hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 624

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 442/21, Urteil v. 02.02.2022, HRRS 2022 Nr. 624


BGH 2 StR 442/21 - Urteil vom 2. Februar 2022 (LG Limburg an der Lahn)

Beweiswürdigung (eingeschränkte Revisibilität; Gesamtwürdigung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Indizien; Wiedererkennen eines Täters: suggestive Wirkung, erneute Identifizierung im Rahmen der Hauptverhandlung).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Beweisanzeichen können wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb ihre Inbezugsetzung zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt.

2. Dem Wiedererkennen eines Täters auf einer Einzellichtbildvorlage kommt wegen der damit verbundenen suggestiven Wirkung nur ein geringer Beweiswert zu. Bei einer erneuten Identifizierung im Rahmen der Hauptverhandlung besteht eine verstärkte Suggestibilität der Identifizierungssituation. In welchem Umfang im konkreten Fall dem Wiedererkennen Beweiswert zukommt, hat das Tatgericht jedoch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 9. Juni 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und ihm Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugesprochen. Gegen den Freispruch wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Mit unverändert zugelassener Anklage der Staatsanwaltschaft Limburg an der Lahn vom 14. Februar 2020 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, dem Nebenkläger in einer Diskothek mit einer Glasscherbe einen Schlag gegen die rechte Halsseite versetzt und dabei dessen Tod billigend in Kauf genommen zu haben. Sodann habe er ihm eine Flasche gegen die rechte Gesichtshälfte geschlagen und mit Fäusten und Tritten auf sein Opfer eingewirkt. Anschließend sei er geflüchtet.

II.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. In den frühen Morgenstunden des 26. August 2018 wurde der Nebenkläger im Zuge einer Auseinandersetzung in einer Diskothek in Limburg an der Lahn schwer verletzt. Zu Beginn des Geschehens befand er sich - wie auch der Angeklagte - im sog. „Raucherraum“. Dort beleidigte der mit dem Angeklagten befreundete, stark alkoholisierte Zeuge E. ohne Anlass den Nebenkläger und näherte sich diesem in bedrohlicher Haltung, woraufhin der Nebenkläger den Zeugen von sich wegschob. In diesem Moment erhielt der Nebenkläger von einer unbekannten Person außerhalb seines Blickfelds Schläge mit einer Glasscherbe gegen seine rechte Halsseite; als er sich aufmachte, den Raucherraum zu verlassen, wurde ihm mit einer Flasche gegen seine rechte Gesichtshälfte geschlagen. Es entwickelte sich eine Schlägerei, an der eine unbekannte Anzahl von Personen beteiligt war, darunter sowohl der Zeuge als auch der Angeklagte. Der Nebenkläger, der den Raucherraum zwischenzeitlich verlassen hatte, wurde dabei von einer unbekannten Person mehrfach mit den Fäusten geschlagen, so dass er zu Boden ging; dort liegend wurde auf seinen Kopf eingetreten. Er konnte sich blutüberströmt in den Eingangsbereich der Diskothek schleppen, bevor er dort zusammenbrach. Der Angeklagte und seine Begleiter flüchteten. Durch den Schlag gegen die rechte Halsseite erlitt der Nebenkläger einen Schnitt, der sich von unterhalb des rechten Ohres bis zum Schlüsselbein zog und so tief war, dass der Ansatz der Lunge bereits erkennbar war. Er konnte nur durch eine sofortige Notoperation gerettet werden.

2. Die Strafkammer hat sich von der Täterschaft des Angeklagten, der sich nicht zur Sache eingelassen hat, nicht zu überzeugen vermocht.

Der Nebenkläger habe den Angeklagten zwar im Rahmen einer Lichtbildvorlage als Täter identifiziert und sei sich auch noch in der Hauptverhandlung sicher, dass er den Angeklagten als Täter wiedererkenne. Jedoch habe er nicht gesehen, wer die Schläge im Raucherraum ausgeführt habe, sondern habe diese lediglich jener Person zugeordnet, die in dem stark frequentierten Raucherraum rechts neben ihm gestanden habe. Außerdem habe der Nebenkläger zunächst auf Wahlbildlichtvorlagen den Angeklagten nicht als Täter identifizieren können, sondern erst dann, als ihm ein in der Tatnacht aufgenommenes einzelnes Lichtbild des Angeklagten vorgelegt worden sei.

Zwar passe auch die Beschreibung des Nebenklägers der durch den Täter getragenen Kleidung zu jener des Angeklagten in der Tatnacht. Indes sei gut denkbar, dass sich weitere junge Männer in ähnlicher Bekleidung in der Diskothek aufgehalten hätten.

Schließlich entlaste die Zeugin M. den Angeklagten, da diese glaubhaft geschildert habe, dass sich dieser noch bei Beginn der Auseinandersetzung bei ihr befunden habe. Treffe die Annahme des Nebenklägers zu, dass er von derselben Person sowohl in als auch vor dem Raucherraum angegriffen worden sei, scheide der Angeklagte insgesamt als Täter aus.

III.

Das Rechtsmittel des Nebenklägers hat Erfolg.

1. Die Revision des Nebenklägers ist zulässig. Da der Angeklagte von ausnahmslos nebenklagefähigen Delikten (vgl. § 395 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO) freigesprochen wurde, besteht kein Zweifel daran, dass der Nebenkläger mit der allein erhobenen Rüge der Verletzung sachlichen Rechts ein nach § 400 Abs. 1 StPO zulässiges Anfechtungsziel anstrebt (vgl. KK-StPO/Walther, 8. Aufl., § 400 Rn. 3).

2. Das Rechtsmittel ist auch begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteile vom 23. Juni 2021 - 2 StR 337/20 Rn. 6; BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 5 StR 103/21, NStZ-RR 2022, 25, 26 jeweils mwN).

b) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Strafkammer nicht gerecht.

aa) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob bereits die Würdigung der einzelnen Beweisanzeichen - wie der Generalbundesanwalt ausgeführt hat - für sich genommen durchgreifende Rechtsfehler aufweist.

bb) Es fehlt jedenfalls an der gebotenen Gesamtwürdigung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Indizien, vielmehr hat das Landgericht diese lediglich jeweils gesondert voneinander bewertet. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln. Beweisanzeichen können nämlich wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb ihrer Inbezugsetzung zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteile vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19 Rn. 15; vom 24. August 2016 - 2 StR 135/16 Rn. 8; BGH, Urteile vom 10. Juni 2021 - 5 StR 377/20 Rn. 8; vom 21. Mai 2015 - 4 StR 577/14 Rn. 14; vom 6. Februar 2002 - 1 StR 513/01, NJW 2002, 2188, 2189; vgl. auch KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 76 ff.).

Vorliegend wäre neben dem Wiedererkennen des Angeklagten durch den Nebenkläger, dem die Strafkammer im Ausgangspunkt zu Recht ein für sich genommen nur geringes Gewicht beigemessen hat, auch das gesamte Vor- und Nachtatgeschehen in eine solche Gesamtwürdigung einzubeziehen gewesen. Hierzu bestand schon deshalb Anlass, weil die Entstehung der Auseinandersetzung - Aggression durch den angetrunkenen Zeugen E. gegen den Nebenkläger - darauf hinweisen könnte, einen der beiden im Raucherraum befindlichen Freunde des Zeugen E., darunter der Angeklagte, als Täter näher in Betracht zu ziehen. In diesem Fall wäre auch die vom Nebenkläger abgegebene Täterbeschreibung hieran und nicht notwendigerweise im Vergleich zu allen zur Tatzeit in der Diskothek anwesenden Personen zu werten gewesen. Auch das Nachtatverhalten (Flucht aus der Diskothek, Anruf bei der Zeugin M., Reinigung des blutbefleckten Hemdes) weist Besonderheiten auf, die die Strafkammer im Rahmen einer Gesamtschau hätte erörtern und mit den weiteren Beweisanzeichen in Bezug setzen müssen. Dies lassen die Urteilsgründe vermissen.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

a) Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass dem Wiedererkennen eines Täters auf einer Einzellichtbildvorlage wegen der damit verbundenen suggestiven Wirkung nur ein geringer Beweiswert zukommt (vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2016 - 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90 mwN), zumal der Nebenkläger den Angeklagten im Rahmen der Wahllichtbildvorlage nicht zu identifizieren vermochte (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2012 - 5 StR 372/12, NStZ-RR 2012, 381, 382). Ebenfalls zutreffend hat das Landgericht beachtet, dass bei einer erneuten Identifizierung im Rahmen der Hauptverhandlung eine verstärkte Suggestibilität der Identifizierungssituation besteht (vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2016 - 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90). In welchem Umfang im konkreten Fall dem Wiedererkennen Beweiswert zukommt, hat das Tatgericht jedoch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. Senat, Beschluss vom 8. Dezember 2016 - 2 StR 480/16, StraFo 2017, 111, 112; BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2008 - 5 StR 439/08, NStZ 2009, 283), wobei hier maßgebliche Bedeutung jene äußeren Merkmale des Täters gewinnen, die für das Wiederkennen entscheidend waren (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 4 StR 412/15, StV 2018, 791).

Das neue Tatgericht wird hiervon ausgehend Gelegenheit haben, bei einer abschließenden Bewertung der Wiedererkennungsleistung des Nebenklägers näher als bislang geschehen in den Blick zu nehmen, inwieweit die Angaben des Nebenklägers, er habe den Angeklagten an dessen stechenden Augen wiedererkannt, was ihm erst im Laufe der Zeit bewusst geworden sei, für sich genommen nachvollziehbar sind, ob etwa der Angeklagte tatsächlich „stechende Augen“ hat und ob dies auf den unterschiedlichen Lichtbildern, die dem Nebenkläger gezeigt worden waren, zu erkennen gewesen wären. Auch wird in den Blick zu nehmen sein, dass der Nebenkläger nicht nur die Kleidung des Täters, sondern auch dessen Statur, Größe und Frisur näher beschrieben hat.

cc) Bei der Würdigung von Angaben der Zeugin M. wird das neue Tatgericht gegebenenfalls Gelegenheit haben, näher als bislang geschehen deren gesamtes Aussageverhalten einschließlich ihrer Angaben bei der Polizei in den Blick zu nehmen. Die Feststellung, die Zeugin habe „auffällige Erinnerungslücken“, ohne dass nachvollziehbar wird, worin diese bestehen, bedarf näherer Erörterung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 624

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß