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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 710

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 99/22, Beschluss v. 12.05.2022, HRRS 2022 Nr. 710


BGH 5 StR 99/22 - Beschluss vom 12. Mai 2022 (LG Lübeck)

Verminderte Schuldfähigkeit (Begriff der Steuerungsfähigkeit; psychische Störung; Auswirkung auf die konkrete Tat; Prüfungsreihenfolge); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 64 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen. Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden. Denn auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden.

2. Die Frage, ob und gegebenenfalls welche psychische Störung beim Angeklagten vorliegt, muss in der Regel - notfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes - in einem ersten Schritt beantwortet werden. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese tatsächlich festgestellte Störung rechtlich unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Erst auf dieser Grundlage kann in einem dritten Schritt geprüft werden, ob sich eine von § 20 StGB erfasste Störung auch im Sinne des § 21 StGB erheblich auf die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 11. November 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts tötete der seit Jahren zurückgezogen lebende alkoholabhängige Angeklagte nach zwei Tagen Eigenentzugs in den Morgenstunden des 30. Dezember 2020 in seinem verwahrlosten und mit Müll und Unrat vollgestellten Haus einen flüchtenden Einbrecher mit drei Schüssen in den Rücken. Zwei Freunde waren gegen 3 Uhr nachts über den Keller in das vermeintlich leerstehende Haus eingedrungen, um dort zu stehlen, und waren von dem um diese Zeit einen Film schauenden Angeklagten bemerkt worden, der daraufhin Angst bekam. Der Angeklagte, ein ehemaliger Unteroffizier und Sportschütze, nahm eine geladene Pistole, ging damit in die vor seinem Wohnzimmer im Dachgeschoss gelegene Küche, stellte sich mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke, um die Pistole zu verbergen, und wartete auf die Einbrecher. Als der überlebende Einbrecher Licht in der Küche, den eingeschalteten Fernseher und schließlich hinten rechts in einer Ecke der Küche den Angeklagten erblickte, der ihm den Rücken zuwandte, wandte er sich zu seinem später getöteten Freund und sagte leise: „Ey, psst, da ist einer.“ Plötzlich drehte sich der Angeklagte um, schrie etwas wie: „uaaahh“ und lief auf beide Einbrecher zu. Diese gerieten in Panik und rannten die mit Sachen vollgestellte Treppe herunter. Der ihnen hinterherlaufende Angeklagte schoss von der Treppe aus dreimal gezielt auf einen der flüchtenden Männer, um ihn zu töten. Alle drei Schüsse verletzten diesen schwer, es gelang ihm aber noch, nach draußen auf die Straße zu flüchten. Der Angeklagte lief beiden hinterher, schrie laut: „Ihr Schweine“, holte den schwerverletzten Flüchtenden ein, nahm kurz Kontakt zu ihm auf und ging dann ins Haus zurück.

Entgegen der Auffassung der hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen ist das Landgericht von einer uneingeschränkt erhalten gebliebenen Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung ausgegangen. Die Voraussetzungen einer Notwehrüberschreitung nach § 33 StGB hat es nicht ausdrücklich geprüft. Auf dieser Grundlage hat es aus dem Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren verhängt. Eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hat es abgelehnt.

2. Die Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB weist in mehrerlei Hinsicht Rechtsfehler auf.

a) Das Landgericht hat dabei zunächst die Angaben der hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen referiert, die den Angeklagten an zwei Tagen exploriert hat: Danach trinke der Angeklagte seit Jahren Alkohol im Übermaß. Auffallend bei seinen Lebensumständen sei ein vermehrter sozialer Rückzug infolge Abbruchs praktisch aller sozialen Kontakte, eine zunehmende Verwahrlosung und Vernachlässigung seines Lebensumfeldes sowie eine sich parallel dazu immer weiter verfestigende Abhängigkeitserkrankung. Das MRT des Angeklagten zeige eine diskrete Hirnvolumenreduzierung, die jedoch nicht wesentlich über die Altersnorm (Geburtsjahr 1963) hinausgehe. Eine nähere Abklärung sei ihr insoweit nicht möglich gewesen, weil der Angeklagte einer neuropsychologischen Testung nicht zugestimmt habe. Bei dem Angeklagten sei eine Alkoholabhängigkeit zu diagnostizieren, die mutmaßlich zu einer diskreten alkoholbedingten organischen Wesensveränderung (krankhafte seelische Störung) geführt habe. Typisch für solche Wesensveränderungen bei chronischem Alkoholkonsum seien etwa Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und kognitiver Leistungsgeschwindigkeit sowie organische Persönlichkeitsveränderungen im Sinne einer zunehmenden Entdifferenzierung und Nivellierung („Entfernung“ der Persönlichkeit). Dazu gehörten etwa die Einengung der persönlichen Interessen auf die Aufrechterhaltung der Sucht, Gereiztheit und depressive Verstimmungen. Auch eine erkennbar gesteigerte Aggressionsbereitschaft durch Verminderung hemmender psychischer Mechanismen könne damit einhergehen. Der Angeklagte fiele zwar nicht durch schwere kognitive Defizite auf, aber es sei bei ihm von einer Kritikminderung in verschiedenen sozialen Situationen auszugehen. Diese Kritikminderung und die zunehmende „Versandung“ seiner Persönlichkeit komme durch sozial inadäquate Verhaltensweisen zum Ausdruck. Es sei ihm etwa zu Hause nicht mehr gelungen, Ordnung zu halten. Sein Hauptinteresse habe dem Alkohol gegolten, und er habe alle Kontakte abgebrochen. Die Wesensveränderung sei als leichtgradig einzustufen, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sei aber letztlich nicht auszuschließen.

b) Die Strafkammer ist diesen Ausführungen nicht gefolgt. Es handele sich um eine bloße Verdachtsdiagnose, weil eine sichere Abklärung mangels neuropsychologischer Testung nicht möglich gewesen sei. Die Sachverständige gehe nur von einer leichtgradigen organischen Wesensveränderung aus, ohne unter Berücksichtigung des konkreten Tatablaufs näher zu begründen, warum sie eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht auszuschließen vermöge. Nach Auffassung der Kammer hätten die von der Sachverständigen beschriebenen Verhaltensänderungen die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht tangiert, auch wenn die Sachverständige von einem chronischen Bedrohungserleben des Angeklagten angesichts früherer Einbrüche in das verwahrloste Haus und einer gewissen Kritikminderung in bestimmten sozialen Situationen berichtet habe. Beides habe die Tat nicht beeinflusst. Der Angeklagte sei ein im Umgang mit Waffen erfahrener Mann und habe in der konkreten Tatsituation sehr überlegt und strukturiert gehandelt. Er habe nicht plötzlich aus Angst oder Panik auf die beiden Einbrecher geschossen, sondern die Tatsituation beherrscht, sich zunächst bewaffnet und danach erst einmal abgewartet, um die Eindringlinge mit der Waffe in der Hand zu überraschen. Dann sei er aggressiv auf sie zugetreten, habe aber auch jetzt noch nicht sofort geschossen. Zum Täter sei er erst geworden, nachdem sie für ihn erkennbar bereits die Flucht angetreten hatten und vor ihm die Treppe hinunterliefen. Auch sein Nachtatverhalten sei keineswegs von Angst oder Panik geprägt.

c) Diese Begründung wird den rechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

aa) Zum einen bleibt nach den Ausführungen unklar, ob die Strafkammer überhaupt vom Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne von § 20 StGB ausgegangen ist. Dies durfte aber nach den von der Sachverständigen im Hinblick auf die Lebensweise des Angeklagten plausibel dargelegten Hinweisen für eine krankhafte seelische Störung in Form einer alkoholbedingten organischen Wesensveränderung (ICD 10: F10.7) nicht offenbleiben. Die Frage, ob und gegebenenfalls welche relevante Störung beim Angeklagten vorliegt, muss in der Regel - notfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14; vom 14. Juni 2016 - 1 StR 221/16) - in einem ersten Schritt beantwortet werden. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese tatsächlich festgestellte Störung rechtlich unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Erst auf dieser Grundlage kann in einem dritten Schritt geprüft werden, ob sich eine von § 20 StGB erfasste Störung auch im Sinne des § 21 StGB erheblich auf die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung ausgewirkt hat.

bb) Soweit das Schwurgericht den erheblichen Einfluss einer etwaigen Störung auf die konkrete Tatbegehung verneint hat, geht seine Argumentation teils von falschen Prämissen aus und ist teils lückenhaft.

(1) Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen. Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden. Denn auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7, 8 mwN).

(2) Diese Grundsätze hat die Strafkammer bei ihrer Prüfung nicht berücksichtigt, sondern allein auf das gezielte Vorgehen des Angeklagten abgestellt. Unberücksichtigt gelassen hat sie zudem, dass sich das von der psychiatrischen Sachverständigen geschilderte Störungsbild in Symptomen wie Gereiztheit, gesteigerter Aggressionsbereitschaft durch Verminderung hemmender psychischer Mechanismen und Kritikminderung in sozialen Situationen niederschlagen soll, wofür das Tatbild jedenfalls auch Anhaltspunkte bietet. Zu den Auswirkungen des zweitägigen Entzuges auf den seit Jahren alkoholabhängigen Angeklagten in der Tatsituation verhalten sich weder die Sachverständige noch das Gericht. Hierzu hätte aber Anlass bestanden, weil der Angeklagte selbst erhebliche Einschränkungen wie u.a. andauernde Schlaflosigkeit behauptet hat.

3. Der Rechtsfehler wirkt sich auch auf den Schuldspruch aus. Ausgehend von seinem abweichenden Ansatz hat das Landgericht nicht ausdrücklich geprüft, ob die Voraussetzungen des § 33 StGB vorliegen. Auch wenn die bisherigen Feststellungen dies nicht ohne weiteres nahelegen, kann eine abweichende Beurteilung der Schuldfähigkeit Anlass zu einer solchen Prüfung geben.

4. Die Entscheidung, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abzusehen, weist ebenfalls Rechtsfehler auf. Entscheidend hat die Strafkammer dabei darauf abgestellt, dass der Angeklagte nicht unter Alkoholeinfluss gehandelt hat, sondern seit zwei Tagen abstinent war.

Erfasst von § 64 StGB werden aber nicht nur Rauschtaten, sondern auch solche, die in anderer Weise auf den Hang zurückgehen. Die Strafkammer hat nicht näher geprüft, ob die Tatbegehung etwa auch auf die Alkoholabhängigkeit des Angeklagten zurückgeht, obwohl dies vorliegend nicht fernliegt (vgl. zum Maßstab BGH, Beschluss vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, StV 2017, 672, 673 mwN; zum symptomatischen Zusammenhang bei einer aufgrund von Entzugserscheinungen begangenen Tat auch BGH, Beschluss vom 7. September 1994 - 2 StR 466/94).

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass gegebenenfalls auch zu prüfen sein wird, ob der Angeklagte in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB unterzubringen ist. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die erstmalige Verhängung einer Maßregel nach §§ 63, 64 StGB nicht (vgl. § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 710

Bearbeiter: Christian Becker