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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 382

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 189/22, Beschluss v. 27.09.2022, HRRS 2023 Nr. 382


BGH 2 ARs 189/22 - Beschluss vom 27. September 2022 (OLG Frankfurt am Main)

BGHR; Auslieferungsverfahren (örtliche Zuständigkeit: Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht, europäischer Haftbefehl, Ergreifung des Verfolgten, aktueller Aufenthalt des Verfolgten, Prioritätsprinzip, Befasstsein, einvernehmlich Übernahme, abschließende Spezialregelung, vorläufige Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung, keine Erledigung des Auslieferungsverfahrens, unzureichende Haftbedingungen, Zwischenentscheidung, Kontinuität und Einheit des Auslieferungsverfahrens).

§ 14 IRG; § 14 StPO

Leitsatz

Die örtliche Zuständigkeit des zur Entscheidung über ein Auslieferungsverfahren zum Zwecke der Strafverfolgung berufenen Oberlandesgerichts besteht auch dann fort, wenn dieses wegen unzureichender Haftbedingungen die Auslieferung für unzulässig erklärt und der ersuchende Staat nachfolgend - bei Fortbestehen des dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden Europäischen Haftbefehls - neue Zusicherungen in Bezug auf die von dem Verfolgten zu erwartenden Haftbedingungen erteilt hat. (BGHR)

Entscheidungstenor

Zuständig für die Entscheidung ist gemäß § 14 Abs. 1 IRG das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

Gründe

Die Vorlage betriftt die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichtes im Verfahren über die Auslieferung des Verfolgten (§ 14 IRG).

I.

1. Dem Auslieferungsverfahren liegt, soweit es für die örtliche Zuständigkeit nach § 14 IRG von Bedeutung ist, folgender Verfahrensgang zu Grunde:

Die rumänischen Behörden ersuchen auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Landgerichts in Timis vom 13. Januar 2017 (Az.: 8905/30/2015) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung. Ausweislich dieses Haftbefehls ist der Verfolgte durch Urteil des Landgerichts in Timis vom 9. August 2016 in Verbindung mit dem Urteil des Berufungsgerichts in Timisoara vom 17. November 2016 unter anderem wegen Zuhälterei rechtskräftig zu einer noch vollständig zu verbüßenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden.

a) Nachdem der Verfolgte, der aufgrund des Europäischen Haftbefehls vom 13. Januar 2017 im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben ist, am 11. März 2017 bei Pfungstadt in der Gemarkung Rolandshöhe auf der Bundesautobahn A 5 ergriffen wroden war, hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 21. März 2017 gegen ihn die Auslieferungshaft angeordnet. Mit Beschluss vom 17. August 2017 hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main unter erneuter Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft die Auslieferung für zulässig erklärt, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 29. August 2017 diese bewilligt hat. Sie erfolgte unter dem Vorbehalt, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe in einer Haftanstalt verbüßt wird, die den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 und den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen / Mindestgrundsätzen für die Behandlung Gefangener vom 11. Januar 2006 entspricht, dass der Verfolgte in diesem Gefängnis verbleibt oder in ein Gefängnis verlegt wird, das die gleichen Verhältnisse und Bedingungen aufweist, und dass der deutschen Botschaft jederzeit kurzfristig Gelegenheit gegeben wird, durch einen Mitarbeiter den Verfolgten zu besuchen, um sich über die vorherrschenden Verhältnisse zu informieren.

Am 12. September 2017 hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main die Bewilligungsnote vom 29. August 2017 aufgehoben, weil sich aus einem Schreiben der nationalen Verwaltung der Justizanstalt in Bukarest vom 8. September 2017 Anhaltspunkte dafür ergeben hatten, dass der Bewilligungsvorbehalt von den rumänischen Behörden nicht eingehalten wird. So entsprächen die in diesem Schreiben genannten Haftraumgrößen denjenigen, die im Verfahren 2 BvR 424/17 im Wege der einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht vom 18. August 2017 zur einstweiligen Untersagung der Auslieferung nach Rumänien geführt hätten.

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat in der Folge mit Beschluss vom 24. Januar 2018 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und den rumänischen Behörden Gelegenheit gegeben, die gegen die Haftbedingungen in Rumänien im Allgemeinen bestehenden Bedenken im konkreten Fall auszuräumen und insoweit insbesondere zuzusichern, dass der Verfolgte bei seiner Inhaftierung in Rumänien zu jeder Zeit in einem Haftraum von mindestens drei Quadratmetern untergebracht werden wird. Nachdem eine entsprechende Zusicherung durch die rumänischen Behörden nicht erteilt worden war, hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 22. März 2018 gemäß § 33 IRG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung entschieden, die Auslieferung für unzulässig erklärt und den Auslieferungshaftbefehl vom 21. März 2017 aufgehoben. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, die Auslieferung des Verfolgten wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Landgerichts in Timis vom 13. Januar 2017 bezeichneten Straftaten sei zumindest derzeit unzulässig, weil nach der Entscheidung über die Zulässigkeit durch Beschluss vom 17. August 2017 ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 Satz 2 IRG entstanden sei. Die Haftbedingungen stellten sich zurzeit so dar, dass aufgrund der mitgeteilten Überbelegung der rumänischen Gefängnisse sowie der Zellengrößen die naheliegende Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehe, die nach der Rechtsprechung des EGMR ohne Hinzutreten besonderer Umstände einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründe.

Am selben Tag ist der Verfolgte, der sich seit dem 11. März 2017 in Auslieferungshaft befunden hatte, entlassen worden. Bezugnehmend auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018 hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main mit Verfügung vom 23. März 2018 die Bewilligung der Auslieferung versagt.

b) Am 7. Januar 2022 ist bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main ein Schreiben des Landgerichts Timis vom 15. Dezember 2021 eingegangen, in dem unter Bezug auf eine beigefügte neue Zusicherung der zuständigen rumänischen Behörden vom 7. Dezember 2021 zu den konkret vom Verfolgten im Fall der Auslieferung zu erwartenden Haftbedingungen um nochmalige Prüfung der Möglichkeit der Auslieferung des Verfolgten aufgrund des verfahrensgegenständlichen Europäischen Haftbefehls des Landgerichts Timis vom 13. Januar 2017 ersucht wird. Hierauf hat die Generalbundesanwaltschaft Frankfurt am Main ein neues Verfahren eingeleitet und dieses unter Hinweis darauf, dass der Verfolgte seit dem 1. August 2021 in Karlsruhe wohnhaft sei, am 12. Januar 2022 an die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe zur Übernahme übermittelt. Diese hat das Verfahren am 2. Februar 2022 übernommen und sodann - aufgrund der auf die Haftbedingungen bezogenen Zusicherung der rumänischen Behörden - den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls beim Oberlandesgericht Karlsruhe beantragt.

Mit Beschluss vom 9. Februar 2022 hat das Oberlandesgericht Karlsruhe die Übernahme des Verfahrens im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass das Auslieferungsverfahren vor Eingang der ergänzenden Zusicherungen im Dezember 2021 noch nicht abgeschlossen gewesen sei, was sich auch aus den Gründen des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018 ergebe. Danach sei die Auslieferung lediglich als „zumindest derzeit“ unzulässig abgelehnt worden. In der Folge hat die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe die Akten zur Rücknahme an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main zurückgeleitet.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat die Rückübernahme vorbehalten und die Sache unter Beifügung eines Vermerks des stellvertretenden Vorsitzenden des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main zur Herbeiführung einer Zuständigkeitsbestimmung durch den Bundesgerichtshof gemäß § 77 IRG i.V.m. § 14, § 19 StPO vorgelegt. Sowohl die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main als auch der mit der Sache befasste 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main treten der Auffassung des Oberlandesgerichts Karlsruhe entgegen. Dabei wird im Wesentlichen geltend gemacht, das ursprüngliche Auslieferungsverfahren sei mit dem die Unzulässigkeit der Auslieferung erklärenden Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018 und der sich daran anschließenden vorbehaltlosen Versagung der Bewilligung, der Kostenbereinigung und der Weglage der Vorgänge durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main spätestens im Oktober 2018 förmlich beendet gewesen, wodurch die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main entfallen sei.

2. Der Generalbundesanwalt hat beantragt festzustellen, dass das Oberlandesgericht Frankfurt am Main für die Entscheidung nach § 14 Abs. 1 IRG zuständig sei.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberstes Gericht gemäß § 77 IRG i.V.m. § 14, § 19 StPO zur Entscheidung des Kompetenzkonflikts berufen.

2. Zuständig für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Landgerichts Timis vom 13. Januar 2017 ist das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

a) Dies folgt aus der die gerichtliche Zuständigkeit abschließend regelnden Vorschrift des § 14 Abs. 1 IRG. Danach sind das Oberlandesgericht und die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht örtlich zuständig, in deren Bezirk der Verfolgte zum Zweck der Auslieferung ergriffen oder, falls eine Ergreifung nicht erfolgt, zuerst ermittelt wird.

Die Ergreifung des Verfolgten, der auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls vom 13. Januar 2017 im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben war und ist, erfolgte am 11. März 2017 im Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und begründete damit dessen örtliche Zuständigkeit gemäß § 14 Abs. 1 Alt. 1 IRG.

b) Diese besteht ungeachtet der Dauer des Auslieferungsverfahrens fort. Sie ist weder durch den späteren Aufenthalt des Verfolgten im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe noch durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2. März 2018 entfallen, mit der die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Timis vom 13. Januar 2017 für (zumindest derzeit) unzulässig erklärt worden ist. Ebenso wenig führten die anschließende Versagung der Bewilligung der Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die Übernahmeerklärung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe oder die Art der Aktenbehandlung in Form der Weglage zum Wegfall der einmal begründeten Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main.

aa) Der aktuelle Aufenthalt des Verfolgten im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe vermag dessen Zuständigkeit nicht zu begründen. Aus dem in § 14 IRG zum Ausdruck kommenden Prioritätsprinzip (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 1988 - 2 ARs 347/88, BGHR IRG § 14 Abs. 2 Befasstsein 1), das insbesondere in der Verwendung des Wortes „zuerst“ in § 14 Abs. 1 IRG seinen Niederschlag gefunden hat (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2. Juni 2020 - Ausl 301 AR 66/20, juris Rn. 5; OLG Koblenz, NStZ 1982, 210; OLG Hamm, NJW 1975, 2154; BT-Drucks. 9/1338, S. 48), folgt nicht nur, dass die örtliche Zuständigkeit durch das erstmalige Befasstsein mit der Sache begründet wird, sondern auch, dass die zeitlich zuerst begründete Zuständigkeit des Oberlandesgerichts und der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht für das gesamte Auslieferungsverfahren fortdauert.

Eine danach zeitlich zuerst begründete örtliche gerichtliche Zuständigkeit bleibt somit auch dann erhalten, wenn später Umstände eintreten, die eine andere gerichtliche Zuständigkeit zu begründen geeignet sind (vgl. OLG Celle, StraFo 2022, 404, 405; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Februar 2020 - III-2 Ausl 18/20, juris Rn. 53 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Dezember 2020 - Ausl 301 AR 198/20, juris Rn. 6; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2. Juni 2020 - Ausl 301 AR 66/20, juris Rn. 4 f.; OLG Celle, Beschluss vom 16. März 2011 - 1 Ausl 16/11, OLGSt IRG § 14 Nr. 3; OLG Koblenz, NStZ 2006, 110; Ambos/König/Rackow/König/Voigt, Rechtfshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., § 14 Rn. 174; Schomberg/Lagodny/Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 14 IRG Rn. 4; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 14 IRG Rn. 3).

Gibt es mithin in einem Auslieferungsverfahren nur einen für die Begründung der Zuständigkeit fortgeltenden Ergreifungsort bzw. nur einen Ermittlungsort, ist - wie vorliegend - ein späterer Wechsel des Aufenthaltsorts des Verfolgten unbeachtlich. Gleichermaßen bedeutungslos ist der Umstand, dass die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe das Verfahren zunächst einvernehmlich übernommen hat, denn bei § 14 IRG handelt es sich um eine abschließende Spezialregelung (vgl. OLG Koblenz, NStZ 2006, 110), die keinen Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen lässt und insbesondere auch keine Zuständigkeitsänderung durch Vereinbarung - wie etwa § 13 Abs. 2 StPO - gestattet (vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, aaO, Rn. 11).

bb) Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018, mit der die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Landgerichts in Tmis vom 13. Januar 2017 für (zumindest derzeit) unzulässig erklärt worden ist, findet dadurch, dass der Verfolgte seinen Wohnsitz in den Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe verlegt hat, kein Gerichtsstandswechsel statt. Denn das Auslieferungsverfahren hat durch diese Entscheidung keine Erledigung gefunden. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018 hat vorläufigen Charakter (vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO).

Die Auslieferung ist nicht wegen eines endgültigen Auslieferungshindernisses wie etwa nach § 9 Nr. 2 IRG i.V.m. § 82 IRG wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung nach deutschem Recht (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2015, 187) oder gemäß Art. 54 SDÜ aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung (vgl. OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2020, 288) oder einem anderen nicht behebbaren Hindernis für unzulässig erklärt worden. Vielmehr stützt sich die Entscheidung auf im Raum stehende Anhaltspunkte für unzureichende Haftbedingungen in Rumänien. Dieser auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgehende Ablehnungsgrund (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 10. März 2015 - Kammer II, Bsw. Nr. 14.097/12 u.a., bei Kieber, NLMR 2015, 160) ist vorläufiger Natur. Er stellt ein nach § 73 Satz 2 IRG i.V.m. Art. 3 EMRK und Art. 4 EUGrRCh zu berücksichtigendes Auslieferungshindernis dar, welches das fundamentale Prinzip der gegenseitigen Anerkennung duchbricht, wonach für die Migliedsstaaten grundsätzlich die Pflicht zur Auslieferung bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls besteht (vgl. EuGH, NJW 2016, 1709, 1711 f.). Lediglich in Fällen der §§ 80, 81, 83 und 83b IRG sowie „ausnahmsweise“ (vgl. EuGH, aaO) nach § 73 Satz 2 IRG, wenn die Überstellung den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen - also insbesondere der EUGrRCh und der EMRK - widerspräche, darf ein Ersuchen abgelehnt werden (vgl. EuGH, aaO; BeckOK StPO/Inhofer, 45. Edition, IRG § 79 Rn. 1 mwN). Diesem Hindernis kann und soll - mit Blick auf die von dem Rahmenbeschluss 2022/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHB 2009) verfolgte Zielsetzung der Erleichterung der verbesserten justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (vgl. Art. 1 Abs. 1 RbEuHB 2009) - durch entsprechende Maßnahmen gesetzlicher, organisatorischer oder baulicher Art begegnet werden (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 31. Januar 2022 - 1 AR 4/22, juris Rn. 19 f.; Volk/Beukelmann/Ahlbrecht/Rüschendorf, Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 3. Aufl., 2020, § 16 Rn. 160), weshalb eine endgültige Ablehnung der Auslieferung in derartigen Fällen grundsätzlich nicht in Betracht kommt.

Vielmehr ist dann, wenn die Erklärungen des Ausstellerstaates eines Europäischen Haftbefehls zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards nach einer Übergabe nicht ausreichen, eine Zwischenentscheidung zweckmäßig und sachgerecht. Dies gilt sowohl mit Blick auf den Zweck des gerichtlichen Verfahrens über die Zulässigkeit der Auslieferung der auf die Feststellung der Erfüllung aller gesetzlichen oder vertraglichen Voraussetzungen für die Auslieferung gerichtet ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 1977 - 4 ARs 16/77, BGHSt 27, 266, 270), als auch wegen der dem ersuchenden (Mitglieds-)Staat einzuräumenden Möglichkeit, seinen Justizvollzug an die maßgebliche Rechtsprechung des EGMR und EuGH anzupassen (vgl. Schomburg/Lagodny/Riegel, aaO, § 32 Rn. 20; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. Mai 2017 - Ausl 301 AR 54/17, juris Rn. 14).

Die Formulierung „zumindest derzeit unzulässig“ in den Gründen des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2018 bringt die Beschränkung der Entscheidung in zeitlicher Hinsicht und damit den vorläufigen Charakter zum Ausdruck. Auch aus den Gründen der Entscheidung ergibt sich zweifelsfrei, dass die Erklärung der Unzulässigkeit auf die aktuell unzureichenden Haftbedingungen, die der Verfolgte im Falle der Überstellung in Rumänien zu erwarten hatte, gestützt war. So hat auch das Landgericht Timis, davon ausgehend, dass im Falle der Abgabe der gewünschten Erklärungen keine weiteren der Zulässigkeit entgegenstehenden Gründe bestehen, die neuen Zusicherungen in Bezug auf die von dem Verfolgten zu erwartenden Haftbedingungen im Schreiben vom 15. Dezember 2021 auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls vom 13. Januar 2017 mit der Bitte um erneute Überprüfung der „Möglichkeit der Auslieferung“ übermittelt.

cc) In Fällen, in denen - wie hier - der Europäische Haftbefehl, der bereits Gegenstand vorangegangener Entscheidung(en) war, unverändert fortbesteht und die Auslieferung nicht von vornherein unzulässig ist, steht einem Zuständigkeitswechsel der Regelungszweck des § 14 IRG entgegen. Die Vorschrift dient nicht nur der Vereinfachung und Beschleunigung, sondern sie soll überdies die Kontinuität und Einheit des Auslieferungsverfahrens sichern, wozu eine einheitliche gerichtliche Bewertung im Kernbereich des Tatvorwurfs gehört (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 5. September 2022 - 2 AR (Ausl) 85/22, juris Rn. 10; OLG Bamberg, NJW 2010, 1619, 1620; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, aaO, § 14 IRG, Rn. 3; BT-Drucks. 9/1338, S. 48). Die auf die beschleunigte Bearbeitung von Auslieferungssachen und die Sicherung einer einheitlichen Behandlung gerichtete Intention des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 9/1338, S. 48) kommt auch in § 14 Abs. 2 IRG zum Ausdruck. Dieser bestimmt, dass sich die Zuständigkeit für das Auslieferungsverfahren bei mehreren wegen derselben Tat Verfolgten danach richtet, welches Oberlandesgericht zuerst mit der Sache befasst wurde. Von diesem Verständnis ausgehend kommt § 14 Abs. 2 IRG überdies sinngemäß zur Anwendung, wenn es um die Auslieferung nur einer Person geht, die auf Grund mehrerer Auslieferungsersuchen gesucht wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27. Februar 2020 - III-2 Ausl 18/20, juris Rn. 55; OLG Bamberg, NJW 2010, 1619, 1620; Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO, § 14 Rn. 4).

Die vom Gesetzgeber beabsichtigte weitreichende Perpetuierung der durch § 14 IRG begründeten Zuständigkeit korrespondiert darüber hinaus auch mit der Struktur des Auslieferungs- bzw. des Zulässigkeitsverfahrens. So besteht die Möglichkeit der Durchführung eines „Nachverfahrens“ nach bereits erfolgter Entscheidung über die Zulässigkeit, beziehungsweise nach einer Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft über die Bewilligung der Auslieferung. Nach § 33 IRG kann bei Bekanntwerden neuer Umstände und Tatsachen, die bei der Entscheidung des Senats über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht berücksichtigt worden waren, weil sie entweder noch nicht berkannt waren oder erst nachträglich eingetreten sind, nochmals in die Zulässigkeitsprüfung der Auslieferung eingetreten werden. Voraussetzung ist, dass diese bisher nicht berücksichtigten Umstände geeignet sind, eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit zu begründen. Diese Entscheidung ist gemäß § 33 IRG unabhängig vom Zeitablauf oder vom Eintritt sonstiger, die Zuständigkeit berührender Umstände von dem nach § 14 IRG mit der Sache (erstmals) befassten Oberlandesgericht zu treffen.

dd) Nach alledem hat auch die auf Basis einer vorläufigen Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung anschließend am 23. März 2018 erfolgte Versagung der Bewilligung durch die zuständige Generalstaatsanwaltschaft keine Auswirkung auf die nach § 14 IRG festgelegte Zuständigkeitsbestimmung. Dies folgt überdies auch daraus, dass eine Entscheidung jederzeit abänderbar und im Falle eines Europäischen Haftbefehls eine derartige Abänderung unter Umständen sogar geboten ist, wenn die Auslieferung durch die ersuchende Behörde weiterhin betrieben wird und etwaige Zulässigkeits- oder Bewilligungshindernisse nach einer ablehnenden Bewilligungsentscheidung entfallen sind (vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO, § 12 Rn. 11).

ee) Schließlich können auch kostenrechtliche Vorgänge oder Maßnahmen der Aktenführung keinen Wechsel des Gerichtsstands auslösen. Die Geltendmachung der Kosten durch den Rechtsbeistand des Verfolgten und die im Oktober 2018 erfolgte Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die Akte wegzulegen, sind für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit daher ohne Belang.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 382

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede