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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 747

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 501/21, Beschluss v. 10.05.2022, HRRS 2022 Nr. 747


BGH 2 StR 501/21 - Beschluss vom 10. Mai 2022 (LG Frankfurt am Main)

Selbstleseverfahren (Aufnahme im Protokoll: Fehlen des Vermerks, Inbegriffsrüge, kein verwertbarer Beweisstoff; formalisiertes Verfahren für die Protokollberichtigung für den Fall der Rügeverkümmerung: Ablauf, revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

§ 249 Abs. 2 StPO; § 274 StPO; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wird der Urkundenbeweis im Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Dabei muss für die Berufsrichter und Schöffen die erfolgte Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden festgestellt werden, während für die übrigen Verfahrensbeteiligten die Feststellung der Gelegenheit zur Kenntnisnahme genügt. Die Durchführung eines Selbstleseverfahrens kann als wesentliche Verfahrensförmlichkeit nur durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen werden (§ 274 Satz 1 StPO). Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet, da die dem Selbstverfahren zugeführten Urkunden als verwertbarer Beweisstoff nicht zur Verfügung standen.

2. Für den Fall der sogenannten Rügeverkümmerung hat der Bundesgerichtshof im Wege der - vom Bundesverfassungsgericht gebilligten (vgl. BVerfGE 122, 248) - Rechtsfortbildung zur Sicherung der Rechtsposition des Beschwerdeführers ein formalisiertes Verfahren für die Protokollberichtigung geschaffen, das es streng zu beachten gilt. Dies setzt hohe Anforderungen an die Sorgfalt der in Frage stehenden Berichtigung voraus, deren Grundlage die sichere Erinnerung der beiden Urkundspersonen über das tatsächliche Prozessgeschehen ist.

3. Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer zusammen mit den dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Die Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falles eingehen. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren. Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll ausweislich des ihm erinnerlichen Verfahrensablaufs richtig ist, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten zu den tatsächlichen Abläufen einzuholen. Hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren.

4. Halten die Urkundspersonen die Niederschrift beide für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung - diese ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls abweichende Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzugehen.

5. Die Gründe der zulässigen Berichtigungsentscheidung unterliegen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 24. Juni 2021, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch mit den Feststellungen zum Wirkstoffgehalt des am 8. September 2020 sichergestellten Amphetamins aufgehoben; im Übrigen bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten und den nicht revidierenden Mitangeklagten C. wegen „unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln (Amphetamin) in nicht geringer Menge“ zu Freiheitsstrafen von jeweils vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Es hat bei beiden Angeklagten jeweils ein sichergestelltes EncroChat-Mobiltelefon und bei C. darüber hinaus insgesamt 97.295,7 g Amphetamin, näher dargestellte Chemikalien und Utensilien zur Amphetaminherstellung sowie Haschisch und Marihuana in geringerem Umfang eingezogen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen verabredete der Angeklagte mit einem verdeckten Ermittler am 31. August 2020 die Lieferung von 100 kg Amphetamin mittlerer Qualität für insgesamt 110.000 €. Bei wem der Angeklagte das Rauschgift bestellte, konnte nicht festgestellt werden. C. beteiligte sich zur Umsetzung des gemeinsamen Tatplanes an der Herstellung des Amphetamins und übernahm nach Weisung des Angeklagten mittels der sichergestellten EncroChat-Mobiltelefone die Auslieferung der Drogen. Anlässlich der Übergabe von 87.557,1 g Amphetamin an einen weiteren verdeckten Ermittler erfolgte die Verhaftung des C. Zeitgleich wurde der Angeklagte, der zuvor in einer von beiden Angeklagten mit einem unbekannten Tatgenossen genutzten SkyECC-Chatgruppe die Übergabe der Drogen durch C. freigegeben hatte und der mit dem Scheinaufkäufer in einem Restaurant auf die Bestätigung der Drogenübergabe zur Entgegennahme des Kaufpreises wartete, festgenommen. Bei der anschließenden Durchsuchung der Wohnung und der Kellerräume des C. wurden weitere 9.738,6 g Amphetaminzubereitung, die eingezogenen Chemikalien und Utensilien zur Amphetaminherstellung sowie 95,5 g Haschisch und 3,5 g Marihuana sichergestellt.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des angegriffenen Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

3. Hingegen führt die zulässig erhobene Verfahrensrüge, die Strafkammer habe bei ihrer Überzeugungsbildung unter Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 261 StPO Urkunden eines Selbstleseverfahrens verwertet, bei dem eine Kenntnisnahme durch die Berufsrichter nicht festgestellt sei, zur Aufhebung des - insoweit alleine betroffenen - Strafausspruchs. Die von den Urkundspersonen vorgenommene Protokollberichtigung erweist sich als unwirksam.

a) Der Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Am zweiten Hauptverhandlungstag, dem 6. April 2021, verkündete die Vorsitzende nach der Gewährung rechtlichen Gehörs den Beschluss, 24 näher bezeichnete Urkunden im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung einzuführen. Am 4. Hauptverhandlungstag, dem 12. April 2021, fragte sie, ob alle Verfahrensbeteiligten Kenntnis von dem Selbstleseordner genommen hätten und stellte ausweislich der Sitzungsniederschrift fest: „Die Schöffen, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, die Verteidiger sowie die Angeklagten erklärten, vom Inhalt des Selbstleseordners voll umfänglich Kenntnis genommen zu haben.“ Auf die Verfahrensrüge der Revision, dass nicht festgestellt und protokolliert sei, dass (auch) die Berufsrichterinnen vom Wortlaut der Urkunden des Selbstleseordners Kenntnis genommen hätten und auch eine anderweitige Einführung der Urkunde unterblieben sei, leitete die Strafkammervorsitzende am 3. Dezember 2021 ein Protokollberichtigungsverfahren ein. Zuvor hatte sie am 19. November 2021 folgende dienstliche Erklärung abgegeben: „Nach meiner Erinnerung habe ich nach Befragung auch festgestellt, dass die Berufsrichterinnen die Selbstlesemappe durch Lesen zur Kenntnis genommen haben. Dies entspricht auch meinen Notizen und der von mir verwendeten Formulierung, die auch aus dem Sitzungsprotokoll vom 14.06.2021, S. 2, ersichtlich ist.“ Der von der Vorsitzenden in Bezug genommene Abschluss eines weiteren Selbstleseverfahrens am 14. Juni 2021 hat folgenden Inhalt: „Es wurde festgestellt, dass sämtliche Verfahrensbeteiligte Gelegenheit hatten, vom Inhalt der Selbstlesemappe Kenntnis zu nehmen und die Berufsrichterinnen und die Schöffinnen die Urkunden und Schriftstücke der Selbstlesemappe gelesen haben.“ Die Protokollführerin, der die Vorsitzende ihre dienstliche Erklärung zugeleitet hatte, erklärte unter dem 22. November 2021: „Ich kann mich daran erinnern, dass in der Sitzung gesagt wurde, dass die Richter und Schöffen die Urkunden gelesen haben. Es ist nur im Protokoll versehentlich nicht aufgenommen worden.“ Beide Instanzverteidiger widersprachen der Protokollberichtigung und erklärten, sie hätten keine Erinnerung daran, „dass die Feststellung aufgenommen worden sei, die Berufsrichterinnen hätten von der Selbstlesemappe durch Lesen Kenntnis genommen.“ Auch der Revisionsverteidiger widersprach der Protokollberichtigung, da die dienstlichen Erklärungen keine sichere Erinnerung der Urkundspersonen an die Geschehnisse vom 12. April 2021 belegten. Die von der Vorsitzenden in Bezug genommenen Notizen seien nicht mitgeteilt, die Formulierung zum Abschluss des weiteren Selbstleseverfahrens vom 14. Juni 2021 spreche eher für das Gegenteil dessen, was sie belegen solle.

