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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 354

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 39/22, Beschluss v. 17.02.2023, HRRS 2023 Nr. 354


BVerfG 2 BvR 39/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 17. Februar 2023 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Strafvollzugsbegleitende Überprüfung des Betreuungsangebots bei angeordneter Sicherungsverwahrung (möglicher Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bei Erreichen des Strafendes und zwischenzeitlicher Entscheidung über die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung; Begründungslast für das Fortbestehen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde bei Änderung der Sach- und Rechtslage; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG; § 66c Abs. 2 StGB; § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen, dessen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet ist, gegen eine gerichtliche Entscheidung zur strafvollzugsbegleitenden Kontrolle des Behandlungsangebots (§ 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) genügt nicht den Darlegungsanforderungen, wenn bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Strafende erreicht ist und der Betroffene nicht ergänzend dazu vorträgt, inwieweit angesichts der zwischenzeitlich zu treffenden Entscheidung über die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) bezüglich der vorangegangenen Überprüfungsentscheidung noch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht.

2. Den Beschwerdeführer trifft bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage eine Begründungslast für das Fortbestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde.

3. Für Entscheidungen im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 119a StVollzG gilt das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Dieses ist möglicherweise verletzt, wenn der Gefangene zur Vorbereitung einer angezeigten sozialtherapeutischen Behandlung lediglich eine externe Einzeltherapie erhält und die Strafvollstreckungskammer auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichtet, obwohl die Notwendigkeit zusätzlicher psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen im Raum steht.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Überprüfung des Betreuungsangebots nach § 119a StVollzG.

I.

1. Der Beschwerdeführer verbüßte seit dem 22. Mai 2019 eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Straubing, Bayern; das Strafende war auf den 13. November 2022 notiert. Im Anlassurteil war die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Die Indikationsprüfung für die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung ergab, dass der Beschwerdeführer einer sozialtherapeutischen Behandlung bedürfe, derzeit insoweit aber nicht behandlungsfähig sei. Es müsse eine die Sozialtherapie vorbereitende Einzeltherapie sowie eine Indikationsprüfung einer pharmakologischen Behandlung durchgeführt werden. Die Einzeltherapie bei einer externen Therapeutin begann im Dezember 2019 und fand bis März 2021 in etwa monatlichem Turnus statt (15 Termine in 16 Monaten).

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 24. August 2021 stellte das Landgericht im Verfahren nach § 119a StVollzG fest, dass dem Beschwerdeführer im Zeitraum vom 22. Mai 2019 bis 22. Mai 2021 eine Betreuung angeboten worden sei, die den gesetzlichen Anforderungen nach § 66c StGB entspreche. Die die Sozialtherapie vorbereitende Einzeltherapie sei das Mittel der Wahl und entspreche auch ihrer Frequenz nach dem Intensivierungsgebot. Soweit der Beschwerdeführer das Fehlen weiterer psychiatrischer Therapien rüge, lasse er offen, um welche Maßnahmen es sich handeln solle.

3. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 30. November 2021 zurück. Es bestehe eine ausreichende Tatsachengrundlage, sodass die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht erforderlich sei. Die vorbereitende Einzeltherapie sei auch hinsichtlich der Terminfrequenz nicht zu beanstanden, da bei Betrachtung des zurückliegenden Zeitraums die erzielten Fortschritte und nicht die konkrete Anzahl der Behandlungstermine im Vordergrund stehe. Angesichts des Strafendes am 13. November 2022 sehe der Senat allerdings für die Zukunft einen Intensivierungsbedarf hinsichtlich der Einzeltherapie. Zudem sei die zugunsten der Einzeltherapie zurückgestellte Indikationsprüfung für eine pharmakologische Behandlung nunmehr durchzuführen.

II.

1. Mit am 7. Januar 2022 fristgerecht eingegangener Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und aus Art. 2 Abs. 2 GG. Insgesamt sei es in fast zwei Jahren zu lediglich fünf probatorischen und zehn einzeltherapeutischen Sitzungsstunden gekommen, was nicht einmal einer Therapiestunde pro Monat im hier überprüften Zeitraum vom 22. Mai 2019 bis zum 22. Mai 2021 entspreche. Dem ultima-ratio-Prinzip, das bereits in dem der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorausgehenden Strafvollzug gelte, sei daher nicht genügt; hieraus ergebe sich das Erfordernis eines therapeutischen Behandlungsangebots im Turnus von höchstens zwei Wochen. Neben der durchgeführten psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahme sei auch eine psychiatrische Behandlung erforderlich gewesen. Ferner sei die nach dem Vollzugsplan anvisierte Indikationsprüfung einer pharmakologischen Behandlung bislang nicht erfolgt.

2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat mit Schriftsatz vom 22. November 2022 von einer Stellungnahme abgesehen.

3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Sie ist unzulässig.

1. a) Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>). Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fortbestehen (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 33, 247 <253>; 50, 244 <247>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>; 81, 138 <140>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>; stRspr).

Ein Beschwerdeführer ist daher verpflichtet, seine Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls auch nachträglich zu ergänzen (vgl. BVerfGE 106, 210 <214 f.>; 158, 170 <194 Rn. 57>). Ihn trifft eine aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG fließende Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. November 2022 - 2 BvR 2316/21 -, Rn. 11).

b) Der Vortrag des Beschwerdeführers genügt diesen Maßstäben nicht. Sein Strafende war auf den 13. November 2022 notiert, sodass sich mittlerweile eine entscheidungserhebliche Veränderung der Sachlage ergeben haben dürfte, die er nicht mitgeteilt hat. Er ist im anhängigen Verfahren der Verfassungsbeschwerde - auch nach deren Zustellung - eine Erläuterung schuldig geblieben, ob er mittlerweile, wie im Anlassurteil angeordnet, in der Sicherungsverwahrung untergebracht ist. Insbesondere hat er die nach § 67c Abs. 1 StGB rechtzeitig vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu treffende Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nicht vorgelegt und sich dazu inhaltlich nicht verhalten. Ein substantiierter Vortrag im Rahmen der Verfassungsbeschwerde hätte dies aber vorausgesetzt, da im Rahmen von § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erneut die Frage zur Prüfung stand, ob die dem Beschwerdeführer im Vollzugsverlauf zuteilgewordene Betreuung den Anforderungen des § 66c Abs. 2 in Verbindung mit § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprach, und, falls nicht, die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 67c Abs. 1 Satz 1 StGB zur Bewährung auszusetzen war. Insoweit war die Strafvollstreckungskammer zwar für den in den angegriffenen Entscheidungen in Rede stehenden Prüfungszeitraum zwischen dem 22. Mai 2019 und dem 22. Mai 2021 gemäß § 119a Abs. 7 StVollzG an die rechtskräftigen Feststellungen dieser Entscheidungen gebunden. Für den verbleibenden Zeitraum des Vollzugs der Freiheitsstrafe wäre hingegen auch eine andere, dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung möglich gewesen, zu der er mit Blick auf die Frage des Fortbestehens der mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Beschwer hätte vortragen müssen.

2. Zum Vorliegen der Voraussetzungen für ein trotz des inzwischen beendeten Vollzugs der Freiheitsstrafe ausnahmsweise fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis hat der Beschwerdeführer ebenfalls nichts vorgetragen. Der Umstand, dass die Fachgerichte und das Bundesverfassungsgericht häufig außerstande sind, schwierige Rechtsfragen in kurzer Zeit zu entscheiden, darf grundsätzlich nicht dazu führen, dass eine Verfassungsbeschwerde allein wegen des vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Zeitablaufs als unzulässig verworfen wird (vgl. BVerfGE 74, 163 <172 f.>; 76, 1 <38 f.>; 81, 138 <141>). Bei Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens besteht das Rechtsschutzbedürfnis deshalb fort, wenn entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 69, 161 <168>; 81, 138 <140>; 139, 245 <263 f. Rn. 53>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>; stRspr).

Zwar bestehen Zweifel, ob die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse den vom Bundesverfassungsgericht für Entscheidungen im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 119a StVollzG formulierten Anforderungen an das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung genügen (vgl. dazu Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. März 2021 - 2 BvR 1546/20 -, juris, Rn. 22 ff.). Insoweit kommt in Betracht, dass das Landgericht und das Oberlandesgericht im Rahmen der ihnen gemäß § 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG obliegenden Prüfung, ob dem Beschwerdeführer mit der nach § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB gebotenen Intensität Betreuungsangebote unterbreitet wurden, den Mindesterfordernissen für eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht gerecht geworden sind. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Gerichte auf die Einholung eines aktuellen Sachverständigengutachtens, das unter anderem der Frage der Notwendigkeit zusätzlicher psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen hätte nachgehen können, verzichtet haben. Zu einer andauernden oder besonders belastenden Beeinträchtigung durch die den angegriffenen Entscheidungen möglicherweise anhaftenden prozessualen Mängel trotz zwischenzeitig beendeten Vollzugs der Freiheitsstrafe führt der Beschwerdeführer allerdings nicht aus; eine solche ist ohne Kenntnis der nach § 67c Abs. 1 Satz 1 StGB ergangenen Entscheidung auch nicht ohne Weiteres ersichtlich.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 354

Bearbeiter: Holger Mann