit dem Landeskriminalamt Kontakt aufnehmen, trat der Verteidiger des Angeklagten entgegen und verlangte, dass ihm die Daten (auf DVD) gespeichert überlassen werden sollten. Der Vorsitzende lehnte dies unter anderem mit dem Hinweis ab, dass die von der Verteidigung angezweifelte Datenintegrität doch am besten am „Ursprung der Quelle“ zu prüfen sei.

Der Verteidiger des Angeklagten stellte daraufhin den Antrag, eine Sicherung der beim Landeskriminalamt Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ zu den vorhandenen Protokollen der Chats und den darin vorhandenen Bilddateien bestimmter EncroChat-Nutzer auf CD oder DVD zur Gerichtsakte beizuziehen, der Verteidigung Akteneinsicht in diese „Rohdaten“ zu gewähren sowie das Verfahren bis zur Gewährung der Akteneinsicht auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, um ausreichend Zeit zur Prüfung der „Original-(Roh-)daten“ zu haben.

In der Hauptverhandlung vom 8. Februar 2022 erklärte der Verteidiger, dass er inzwischen beim Landeskriminalamt Akteneinsicht genommen habe, sich aber nur einen groben Überblick habe verschaffen können, da der Umfang von circa 18.000 Nachrichten zu groß gewesen sei, um diese in einer angemessenen Zeit „abschreiben“ zu können. Im Anschluss an die Erklärung beantragte er, den Zeugen J. vom Landeskriminalamt (erneut) als Zeuge zum Beweis der Tatsache des von ihm mitgeteilten Umfangs der gespeicherten Nachrichten und darüber hinaus zu bestimmten, im Einzelnen zitierten Chatnachrichten zu vernehmen. Zudem sollte dem Angeklagten ein gegen Missbrauch gesichertes Notebook zum Zwecke der Durchsicht der beim Landeskriminalamt Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ bestimmter EncroChat-Nutzer zur Verfügung gestellt und die Nutzung im Haftraum gestattet werden, hilfsweise seine Ausführung über einen Zeitraum von zunächst vier Tagen für jeweils sechs Stunden, da nur so seine ausreichende Information über die Chatinhalte realisierbar sei.

Den Antrag auf Beiziehung der „Rohdaten“ inklusive vorhandener Bild-Dateien sowie die Anträge auf Gewährung von Akteneinsicht und Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens lehnte die Strafkammer mit Beschluss vom 8. Februar 2022 ab. Die Aufklärungspflicht gebiete nicht die Beiziehung der Daten und Gewährung von Akteneinsicht. Der in § 147 Abs. 1 StPO geregelte Aktenbegriff erfasse die dem Gericht vorliegenden oder mit der Anklageschrift vorzulegenden Akten, die in Fortführung der Ermittlungsakten nach Anklageerhebung entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten. Ein Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes begründe diese Vorschrift dagegen nicht. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die seitens der Staatsanwaltschaft vorgelegte Akte unvollständig sei. Ein Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, deren Beiziehung durch das Gericht unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet werde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18), sei dem Verteidiger durch die Möglichkeit der Einsichtnahme beim Landeskriminalamt eingeräumt worden.

Die in der Hauptverhandlung vom 8. Februar 2022 gestellten Anträge lehnte die Strafkammer mit Beschluss vom 23. Februar 2022 ab.

bb) Der Beschwerdeführer rügt, die Strafkammer habe rechtswidrig die beantragte Aussetzung des Verfahrens unterlassen (§ 265 Abs. 4 StPO). Sie habe nicht geprüft, wieviel Zeit die Verteidigung angesichts der Größe des zu sichtenden Datenbestands für die Realisierung ihres Informationsgewinnungsanspruchs benötigen würde. Die umfangreichen Daten seien nicht übergeben worden. Auch habe der Verteidiger keine Gelegenheit erhalten, diese gemeinsam mit dem Angeklagten zu sichten. Für ein Abschreiben der etwa 18.000 Kommunikationsvorgänge habe die Zeit nicht gereicht. Es sei zudem mit Blick auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Fürsorgepflichten des Gerichts „nicht einzusehen“, dass die Verteidigung sich angesichts der bestehenden Infektionsgefahr Tage und Stunden zu auswärtigen Behördenterminen hätte begeben sollen.

b) Die Rüge ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz StPO): Es fehlt an der notwendigen Darstellung des Verfahrensgangs unter Mitteilung der konkreten zeitlichen und sonstigen Umstände, aus denen sich ergibt, warum die der Verteidigung zur Verfügung stehende Zeit zur Datensichtung nicht ausgereicht haben sollte (Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 114; MüKoStPO/Norouzi, 1. Aufl., § 265 Rn. 77; BeckOK StPO/Eschelbach, 46. Ed., StPO § 265 Rn. 87). Denn mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO sind neben der geltend gemachten Beeinträchtigung der Rechte des Angeklagten die konkreten Umstände im Einzelnen anzugeben, aus denen sich eine wesentliche Beschränkung der Verteidigung ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 1997 - 1 StR 483/97, NStZ 1998, 311 f.; KKStPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 104). Die bloße Mitteilung der Beschlusslage durch den Beschwerdeführer genügt insoweit nicht.

Insoweit verhält sich die Revisionsbegründung schon nicht dazu, ob die Verteidigung durchgehend im Rahmen des Zumutbaren von der ihr jedenfalls seit dem 25. Januar 2022 eröffneten Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Datenbestände beim Landeskriminalamt Sachsen - bis zur Urteilsverkündung vergingen zweieinhalb Monate - Gebrauch gemacht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 - 1 StR 355/13). Ausweislich des vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweisantrags vom 8. Februar 2022 hatte dieser (nur) am 25. Januar 2022 Einsicht in den Datenbestand genommen und einzelne Chatinhalte hieraus zitiert.

Schließlich bleibt völlig offen, ob und wenn ja welche Bemühungen die Verteidigung während der Urteilsabsetzung und dem Lauf der Revisionsbegründungsfrist unternommen hat, um Einsicht in die aus ihrer Sicht vorenthaltenen Datenbestände zu erlangen (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 11. November 2004 - 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 328; vom 23. Februar 2010 - 4 StR 599/09, NStZ 2010, 530, 531; vom 5. August 2015 - 5 StR 276/15 Rn. 10; Urteil vom 29. Oktober 2021 - 5 StR 443/19, NZWiSt 2022, 326, 329). Eine Pflicht zu entsprechendem Vortrag besteht sowohl, wenn eine unterbliebene Gewährung von Akteneinsicht geltend gemacht wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. November 2004 - 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 328; vom 5. August 2015 - 5 StR 276/15 Rn. 10), als auch, wenn in der unterbliebenen Beiziehung verfahrensfremder Unterlagen ein Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht erblickt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2022 - 5 StR 191/22; NStZ 2023, 116). Nichts anderes kann gelten, wenn - wie hier - die unterlassene Beiziehung zwar nicht beanstandet, aber ein Verstoß gegen einen unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Informationsgewinnungsanspruch behauptet wird.

2. Die Sachrüge zeigt keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Dies gilt auch hinsichtlich des Umstandes, dass das Landgericht in den Fällen II.6 bis II.9 nicht erörtert hat, ob die als rechtlich selbständige Taten bewerteten Handlungen zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen gewesen wären.

Dabei ist es nicht geboten, festgestellte Einzelverkäufe zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen, nur weil die nicht näher konkretisierte Möglichkeit besteht, dass sie ganz oder teilweise aus einem Verkaufsvorrat stammen (BGH, Urteil vom 18. Juli 2018 - 5 StR 547/17 Rn. 12 mwN). Auch der Zweifelssatz gebietet eine willkürliche Zusammenfassung ohne ausreichende Tatsachengrundlage nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. Mai 2019 - 4 StR 417/18; vom 12. Januar 2016 - 3 StR 467/15).

Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die vom Angeklagten unterstützten Betäubungsmittelgeschäfte in den Fällen II.7 bis II.9 aus der im Fall II.6 angekauften Gesamtmenge stammten, bestanden angesichts der hier vorliegenden Größenordnung des Betäubungsmittelhandels nicht. Die zeitlichen Abstände zwischen der Erwerbshandlung und den festgestellten Verkaufshandlungen von einer Woche (Fall II.7), annähernd drei Wochen (Fall II.8) und sieben Monaten (Fall II. 9) begründeten keinen derart engen Zusammenhang, der für sich genommen die Annahme einer Bewertungseinheit nahelegen könnte. Auch ein enger räumlicher Zusammenhang ist nicht ersichtlich. Dieser ergibt sich jedenfalls nicht allein aus dem Umstand, dass der Angeklagte als Depothalter für den gesondert Verfolgten R. fungierte und die von diesem erworbenen Betäubungsmittel im Fall II.6 durch einen Kurier an die Wohnanschrift des Angeklagten geliefert wurden.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 466

Bearbeiter: Christian Becker