Mit Beschluss vom 10. Januar 2022 berichtigten die beiden Urkundspersonen das Protokoll vom 12. April 2021 wie folgt: „Die Schöffen, die Berufsrichterinnen, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, die Verteidiger sowie die Angeklagten erklärten, von dem Inhalt des Selbstleseordners voll umfänglich durch Lesen Kenntnis genommen zu haben.“ In der Beschlussbegründung ist ausgeführt, die Vorsitzende habe sich daran erinnert, dass sie nach Befragung der Beteiligten auch festgestellt habe, dass die Berufsrichterinnen durch Lesen Kenntnis vom Inhalt des Selbstleseordners genommen haben. Die verwendete Formulierung der Vorsitzenden in der Hauptverhandlung sei daher mit der aus dem Sitzungsprotokoll vom 14. Juni 2021 vergleichbar. Die Urkundsbeamtin habe dienstlich erklärt, dass sie sich daran erinnere, dass die Vorsitzende in der Sitzung mitgeteilt habe, dass die „Richter und Schöffen“ die Urkunden gelesen haben, dies nur versehentlich nicht in das Protokoll aufgenommen habe. Mithin stimmten die Erinnerung der Protokollführerin und der Vorsitzenden überein. Der beabsichtigten Protokollberichtigung hätten die Beteiligten nicht substantiiert widersprochen. Insbesondere dürfe es nicht darauf ankommen, ob sie sich daran erinnern könnten, was „aufgenommen“ wurde, sondern vielmehr darauf, was die Vorsitzende tatsächlich gesagt und damit mündlich festgestellt habe.

b) Danach sind die Urkunden des am 6. April 2021 angeordneten Selbstleseverfahrens nicht in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden.

aa) Da der Urkundsbeweis im Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10, NStZ 2010, 712). Dabei muss für die Berufsrichter und Schöffen die erfolgte Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden festgestellt werden, während für die übrigen Verfahrensbeteiligten die Feststellung der Gelegenheit zur Kenntnisnahme genügt (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2014 - 1 StR 706/13, juris Rn. 3). Die Durchführung eines Selbstleseverfahrens kann als wesentliche Verfahrensförmlichkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR 33/11, juris Rn. 15) nur durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen werden (§ 274 Satz 1 StPO). Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet, da die dem Selbstverfahren zugeführten Urkunden als verwertbarer Beweisstoff nicht zur Verfügung standen (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2017 - 3 StR 424/16, juris Rn. 7).

bb) Diesen Maßstäben genügte der am 12. April 2021 protokollierte Abschluss des Selbstleseverfahrens nicht. Dabei kann offenbleiben, ob der hier protokollierten Formulierung angesichts ihrer atypischen Ausgestaltung im Wege der Auslegung entnommen werden kann, dass die Schöffen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen haben (vgl. zur Auslegung der Feststellung nach § 249 Abs. 3 Satz 2 StPO BGH, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 StR 499/20, juris Rn. 25). Denn es fehlt eine entsprechende Feststellung für die Berufsrichterinnen (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 23. März 2006 - 4 StR 584/05, BGHR StPO § 249 Kenntnisnahme 3).

c) Die von den Urkundspersonen vorgenommene Protokollberichtigung bleibt ohne Wirkung. Sie entzieht der Verfahrensrüge nicht die Grundlage.

aa) Für den Fall der sogenannten Rügeverkümmerung hat der Bundesgerichtshof (vgl. Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298 Rn. 61 ff.) im Wege der - vom Bundesverfassungsgericht gebilligten (vgl. BVerfGE 122, 248) - Rechtsfortbildung zur Sicherung der Rechtsposition des Beschwerdeführers ein formalisiertes Verfahren für die Protokollberichtigung geschaffen, das es streng zu beachten gilt. Dies setzt hohe Anforderungen an die Sorgfalt der in Frage stehenden Berichtigung voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, 33), deren Grundlage die sichere Erinnerung der beiden Urkundspersonen über das tatsächliche Prozessgeschehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, aaO; Senat, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 2 StR 158/10, NStZ 2011, 168; BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, aaO; vom 5. Juni 2019 - 4 StR 130/19, juris Rn. 8).

Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer zusammen mit den dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Die Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falles eingehen. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren (BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, aaO). Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll ausweislich des ihm erinnerlichen Verfahrensablaufs (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 StR 485/10, juris Rn. 29) richtig ist, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten zu den tatsächlichen Abläufen einzuholen (BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, aaO). Hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren.

Halten die Urkundspersonen die Niederschrift beide für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung - diese ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls abweichende Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzugehen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, aaO).

Die Gründe der zulässigen Berichtigungsentscheidung unterliegen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, aaO; Senat, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 2 StR 158/10, aaO; BGH, Beschlüsse vom 29. Juni 2011 - 4 StR 56/11, juris Rn. 3; vom 15. Dezember 2011 - 1 StR 579/11, NJW 2012, 1015).

d) Diesen strengen Anforderungen genügt die vorgenommene Protokollberichtigung bereits deshalb nicht, weil der Berichtigungsbeschluss durch die dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen nicht getragen wird.

(1) Die Erklärung der Vorsitzenden belegt zwar inhaltlich ihre Erinnerung, auch festgestellt zu haben, dass die Berufsrichterinnen die Selbstlesemappe durch Lesen zur Kenntnis genommen haben. Dies wird indes, entgegen ihrer Darstellung, durch die von ihr in Bezug genommene Formulierung zum Abschluss des weiteren Selbstleseverfahrens aus dem Sitzungsprotokoll vom 14. Juni 2021 nicht belegt. Denn während dort - dem üblichen Wortlaut einer Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO entsprechend - protokolliert ist, dass sämtliche Verfahrensbeteiligten Gelegenheit hatten, vom Inhalt der Selbstlesemappe Kenntnis zu nehmen und die Berufsrichterinnen und Schöffen die Urkunde und Schriftstücke der Selbstlesemappe gelesen haben, ist am 12. April 2021 abweichend davon protokolliert, dass die Schöffinnen, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, die Verteidiger sowie die Angeklagten, mithin jenseits der Mitglieder des Spruchkörpers vermeintlich alle übrigen Verfahrensbeteiligten den Inhalt des Selbstleseordners ? augenscheinlich gemeint im Wortlaut ? zur Kenntnis genommen haben. Die am 12. April 2021 protokollierte Feststellung geht damit inhaltlich deutlich über diejenige vom 14. Juni 2021 hinaus und ist mit ihr gerade nicht vergleichbar. Sie zeigt vielmehr, dass die Vorsitzende unterschiedliche Formulierungen zum Abschluss eines Selbstleseverfahrens verwendet.

(2) Die Erklärung der Protokollführerin beschränkt sich auf die Erinnerung, dass die „Richter und Schöffen“ die Urkunden gelesen haben. Ein weitergehender Hinweis, für die im Berichtigungsbeschluss ausgewiesene überobligatorischen Feststellung, dass auch die übrigen Verfahrensbeteiligten den Inhalt des Selbstleseordners voll umfänglich „durch Lesen“ zur Kenntnis genommen haben, ist ihrer dienstlichen Erklärung indes nicht zu entnehmen. Wenngleich der Protokollfeststellung, dass die Berufsrichter und die Schöffen vom Inhalt einer Urkunde Kenntnis genommen haben, regelmäßig zu entnehmen sein wird, dass die Erklärenden auch von deren Wortlaut Kenntnis genommen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, aaO), erschließt sich dies für die übrigen Verfahrensbeteiligten keineswegs von selbst.

Damit ist hier die ursprüngliche Feststellung einer voll umfänglichen Kenntnisnahme nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der weiteren Feststellung im Berichtigungsbeschluss, dass auch die übrigen Verfahrensbeteiligten den Selbstleseordner „durch Lesen“ voll umfänglich zur Kenntnis genommen haben. Auch wer den Inhalt einer Urkunde überfliegt, nimmt diese voll umfänglich zur Kenntnis, so dass dem Zusatz „durch Lesen“ hier jedenfalls hinsichtlich der weiteren Verfahrensbeteiligten eine eigenständige Bedeutung zukommt, die durch die dienstliche Erklärung der Protokollführer nicht gedeckt ist. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Strafkammer die Kenntnisnahme durch (wörtliches) Lesen ausdrücklich zum Gegenstand der Berichtigung gemacht hat.

(3) Angesichts dessen bedarf es keiner Entscheidung, ob sich der Berichtigungsbeschluss auch deshalb formell als rechtsfehlerhaft erweist, weil weder ihm noch der dienstlichen Erklärung der Protokollführerin zu entnehmen ist, auf welcher tatsächlichen Grundlage deren sichere Erinnerung über das Prozessgeschehen beruht.

e) Die Rüge hat nur hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg, weil das Urteil allein insoweit auf dem Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).

aa) Die Strafkammer hat ihrer Strafzumessung nicht verwertbaren Beweisstoff zu Grunde gelegt (§ 261 StPO).

(1) Sie hat ihre Überzeugung einer Überschreitung der Wirkstoffmenge (Amphetaminbase) um das 348-fache der nicht geringen Menge im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG alleine auf das Gutachten zur Wirkstoffkonzentration der Generalzolldirektion vom 16. November 2020 gestützt und dem Angeklagten strafschärfend zur Last gelegt, dass der „Grenzwert zur nicht geringen Menge erheblich und um das Vielfache überschritten wurde“.

(2) Das war rechtsfehlerhaft, weil dieses Gutachten Gegenstand des beanstandeten Selbstleseverfahrens war und damit nicht in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden ist.

(3) Dies bedingt die Aufhebung der Feststellung zum Wirkstoffgehalt. Die weitergehenden - rechtsfehlerfrei getroffenen ? Feststellungen bleiben unberührt (§ 353 Abs. 2 StPO). Die Menge der übergebenen Drogen ist auch durch die Aussagen der ermittelnden Beamten und den vom Auffinden gefertigten Lichtbildern hinreichend belegt. Auf das Sicherstellungsprotokoll vom 8. September 2020, das ebenfalls Bestandteil des beanstandeten Selbstleseverfahrens ist, kommt es danach nicht an.

bb) Der Schuldspruch und die Einziehungsentscheidung bleiben von dem Rechtsfehler unberührt.

(1) Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten entgegen der Ansicht der Revision auch nicht ergänzend auf weitere Urkunden des am 6. April 2021 eingeleiteten Selbstleseverfahrens gestützt. Soweit diese überhaupt Erwähnung im Urteil finden, betreffen sie den Mitangeklagten oder stützen die Darstellung des Angeklagten (SkyECC-Chat), der die Strafkammer insoweit gefolgt ist, wobei sie zusätzlichen umfangreichen Chatverkehr durch Verlesung eingeführt hat. Dabei ist es für den Schuldspruch ohne Belang, dass allein durch das oben genannte Gutachten belegt ist, dass es sich bei der von C. an den verdeckten Ermittler übergebenen Drogen um 87.557,1 g Amphetamin handelte und sich weitere 9.738,6 g Amphetamin in dessen Keller befanden. Der Angeklagte hat allein durch den verabredeten Verkauf von 100 kg Amphetamin in mittlerer Qualität an einen verdeckten Ermittler den Tatbestand des Handeltreibens in nicht geringer Menge erfüllt (vgl. Senat, Urteil vom 15. Januar 1992 - 2 StR 267/91, BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 31). Einer Übergabe der Betäubungsmittel bedurfte es zur Tatvollendung nicht (vgl. Patzak in Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., § 29 BtMG Rn. 272).

(2) Auch die Einziehungsentscheidung ist nicht betroffen. Diese betrifft mit Ausnahme eines EncroChat-Mobiltelefons den Mitangeklagten C. Die Nutzung des eingezogenen Mobiltelefons zur Tatausführung hat der Angeklagte eingeräumt.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 747

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß