hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1145

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 495/22, Beschluss v. 12.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1145


BGH 4 StR 495/22 - Beschluss vom 12. Juli 2023 (LG Bochum)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Härteausgleich: drohende Vollstreckung von Strafen, Strafverhängung von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, mangelnde Gesamtstrafenfähigkeit, aus zufälligen Gründen nicht mehr berücksichtigungsfähige inländischen Vorstrafe, besondere Schwere der Schuld, Vollstreckungslösung, Verlängerung der Mindestverbüßungsdauer).

§ 55 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Strafzumessung sind etwaige Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, welche von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären. Derartige Härten werden in vergleichbaren Fällen vorausgegangener Verurteilungen durch deutsche Gerichte nach § 55 StGB durch eine nachträglich zu bildende Gesamtstrafe vermieden, während ausländische Strafen wegen des mit einer Gesamtstrafenbildung verbundenen Eingriffs in deren Vollstreckbarkeit grundsätzlich nicht gesamtstrafenfähig sind. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch grundsätzlich sicherstellen, dass ihre Gerichte frühere, in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in dem Maße berücksichtigen wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und ihnen gleichwertige Rechtswirkungen zuerkennen.

2. Auf welche Weise dies geschieht, ist unionsrechtlich nicht vorgegeben. Es gelten daher dieselben Grundsätze wie bei einer an sich gesamtstrafenfähigen, aus zufälligen Gründen aber nicht mehr berücksichtigungsfähigen inländischen Vorstrafe. Hiernach ist die konkrete Ausgestaltung des Härteausgleichs im Fall der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe davon abhängig, ob die besondere Schwere der Schuld vom Tatgericht festgestellt worden ist. Hat das Tatgericht die besondere Schwere der Schuld verneint, kann die Kompensation nicht anders als im Wege der so genannten Vollstreckungslösung, nämlich durch Anrechnung des als vollstreckt geltenden Teils der Strafe auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB, erfolgen. Es handelt sich in diesem Fall zwangsläufig um einen dem Tatrichter überantworteten Akt der Strafzumessung. Eine Verlagerung der Kompensation auf das Vollstreckungsverfahren, namentlich auf die bei festgestellter besonderer Schuldschwere durch das Vollstreckungsgericht zu treffende Entscheidung über die Verlängerung der Mindestverbüßungsdauer, scheidet hier aus.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 3. August 2022 aufgehoben, soweit eine Entscheidung über einen wegen nicht möglicher Gesamtstrafenbildung durchzuführenden Härteausgleich unterblieben ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Das Landgericht hat - soweit hier von Bedeutung - die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte, ein polnischer Staatsangehöriger, ist in Deutschland nicht, in Polen hingegen bereits mehrfach vorbestraft. Zuletzt verurteilte ihn das Amtsgericht Ko?cian am 19. Februar 2020 wegen eines am 24. Januar 2019 begangenen Einbruchdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten. Mit - rechtskräftigem - Urteil vom 17. Juli 2020 änderte das Bezirksgericht Posna? auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft die Entscheidung des Amtsgerichts dahingehend ab, dass es „die Haftzeit der verhängten Freiheitsstrafe um drei Jahre erhöhte“. Das Amtsgericht Ko?cian bildete aus der vorgenannten Freiheitsstrafe und weiteren gegen den Angeklagten seit 2018 verhängten Strafen am 16. Februar 2021 nachträglich eine „Gesamtstrafe“ von sechs Jahren und acht Monaten.

b) Die hier verfahrensgegenständliche Tat beging der Angeklagte am 4. Februar 2019. An diesem Tag drangen er und ein weiterer Beteiligter in das Wohnhaus des Geschädigten ein, um daraus Wertgegenstände zu entwenden. Als sich der Geschädigte ihnen entgegenstellte, schlugen sie ihn nieder, fesselten ihn und umwickelten seinen Kopf mit Klebeband. Anschließend durchsuchten sie das Haus nach stehlenswerten Gegenständen und verließen schließlich unter Mitnahme mehrerer Sachen des Geschädigten das Haus. Dieser kam - wie vom Angeklagten in Kauf genommen - durch Ersticken zu Tode. Das Landgericht hat die Tat als Mord in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge gewertet und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. Die besondere Schwere der Schuld hat es nicht festgestellt.

2. Während die rechtliche Nachprüfung hinsichtlich des Schuldspruchs, der verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe sowie der Entscheidung des Landgerichts, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nicht anzuordnen, keinen Rechtsfehler ergeben hat, kann das Urteil insoweit, als die Strafkammer einen Härteausgleich nicht erwogen hat, keinen Bestand haben.

a) Bei der Strafzumessung sind etwaige Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, welche von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären (vgl. [jeweils unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26] BGH, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21 Rn. 4 mwN; Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 17; Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 9 ff.; Beschluss vom 28. Januar 2020 - 4 StR 599/19; Beschluss vom 3. Juli 2019 - 4 StR 256/19; vgl. vor EuGH, Urteil vom 21. September 2017 - C-171/16 enger BGH, Urteil vom 10. Juni 2009 - 2 StR 386/08; ebenso weiterhin Sander/Dietsch, NStZ 2022, 449, 454). Derartige Härten werden in vergleichbaren Fällen vorausgegangener Verurteilungen durch deutsche Gerichte nach § 55 StGB durch eine nachträglich zu bildende Gesamtstrafe vermieden, während ausländische Strafen wegen des mit einer Gesamtstrafenbildung verbundenen Eingriffs in deren Vollstreckbarkeit grundsätzlich nicht gesamtstrafenfähig sind (vgl. Art. 3 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI sowie BGH, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 9 mwN; anders zu einer - hier nicht gegebenen - Ausnahmekonstellation EuGH, Urteil vom 15. April 2021 - C-221/19). Die Mitgliedstaaten müssen jedoch grundsätzlich sicherstellen, dass ihre Gerichte frühere, in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in dem Maße berücksichtigen wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und ihnen gleichwertige Rechtswirkungen zuerkennen (Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI; EuGH, Urteil vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26; BGH, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 11 mwN).

b) Auf welche Weise dies geschieht, ist unionsrechtlich nicht vorgegeben (EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 - C-583/22 PPU Rn. 79; s.a. BGH, Beschluss vom 8. März 2023 - 1 StR 130/22 Rn. 19 ff.; Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21 Rn. 10 ff.). Es gelten daher dieselben Grundsätze wie bei einer an sich gesamtstrafenfähigen, aus zufälligen Gründen aber nicht mehr berücksichtigungsfähigen inländischen Vorstrafe. Hiernach ist die konkrete Ausgestaltung des Härteausgleichs im Fall der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe davon abhängig, ob die besondere Schwere der Schuld vom Tatgericht festgestellt worden ist. Hat das Tatgericht die besondere Schwere der Schuld verneint, kann die Kompensation nicht anders als im Wege der so genannten Vollstreckungslösung, nämlich durch Anrechnung des als vollstreckt geltenden Teils der Strafe auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB, erfolgen (BGH, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 2 StR 403/09, BGHSt 55, 1 Rn. 6; Beschluss vom 8. Dezember 2009 - 5 StR 433/09, BGHSt 54, 259 Rn. 6; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. August 2022 - 6 StR 201/22; Beschluss vom 23. Juli 2008 - 5 StR 293/08, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 15). Es handelt sich in diesem Fall zwangsläufig um einen dem Tatrichter überantworteten Akt der Strafzumessung. Eine Verlagerung der Kompensation auf das Vollstreckungsverfahren, namentlich auf die bei festgestellter besonderer Schuldschwere durch das Vollstreckungsgericht zu treffende Entscheidung über die Verlängerung der Mindestverbüßungsdauer (vgl. zu Fällen der festgestellten besonderen Schuldschwere BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320 Rn. 26; Beschluss vom 9. Dezember 2008 - 4 StR 358/08, BGHR StGB § 57a Abs. 1 Schuldschwere 26; zur Berücksichtigung einer EU-ausländischen Vorstrafe auch BGH, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 12 ff.), scheidet hier aus.

c) Nach diesen Maßgaben hat das Landgericht es im vorliegenden Fall rechtsfehlerhaft unterlassen, über einen Härteausgleich zu entscheiden.

aa) Wäre die dem angefochtenen Urteil vorausgegangene Verurteilung des Angeklagten in Polen vom 17. Juli 2020 durch ein deutsches Gericht erfolgt, hätten die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB vorgelegen. Dass die zugrundeliegende Einzelstrafe wegen der Tat vom 24. Januar 2019 in einer polnischen „Gesamtstrafe“ aufgegangen ist, welche angesichts der zäsurbildenden Wirkung einer weiteren (polnischen) Verurteilung nach hiesigen Grundsätzen zur nachträglichen Gesamtstrafe nicht hätte gebildet werden können, lässt die Notwendigkeit eines Härteausgleichs nicht entfallen. Eine ausgleichspflichtige Härte lässt sich schon deshalb nicht ausschließen, weil die dem Angeklagten mit dem polnischen Urteil vom 17. Juli 2020 auferlegte Freiheitsstrafe bei einer Gesamtstrafenbildung nach deutscher Rechtslage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 StGB) vollständig in der hiesigen lebenslangen Freiheitsstrafe aufgegangen wäre.

bb) Ein Fall, in dem ohne den die Unanwendbarkeit des § 55 StGB begründenden Umstand die Feststellung der besonderen Schuldschwere auf der Hand gelegen hätte und deshalb ein ausgleichspflichtiger Nachteil zu verneinen ist (vgl. zu solcher Konstellation BGH, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 2 StR 403/09, BGHSt 55, 1 Rn. 8 f.; Beschluss vom 28. Mai 2009 - 5 StR 184/09; Beschluss vom 23. Juli 2008 - 5 StR 293/08, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 15), liegt nicht vor. Das Landgericht hat der aus der nicht möglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Härte auch nicht bereits in anderer Weise Rechnung getragen (vgl. zu einem solchen Fall BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 - 4 StR 599/19, NStZ-RR 2020, 122). Insbesondere hat es diese bei seiner Entscheidung, die besondere Schwere der Schuld zu verneinen, nicht erörtert, sondern ausschließlich andere Strafmilderungsgründe herangezogen.

d) Ob eine Entscheidung über einen Härteausgleich dann entbehrlich gewesen wäre, wenn sicher zu erwarten wäre, dass die vom Landgericht verhängte lebenslange Freiheitsstrafe in Polen vollstreckt und in dem zu diesem Zweck dort zu führenden Verfahren zum Erlass eines Gesamturteils der Nachteil - unter Beachtung des Art. 8 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI - ausgeglichen werden könnte (vgl. zu dem polnischen Verfahren zum Erlass eines Gesamturteils EuGH, Urteil vom 15. April 2021 - C-221/19, NJW 2021, 3107 mit Schlussantrag des Generalanwalts de la Tour vom 8. Oktober 2020, BeckRS 2020, 26217), kann dahinstehen. Denn auch dies ist hier nicht der Fall. Ausweislich der Urteilsgründe ist es vielmehr nur „sehr wahrscheinlich, dass die Republik Polen die Vollstreckung der hiesigen Strafe übernehmen wird“. Eine Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe in Deutschland kann daher auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden.

3. Die Sache bedarf im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen sind von dem Wertungsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende, zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehende Feststellungen treffen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1145

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede