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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 128

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 408/21, Urteil v. 13.12.2022, HRRS 2023 Nr. 128


BGH 1 StR 408/21 - Urteil vom 13. Dezember 2022 (LG Stuttgart)

Rücktritt vom unbeendeten Versuch (endgültige Abstandnahme von der Tat: Vorstellungsbild des Täters).

§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB ermöglicht den Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat. Tat in diesem Sinne ist eine Straftat im Sinne eines materiellrechtlichen Straftatbestandes, das heißt die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Dementsprechend beschränkt sich beim unbeendeten Versuch der Entschluss, die weitere Tatausführung aufzugeben, auf die Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale (vgl. BGHSt 39, 221, 230). Erforderlich ist insoweit, dass der Täter von der konkreten Tatbegehung endgültig Abstand genommen hat. Nicht aufgegeben ist die Tat, solange er mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält.

2. Maßgeblich für die endgültige Abstandnahme von der Tat ist das Vorstellungsbild des Täters nach dem Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung. Bei einem mehraktigen Geschehen, innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlich relevanten Erfolges gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters nach jedem Einzelakt. Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen, so ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich. Hierfür müssen die tatgerichtlichen Feststellungen und die sie tragenden Beweiserwägungen einen Vorsatzwechsel ausschließen und belegen, dass nach der subjektiven Zielsetzung des Täters ein solches einheitliches Geschehen anzunehmen ist.

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 15. März 2021 werden verworfen.

2. Die Angeklagten haben jeweils die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten N. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen den Angeklagten H. hat es wegen gefährlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt. Ferner hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Die hiergegen gerichteten, jeweils auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten bleiben erfolglos. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision die tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten H. wegen versuchten Totschlags. Dem vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Angeklagte N. auf dem Werksgelände des Geschädigten K. in W. unter anderem einen Personenkraftwagen der Marke Chrysler Crossfire abgestellt und dem Geschädigten die Fahrzeugpapiere nebst Autoschlüssel übergeben. Im November 2019 hatte der Angeklagte N. die Herausgabe seines Fahrzeugs gefordert, was K. unter Geltendmachung von Gegenforderungen verweigert hatte. Am Abend des 20. Dezember 2019 hatten sich der Angeklagte N. und K. erneut darüber gestritten. Im Verlauf der Auseinandersetzung hatte K. dem Angeklagten N. zwei wuchtige Schläge gegen den Kopf versetzt, wodurch dieser eine Gehirnerschütterung und eine Verletzung an der Oberlippe erlitten hatte.

Der Angeklagte N. kam mit seinen Brüdern, dem Angeklagten H. und dem nichtrevidierenden L., überein, das Fahrzeug von K. zurückzuholen, notfalls unter gemeinschaftlicher Anwendung von Gewalt. Am 7. Januar 2020 fuhren sie zur Werkhalle des K. L. wartete gemäß der Absprache vor der Halle, um seinen beiden Brüdern im Bedarfsfall zu helfen. Der Angeklagte N. führte eine mit mindestens fünf scharfen Zentralfeuerpatronen geladene Selbstladepistole und der Angeklagte H. ein Klappmesser mit einseitig geschliffener Klinge mit sich, wobei keiner der Angeklagten von der Bewaffnung des jeweils anderen wusste. K. verweigerte weiterhin die Herausgabe des Wagens und verwies die Angeklagten der Halle. Da die Angeklagten dem nicht nachkamen, versuchte K., sie mit ausgebreiteten Armen in Richtung Ausgang der Halle zu schieben. Der Angeklagte N. begann gemäß dem Tatplan, auf K. einzuschlagen, um die Rückgabe des Wagens zu erzwingen. Der Angeklagte H. folgte ihm hierin. Während K. sich mit Schlägen gegen den ihm frontal zugewandten Angeklagten N. zur Wehr setzte, gelang es dem Angeklagten H., hinter K. zu treten. Dort zog er, vom Angeklagten N. unbemerkt, das von ihm mitgeführte Messer und versetzte dem Geschädigten in schneller Abfolge drei Stiche in den Rücken, wobei er ihn im Bereich beider Nieren sowie auf Höhe des unteren linken Lungenflügels traf. K. s Tod nahm er hierbei billigend in Kauf.

K., dem es nach dem dritten Stich gelang, den Angeklagten H. durch einen Schlag zu Boden zu bringen, rutschte aus und ging ebenfalls zu Boden. Der Angeklagte N., der die Stiche nicht bemerkt hatte, trat und schlug auf den am Boden liegenden Geschädigten zunächst allein ein. Als der Angeklagte H. wieder aufgestanden war, versetzte er K. ebenfalls Schläge. Dabei ging er aufgrund der weiterhin massiven Gegenwehr des K. davon aus, diesen mit dem Messer nicht lebensgefährlich verletzt zu haben. Von einem weiteren Einsatz des Messers sah er dennoch ab und beschränkte sich auf die Ausführung von Schlägen, um den Geschädigten gemeinsam mit seinem Bruder zu verletzen.

K., der noch immer am Boden lag, gelang es, den Angeklagten H. zu Fall zu bringen und selbst wieder aufzustehen. Er stand nun dem Angeklagten N. gegenüber, der spätestens jetzt den Entschluss fasste, die Schusswaffe zum Einsatz zu bringen, um nicht erneut eine Niederlage erleiden zu müssen. Er schoss dem Geschädigten in den rechten Oberarm. Nach etwa einer Sekunde gab er mit direktem Tötungsvorsatz in schneller Abfolge vier weitere Schüsse ab, von denen je einer den Geschädigten im Gesicht, im Bereich des rechten Schulterblatts sowie am Hinterkopf traf. Nach der letzten Schussabgabe ging der Angeklagte N. davon aus, dass der Geschädigte versterben werde. Der Angeklagte H. war mit den Schüssen nicht einverstanden und flüchtete nach dem letzten Schuss. Der Geschädigte überlebte schwer verletzt.

2. Das Landgericht hat zugunsten des Angeklagten H. einen Rücktritt vom unbeendeten versuchten Totschlag angenommen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 StGB). Der Angeklagte H. habe nach dem letzten mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerstich von weiteren möglichen Stichen abgesehen; die anschließenden Schläge habe er wiederum allein mit dem Vorsatz ausgeführt, den Geschädigten zu verletzen. Der Einsatz der Schusswaffe durch den Angeklagten N. sei von seinem Vorsatz nicht umfasst gewesen und ihm nicht zuzurechnen. Das Landgericht hat den Angeklagten H. deshalb lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5, § 25 Abs. 2 StGB) verurteilt.

II.

1. Die Revisionen der Angeklagten sind aus den zutreffenden Erwägungen der Antragsschriften des Generalbundesanwalts unbegründet. Insbesondere erweist sich die Strafzumessung betreffend den Angeklagten N. nicht deshalb als durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht dem Einbehalt des Pkw Chrysler Crossfire durch den K. in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen hat; vielmehr beschwert es den Angeklagten N. nicht, dass ihm diese „Selbstjustiz“ nicht straferschwerend zur Last gelegt worden ist.

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Der Schuldspruch allein wegen gefährlicher Körperverletzung hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch des Totschlags durch den Angeklagten H. ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

a) § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB ermöglicht den Rücktritt vom - wie von dem Landgericht rechtsfehlerfrei angenommen - unbeendeten Versuch durch Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat. Tat in diesem Sinne ist eine Straftat im Sinne eines materiellrechtlichen Straftatbestandes, das heißt die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Dementsprechend beschränkt sich beim unbeendeten Versuch der Entschluss, die weitere Tatausführung aufzugeben, auf die Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 1985 - 3 StR 481/84, BGHSt 33, 142, 144; Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 230). Erforderlich ist insoweit, dass der Täter von der konkreten Tatbegehung endgültig Abstand genommen hat. Nicht aufgegeben ist die Tat, solange er mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält (BGH, Urteil vom 15. Juli 2021 - 3 StR 481/20 Rn. 20 mwN).

Maßgeblich ist das Vorstellungsbild des Täters nach dem Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung. Bei einem mehraktigen Geschehen, innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlich relevanten Erfolges gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters nach jedem Einzelakt an (vgl. BGH, Urteile vom 19. März 2013 - 1 StR 647/12 Rn. 35 f. und vom 13. August 2015 - 4 StR 99/15 Rn. 7; jeweils mwN). Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen, so ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (vgl. BGH, Urteile vom 8. Februar 2007 - 3 StR 470/06 Rn. 8 und vom 17. Februar 2016 - 2 StR 213/15 Rn. 18; Beschlüsse vom 3. Februar 2022 - 2 StR 317/21 Rn. 12 und vom 9. September 2014 - 4 StR 367/14 Rn. 6). Hierfür müssen die tatgerichtlichen Feststellungen und die sie tragenden Beweiserwägungen einen Vorsatzwechsel ausschließen und belegen, dass nach der subjektiven Zielsetzung des Täters ein solches einheitliches Geschehen anzunehmen ist (BGH, Beschluss vom 5. September 2019 - 4 StR 394/19 Rn. 6).

b) Gemessen hieran ist die - nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Prüfung unterliegende - Beweiswürdigung des Landgerichts zu dem Rücktrittshorizont und Vorsatzwechsel des Angeklagten H. im Ergebnis nicht zu beanstanden. Zu Recht stellt die Strafkammer hierbei auf den Zeitpunkt ab, zu dem der Angeklagte von dem weiteren Einsatz des Messers absah. Die Messerstiche bildeten mit den sich anschließenden Schlägen und Tritten kein einheitliches Geschehen, welches es nach den vorgenannten Grundsätzen rechtfertigen würde, zur Bestimmung des Rücktrittshorizonts auf die letzte Ausführungshandlung des Angeklagten in dem Gesamtgeschehen abzustellen. Auch ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht nicht die Überzeugung gewonnen hat, dass der Angeklagte die Schläge und die ihm nach § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnenden Tritte nicht mit Tötungsvorsatz ausführte. Denn weder enthalten die Urteilsgründe Anhaltspunkte dafür, dass es das Ziel des Angeklagten gewesen wäre, dem Geschädigten tödliche Verletzungen beizubringen, noch ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang, dass die Schläge und Tritte - auch unter Berücksichtigung der vorher zugeführten Messerstiche - so gefährlich gewesen wären, als dass daraus auf einen bedingten Tötungsvorsatz zu schließen wäre. Vielmehr ließen sich die Kausalität dieser Tathandlungen für die Gesichtsverletzungen des Geschädigten, unter ihnen mehrere Knochenfrakturen, und damit einhergehend ihre Gefährlichkeit nicht aufklären; insoweit sind auch keine weitergehenden Feststellungen zu erwarten. Von einer Zurechnung der von dem Angeklagten N. abgegebenen Schüsse hat das Landgericht rechtsfehlerfrei abgesehen.

Es ist der Revision zwar zuzugeben, dass das Landgericht die für ein Fortbestehen des bedingten Tötungsvorsatzes sprechenden Umstände im Zeitpunkt der gemeinsamen Tritte und Schläge, insbesondere die erhebliche Vorverletzung durch die Messerstiche, nicht ausdrücklich in seine Würdigung einbezogen hat. Die Aufgabe des vormals bestehenden Tötungsvorsatzes erschließt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe. Denn diese belegen neben der Abstandnahme von weiteren Messerstichen und der zeitlichen Abfolge des Geschehens insbesondere die fehlende Billigung des Einsatzes der Schusswaffe durch den Angeklagten H. Diese Umstände lassen in der Gesamtbetrachtung einen tragfähigen, revisionsgerichtlich nicht zu beanstandenden Rückschluss auf das Vorstellungsbild des Angeklagten zum Zeitpunkt der Schläge und Tritte zu.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 128

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede