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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 465

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2069/21, Beschluss v. 30.03.2022, HRRS 2022 Nr. 465


BVerfG 2 BvR 2069/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. März 2022 (OLG Hamm)

Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafverfolgung (Auslieferungshindernis der drohenden politischen Verfolgung als PKK-Kämpfer; bestandskräftige Flüchtlingsanerkennung in einem EU-Mitgliedstaat; richtlinienkonforme Auslegung; Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Recht auf den gesetzlichen Richter; Verfassungsverstoß bei grundsätzlicher Verkennung der Vorlagepflicht; Erfordernis einer Begründung der Entscheidung über die Vorlagepflicht; Unvollständigkeit der Rechtsprechung; willkürliche Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 288 Abs. 3 AEUV; Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 9 Abs. 3 Asyl-VRL; § 6 Satz 2 AsylG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Oberlandesgericht verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es eine Auslieferung an die Türkei ohne Vorlage an den EuGH für zulässig erklärt und dabei ein Auslieferungshindernis verneint, obwohl der Verfolgte, der sich darauf beruft, ihm drohe in der Türkei eine politische Verfolgung als Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in Italien bestandskräftig als Flüchtling anerkannt ist.

2. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist offen, ob § 6 Satz 2 AsylG, dem zufolge die Entscheidung über die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung internationalen Schutzes in Auslieferungsverfahren nicht verbindlich ist, mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 Asyl-VRL richtlinienkonform dahin auszulegen ist, dass jedenfalls eine bestandskräftige Anerkennung als Flüchtling in einem EU-Mitgliedstaat für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland verbindlich ist und damit einer Auslieferung an einen Drittstaat zwingend entgegensteht.

3. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ein nationales letztinstanzliches Gericht hat eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts dem EuGH vorzulegen, sofern nicht die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist.

4. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob ein Fachgericht die unionsrechtliche Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat. Dies ist der Fall, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht) oder wenn es ohne Vorlagebereitschaft bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht.

5. Von einer grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht ist erst recht auszugehen, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht oder wenn es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Um eine Kontrolle am Maßstab des Rechts auf den gesetzlichen Richter zu ermöglichen, hat das Gericht die Gründe für seine Entscheidung über die Vorlagepflicht anzugeben.

6. In den Fällen der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH verletzt das letztinstanzliche Hauptsachegericht mit einer Nichtvorlage das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet, indem es willkürlich davon ausgeht, die Rechtslage sei entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“).

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. November 2021 - III-2 Ausl. 180/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.

2. Die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, zur Strafverfolgung in die Türkei.

I.

1. Im Jahr 2010 reiste der Beschwerdeführer aus der Türkei aus und bat in Italien um politisches Asyl. Am 19. Mai 2010 wurde er von den italienischen Behörden als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt.

2. Gestützt auf einen Haftbefehl des 1. Schwurgerichts Bingöl/Türkei vom 3. Juni 2020, schrieben die türkischen Behörden den Beschwerdeführer über Interpol zur Festnahme zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung wegen Totschlags aus. Der Beschwerdeführer soll am 9. September 2009 nach einem Streit auf einem Tomatenfeld nach Hause zurückgekehrt sein und dort nach einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Vater und seinem Bruder seine Mutter mit einem Gewehrschuss getroffen haben. Die Mutter sei später im Krankenhaus an diesen Verletzungen verstorben.

3. Am 18. November 2020 wurde der Beschwerdeführer in Essen vorläufig festgenommen. Er erklärte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden und verzichtete nicht auf den Grundsatz der Spezialität.

4. Mit Beschluss vom 24. November 2020 ordnete das Oberlandesgericht die vorläufige Auslieferungshaft an. Die Auslieferung erweise sich nicht als von vornherein unzulässig. Der Beschwerdeführer sei türkischer Staatsangehöriger und die vorgeworfene Straftat sei sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht strafbar. Bislang sei keine Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Soweit die Haftbedingungen in der Türkei zumindest nicht durchgängig den europäischen Mindestgrundsätzen entsprächen, sei davon auszugehen, dass die türkischen Behörden die erforderlichen Zusicherungen abgeben würden. Ein Auslieferungshindernis sei weder konkret dargetan noch ersichtlich. Eine dem Beschwerdeführer in Italien erteilte Aufenthaltsberechtigung sei nur bis zum 29. Mai 2020 befristet gewesen. Er habe am 12. Mai 2020 einen Asylantrag in Deutschland gestellt, was darauf hindeute, dass sein Asylantrag in Italien abgelehnt worden sei. Die italienischen Behörden seien insoweit bereits um Auskunft gebeten worden. Konkrete Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung seien derzeit nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer halte sich erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in Deutschland auf und sei der deutschen Sprache nicht in ausreichendem Umfang mächtig. Angesichts des erheblichen Tatvorwurfs und der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe sei damit zu rechnen, dass er sich dem Auslieferungsverfahren nicht freiwillig stellen werde.

5. Im Schreiben vom 9. Dezember 2020 bestritt der Beschwerdeführer die Tat. Die Strafverfolgung habe maßgebliche politische Implikationen, da die türkischen Behörden ihn als Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (im Folgenden: PKK) verfolgten. Deshalb habe er auch in Italien um Asyl gebeten. Er habe einen Flüchtlingspass, der bis 2030 gültig sei. Aufgrund der wirtschaftlichen Krise in Italien könne er dort das wirtschaftliche Überleben seiner Familie nicht mehr sichern, weshalb er nach Deutschland gekommen sei. Es bestünden für ihn keine ernsthaften Fluchtmöglichkeiten und er werde sich dem Auslieferungsverfahren nicht entziehen.

6. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2020 wies das Oberlandesgericht die Einwände zurück. Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, dass ihm in der Türkei eine politische Verfolgung drohe, sei ein Auskunftsersuchen der Generalstaatsanwaltschaft abzuwarten. Er werde aufgefordert, den Flüchtlingspass vorzulegen. Der weitere Vollzug der Auslieferungshaft sei geboten und verhältnismäßig. Der durch die hohe Straferwartung gegebene Fluchtanreiz werde nicht durch hinreichend gefestigte familiäre, soziale und berufliche Bindungen ausgeräumt. Durch seine Verbindungen nach Italien bestünden durchaus ernsthafte Fluchtmöglichkeiten.

7. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2020 ordnete das Oberlandesgericht nach Eingang der Auslieferungsunterlagen die förmliche Auslieferungshaft an. Die türkischen Behörden würden vorsorglich um Auskunft gebeten, ob und wann der Beschwerdeführer bei einer Verurteilung zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe bedingt auf Bewährung aus der Strafhaft entlassen werden könne. Hinsichtlich der Haftbedingungen würden die türkischen Behörden um die Übermittlung einer völkerrechtlich verbindlichen und auf den Einzelfall bezogenen Zusicherung gebeten. Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, dass ihm eine politische Verfolgung drohe, sei die erbetene Auskunft der Ausländerbehörde abzuwarten. Er werde nochmals aufgefordert, den Flüchtlingspass vorzulegen. Vorsorglich würden die türkischen Behörden auch darum gebeten, völkerrechtlich verbindlich zuzusichern, dass ihm keine politische Verfolgung drohe. Die Anordnung der Auslieferungshaft sei weiterhin geboten und verhältnismäßig.

8. Die türkischen Behörden erklärten in einer Verbalnote vom 26. Dezember 2020 unter anderem, dass es sich bei der zur Last gelegten Straftat um keine politische oder militärische Straftat handele.

9. Mit Schriftsatz vom 8. Januar 2021 trug der Beschwerdeführer vor, dass er als Kurde mehrfach in der Türkei verhaftet worden sei. Ihm sei stets eine Unterstützung der PKK vorgeworfen worden. Deshalb sei ihm auch in Italien Asyl gewährt worden. Das Strafverfahren sei politisch motiviert. Die Tatschilderung sei nicht plausibel. Es sei abwegig, dass er wegen wenig relevanter Fragen des landwirtschaftlichen Anbaus seine Mutter getötet habe. Augenzeugen gebe es nicht. Es sei auch nicht verständlich, weshalb er wegen einer Tat aus dem Jahr 2009 erst 2020 international zur Fahndung ausgeschrieben worden sei. Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2021 trug er weiter vor, dass er in der Türkei wiederholt für wenige Tage festgenommen worden sei. Zuletzt sei er 2007 „massiv vernommen“ worden, nachdem vier seiner Neffen erschossen worden waren, die „man ebenfalls der PKK zugerechnet“ habe. Er befürchte, der Tod seiner Mutter werde nun abermals zum Anlass genommen, ihn zu inhaftieren und ihn unter dem Druck dieses Vorwurfs zur Kooperation gegen die PKK zu zwingen. Sowohl in Italien als auch in Deutschland habe er detailliert über seine politische Verfolgung berichtet. Er leide seit vielen Jahren an Ängsten und Panikattacken.

10. Am 18. Januar 2021 teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit, dass kein Asylbezug bestehe. Der Beschwerdeführer sei bis zum 29. Mai 2020 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen, die ihm aufgrund einer langfristig bestehenden Aufenthaltsberechtigung in Italien erteilt worden sei.

11. Am 26. Januar 2021 wies das Oberlandesgericht die Einwendungen des Beschwerdeführers zurück. Es lägen zwar Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung vor. Sein bislang diesbezüglich wenig detailliertes Vorbringen und die sonstigen vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigten derzeit jedoch nicht die Annahme eines Auslieferungshindernisses. Der Sachverhalt sei weiter aufzuklären. Sein Asylstatus in Italien habe zwar eine Indizwirkung. Diese würde aber abgeschwächt, da dem Senat die von dem Beschwerdeführer dort vorgebrachten Asylgründe bislang nicht bekannt seien. Seine bisherigen Angaben zum italienischen Asylstatus seien sehr pauschal. Aus dem italienischen Reisedokument ergebe sich lediglich die Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus. Die Generalstaatsanwaltschaft werde gebeten, über Eurojust den Versuch zu unternehmen, nähere Erkenntnisse zum italienischen Asylverfahren zu erhalten. Auch das Vorbingen, er sei als Kurde bereits mehrfach wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK festgenommen worden, sei bislang nicht hinreichend detailliert. Aus dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Urteil des türkischen Staatssicherheitsgerichts Diyarbakir vom 9. Mai 1994 ergebe sich zwar, dass er vor über 26 Jahren von August bis Oktober 1993 in Haft gewesen sei. In den Urteilsgründen werde aufgeführt, dass er im Sommer 1992 mit PKK-Mitgliedern zusammen angetroffen und ein Sympathisant der PKK geworden sei. Von dem Vorwurf, der illegalen PKK-Terrororganisation Beihilfe geleistet zu haben, sei er aber freigesprochen worden. Zu den weiteren von ihm behaupteten Festnahmen habe er bislang nicht konkret vorgetragen. Die Generalstaatsanwaltschaft werde gebeten, bei den türkischen Behörden um Auskunft zu ersuchen, ob und falls ja, welche weiteren Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer in den letzten 30 Jahren mit welchem Gegenstand anhängig gewesen seien und ob sowie in welchen Zeiträumen er inhaftiert gewesen sei.

Die Tatschilderung des Totschlags an der Mutter sei detailliert und nachvollziehbar. Als Zeugen seien neben dem Vater und dem Bruder auch zwei weitere Unbeteiligte benannt und deren Aussagen zusammenfassend geschildert. Es würden die Ergebnisse des Obduktionsberichts und das Gutachten hinsichtlich der Schrotflinte mitgeteilt. Bei dieser Sachlage sei nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht von einem offensichtlich konstruierten Tatvorwurf auszugehen. Da aber nicht völlig substanzlose Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung vorlägen, erscheine eine Tatverdachtsprüfung veranlasst, sodass die Generalstaatsanwaltschaft gebeten werde, die türkischen Behörden um die Vorlage der Anklageschrift zu ersuchen. Diese sollten auch um Auskunft gebeten werden, welche Gründe es gegeben habe, den Beschwerdeführer erst im Jahr 2020 international zur Fahndung auszuschreiben.

12. Mit Verbalnoten vom 9. und 23. Februar 2021 gaben die türkischen Behörden weitere Erklärungen ab. Insbesondere drohe dem Beschwerdeführer keine politische Verfolgung.

13. Mit Schriftsätzen vom 19. und 22. Februar 2021 legte der Beschwerdeführer ein Schreiben des italienischen Generalkonsulats in Köln vom 12. Februar 2021 vor, wonach dieses keinen Zugang zu Asylakten habe. Er legte außerdem ein Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 19. Mai 2010 vor. Aus diesem Schreiben ergebe sich, dass ihm die Kommission in Turin am 19. Mai 2010 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. Die Zuerkennung beruhe auf der Erwägung, dass der Beschwerdeführer laut eigener Aussage von den türkischen Behörden unter Druck gesetzt worden sei, seitdem er 1993 in der Nähe seines Heimatortes Augenzeuge eines Angriffs auf türkische Soldaten gewesen sei. Er sei der Mitwirkung an dem Massaker beschuldigt worden und sollte dazu bewegt werden, in seiner Ortschaft „Dorfwache“ zu werden. Seine Familie sei 2007 von unbekannten Tätern angegriffen worden, bei denen es sich um Personen aus dem militärischen Umfeld gehandelt haben solle. Bei diesem Vorfall seien vier seiner Verwandten getötet worden. Am 14. Mai 2021 trug er weiter vor, dass er in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt sei und darauf vertrauen dürfe, dass ihn Italien und die Bundesrepublik Deutschland vor „unsauberen Verfahrensweisen“ in der Türkei schützen.

14. Das Oberlandesgericht ordnete am 25. März 2021, am 12. Mai 2021 sowie am 22. Juli 2021 die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Mit Beschlüssen vom 8. April 2021 und vom 25. Mai 2021 wies das Oberlandesgericht jeweils Einwände des Beschwerdeführers gegen die Fortdauer der Auslieferungshaft zurück, da eine Fluchtgefahr auch unter Berücksichtigung seines kooperativen Verhaltens gegeben sei. Er habe sich nicht in Kenntnis des Auslieferungsverfahrens gestellt, sondern habe wegen einer Überprüfung des Aufenthaltsstatus seiner Tochter bei der Polizeibehörde vorgesprochen.

15. Auf die von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm veranlasste Nachfrage teilte das Einwanderungsamt des Polizeipräsidiums Grosseto, Italien, mit, dass der Beschwerdeführer am 20. Juni 2017 eine Verlängerung seines Aufenthaltstitels und am 21. März 2019 die Erteilung der EU-Aufenthaltsberechtigung beantragt habe, die ihm gewährt worden sei. Am 26. Juni 2020 habe er einen Reiseausweis für Flüchtlinge beantragt, der ihm mit einer Gültigkeit bis zum 25. Juni 2030 ausgestellt worden sei. Das Einwanderungsamt in Turin, Italien, legte eine Bescheinigung der Kommission in Turin vom 19. Mai 2010 vor, wonach der Beschwerdeführer als Flüchtling anerkannt sei, und übersandte das Protokoll einer Anhörung vom 4. März 2010. In diesem ist aufgeführt, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, dass er von Dezember 2009 bis 11. Januar 2010 in Istanbul gelebt habe und dann nach Italien eingereist sei. 1993 sei er nach einem Zusammenstoß zwischen türkischen Soldaten und kurdischen Kämpfern des Mordes an einem Mann bezichtigt und festgenommen worden. Am 1. Juni 2007 seien vier Personen getötet und vier weitere Personen verletzt worden; einige dieser Personen seien mit ihm verwandt gewesen. Nach dem Massaker sei er in seinem Lastkraftwagen immer wieder kontrolliert worden, da die Soldaten angenommen hätten, dass er Kämpfer der PKK mit Lebensmitteln versorge. Er sei aufgefordert worden, den türkischen Soldaten zu helfen. Als er sich geweigert habe, sei er beleidigt und geschlagen worden. Das letzte Mal sei er im August 2009 kontrolliert worden. Die Soldaten hätten ihn mit dem Tod bedroht. Er sei dann aus Angst geflüchtet.

16. Mit Verbalnoten vom 11. und vom 26. August 2021 gaben die türkischen Behörden weitere Erklärungen ab und übersandten unter anderem die Anklageschrift sowie den Fahndungsverlauf. Der Beschwerdeführer sei mit rechtskräftigem Strafurteil vom 29. Februar 2008 wegen Fälschung amtlicher Dokumente zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Er habe am 14. Juni 2007 Siegel in einem Kraftfahrzeugschein gefälscht.

17. Mit angegriffenem Beschluss vom 2. November 2021 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig und ordnete erneut die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Es bestünden keine Auslieferungshindernisse. Hinsichtlich der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe sei nach der Mitteilung der türkischen Behörden eine Entlassung auf Bewährung nach 30 Jahren möglich, sodass grundsätzlich eine hinreichend praktische Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit als unabdingbare Voraussetzung eines menschenwürdigen Strafvollzugs bestehe.

Es liege auch kein Auslieferungshindernis nach § 6 Abs. 2 IRG vor. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Tat weise keine Bezüge zu einer politischen oder mit einer solchen zusammenhängenden strafbaren Handlung auf. Sein Vorbringen, die von ihm eingereichten Unterlagen und die Erkenntnisse aus dem italienischen Asylverfahren ergäben keine ernstlichen Gründe für die Annahme, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer politischen Handlung gestellt worden sei, um ihn aufgrund von politischen Anschauungen zu verfolgen, oder dass er der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage aus diesen Gründen ausgesetzt sei. In einem Auslieferungsverfahren sei das Gericht dazu verpflichtet, eigenständig zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung politische Verfolgung drohe. Für die notwendige Prüfung der Situation im Zielstaat und der Belastbarkeit etwaiger Zusicherungen seien der Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 24. August 2020 und der Bericht der Kommission der Europäischen Union vom 29. Mai 2019 ausgewertet worden. Aus beiden Berichten sei zu folgern, dass ein Beschuldigter in der Türkei derzeit bei Verfahren im Zusammenhang mit terroristischen Vorwürfen ein faires Verfahren nicht erwarten könne. Auch unter Berücksichtigung dieser Situation sei die Zusicherung der türkischen Behörden mit Verbalnote vom 9. Februar 2021, dass in dem gegen den Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung geführten Verfahren die sich aus Art. 5 und Art. 6 EMRK ergebenden Standards - und damit auch ein faires Verfahren - gewährleistet würden, als belastbar einzustufen.

Eine ernsthafte, konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer, im Falle seiner Auslieferung einer politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein, bestehe nicht. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass die türkischen Behörden eine Zusicherung, dass dem Beschwerdeführer keine politische Verfolgung drohe, nicht ausdrücklich erteilt hätten. Der ihm zur Last gelegte Tatvorwurf der Tötung seiner Mutter sowie der versuchten Tötung seines Vaters und seines Bruders sei sowohl in dem Auslieferungsersuchen als auch in der Anklageschrift detailliert und nachvollziehbar beschrieben. Als Zeugen seien neben dem Vater mehrere Brüder und weitere unbeteiligte Dritte, darunter auch Nachbarn, benannt und deren Aussagen zusammenfassend geschildert. Die Ergebnisse des Obduktionsberichts und der Ermittlungen am Tatort seien darlegt. Von einem offensichtlich konstruierten Tatvorwurf sei bei dieser Sachlage nicht auszugehen. Auch der Beschwerdeführer selbst stelle nicht in Abrede, dass seine Mutter zu Tode gekommen sei. Die von ihm vorgelegten zwei Zeugenaussagen gäben keinen Anlass für eine andere Beurteilung. Die Erklärungen sollten von seinem Vater und einem Bruder stammen und stellten nach ihrem Inhalt seine Täterschaft in Abrede. Sie seien aber zu pauschal, um einer Überprüfung zugänglich zu sein. Eine weitergehende Tatverdachtsprüfung sei nach § 10 Abs. 2 IRG nicht veranlasst.

Auch das Vorbringen des Beschwerdeführers in dem italienischen Asylverfahren sowie im vorliegenden Verfahren enthalte keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür, dass ihm eine politische Verfolgung drohe. Mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid der örtlichen Kommission in Turin vom 19. Mai 2010 sei kein generelles Auslieferungsverbot begründet worden. Es handele sich bei Asyl- und Auslieferungsverfahren um getrennte Verfahren. Einer Entscheidung im Asylverfahren komme für das Auslieferungsverfahren zwar keine Bindungswirkung, aber eine Indizwirkung für die eigenständig vorzunehmende Prüfung zu (unter Bezugnahme auf BVerfGE 64, 46 ff.; Oberlandesgericht Dresden, Beschluss vom 25. August 2008 - OLG Ausl 108/07 -, juris; Oberlandesgericht München, Beschluss vom 10. Juli 1995 - Ausl 120/94 (48/94) -, StV 1996, 100 ff.).

Die Angaben des Beschwerdeführers im vorliegenden Verfahren deckten sich im Wesentlichen mit jenen im Asylverfahren. Es sei danach belegt, dass der Beschwerdeführer zumindest in den Jahren 1993 und 1994 für die türkischen Behörden als Sympathisant der PKK gegolten habe. Er sei aber mit Urteil des Staatssicherheitsgerichts Diyarbakir vom 9. Mai 1994 vom Vorwurf, der PKK Beihilfe geleistet zu haben, freigesprochen worden. Weitere zumindest längerfristige Festnahmen oder Verfahren wegen eines ähnlichen Vorwurfs habe es - sowohl nach den Angaben des Beschwerdeführers als auch nach Auskunft der türkischen Behörden - nicht gegeben. Soweit er ausführe, dass der Tod seiner Mutter zum Anlass genommen worden sei, ihn mehrmals zu inhaftieren und ihn unter dem Druck dieses Vorwurfs zur Kooperation gegen die PKK zu zwingen, sei diese Behauptung nicht schlüssig. Nach der türkischen Anklageschrift sei der Beschwerdeführer nur am Tag der Tat, am 9. September 2009, in Haft gewesen. Falls die Behörden diese Tat zum Anlass genommen hätten, ihn zur Mitarbeit gegen die PKK zu zwingen, hätte eine längere Inhaftnahme nahegelegen.

Bei der gegebenen Sachlage und unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Beschwerdeführer diesen nunmehr behaupteten Anlass zur Flucht im italienischen Asylverfahren nicht angegeben habe, sei es vielmehr wahrscheinlicher, dass der Grund zur Flucht aus der Türkei in der drohenden Strafverfolgung wegen der Todesumstände seiner Mutter zu sehen sei. Die Vorwürfe der Unterstützung der PKK seien demnach sowohl nach seinem Vorbringen als auch nach den gewonnenen Erkenntnissen jedenfalls in den Jahren bis zu seiner Flucht nicht so massiv gewesen, dass sie zu einer Strafverfolgung geführt hätten. Der Senat verkenne dabei nicht, dass sich die Lage nach dem Putschversuch im Juli 2016 verschärft habe. Es seien aber keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorhanden, dass sich die jahrzehntealten Vorwürfe der Unterstützung der PKK auf die Lage des Beschwerdeführers im Falle seiner Auslieferung nachteilig auswirken würden. Das Auswärtige Amt habe in seiner Stellungnahme vom 23. April 2020 zur Rechtsstaatlichkeit und zu den Haftbedingungen in der Türkei ausgeführt, dass die Einhaltung von rechtsstaatlichen Grundsätzen sowie Beschuldigtenrechten im Bereich Terrorismus und Staatsschutz stark beeinträchtigt blieben, der Bereich der allgemeinen Kriminalität hiervon jedoch nicht unmittelbar beeinträchtigt sei. Dem Senat lägen auch aus anderen in den letzten Jahren anhängigen Auslieferungsverfahren mit Türkeibezug keine Erkenntnisse vor, dass die türkischen Behörden eine - wie vorliegend erteilte - Zusicherung der Gewährleistung der rechtsstaatlichen Standards aus Art. 5 und Art. 6 EMRK in Verfahren, denen Vorwürfe der allgemeinen Kriminalität zugrunde lagen, nicht eingehalten hätten.

Es hätten sich keine Erkenntnisse gewinnen lassen, die den Schluss zuließen, dass es sich bei dem gegen den Beschwerdeführer geführten Verfahren um ein politisch einzustufendes Verfahren handele. Zwar habe das Strafgericht Bingöl das Verfahren aus dem Jahr 1993 mit dem Vorwurf der Unterstützung der PKK sowie das den Beschwerdeführer freisprechende Urteil vom 9. Mai 1994 nicht mitgeteilt. Hieraus lasse sich aber nicht folgern, dass die türkischen Behörden die damaligen Vorwürfe geheimhalten wollen würden. Vielmehr lasse sich dies nachvollziehbar damit begründen, dass das damalige Verfahren angesichts des Zeitablaufs von 27 Jahren im Strafregister nicht mehr aufgelistet sei. Zudem sei nachvollziehbar erläutert worden, weshalb der Beschwerdeführer wegen der Anklageschrift vom 2. Februar 2010 erst am 31. August 2020 international zur Fahndung ausgeschrieben worden sei. Danach sei dem Strafgericht erst mit dem Ermittlungsbericht vom 22. November 2019 bekannt geworden, dass sich der Beschwerdeführer mit unbekannter Anschrift im Ausland aufhalte.

Auch die den Beschwerdeführer nach Übergabe erwartenden Haftbedingungen begründeten kein Auslieferungshindernis. Aufgrund des Berichts der Europäischen Kommission vom 29. Mai 2019 und des Berichts des Auswärtigen Amtes hätten sich Hinweise auf möglicherweise mit Art. 3 EMRK nicht in Einklang stehende Haftbedingungen in der Türkei ergeben. Auch wenn sich erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Justizvollzugsanstalten ergäben, bestünden systemische Mängel im türkischen Strafvollzug. Bei einem Besuch der Botschaft Ankara am 17. Dezember 2019 in der Justizvollzugsanstalt Yalvac sei ausweislich der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 23. April 2020 im Ergebnis festgestellt worden, dass dort eine EMRK-konforme Unterbringung eingeschränkt möglich sei. Die türkischen Behörden hätten zugesichert, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung in dieser Haftanstalt inhaftiert und nur zu seinem Schutz oder aus disziplinarischen Gründen verlegt werden würde. Ferner sei zugesichert worden, dass seine Inhaftierung den Anforderungen des Art. 3 EMRK und den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entspreche und er keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen werde. Der deutschen Auslandsvertretung sei die Möglichkeit von Besuchen eingeräumt worden. Dies gelte auch für den Fall einer äußerst unwahrscheinlichen Verlegung. Die zugesicherte Benachrichtigung der deutschen Botschaft im Falle einer Verlegung sowie die anschließend gewährleistete Besuchsmöglichkeit würden auch in der neuen Vollzugsanstalt eine ausreichende Kontrolle sicherstellen. Eine derartige auf den Einzelfall bezogene Zusicherung werde vom Auswärtigen Amt ausweislich der Stellungnahme vom 23. April 2020 als belastbar eingeschätzt. Der Senat sehe aus den genannten Gründen keine Veranlassung, von dieser Einschätzung abzuweichen.

Die Fortdauer der Auslieferungshaft sei anzuordnen. Angesicht der Erheblichkeit des Tatvorwurfs und der ihm drohenden erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe sei nicht damit zu rechnen, dass sich der Beschwerdeführer dem Auslieferungsverfahren freiwillig stellen werde. Der durch die hohe Straferwartung gegebene Fluchtanreiz werde durch hinreichend gefestigte familiäre, soziale und berufliche Bindungen nicht ausgeräumt. Der weitere Vollzug sei auch verhältnismäßig.

II.

1. Mit der am 19. November 2021 fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 und Art. 19 Abs. 4 GG.

Unter Wiederholung seines fachgerichtlichen Vorbringens trägt der Beschwerdeführer vor, dass er von den türkischen Behörden als PKK-Kämpfer angesehen und deshalb politisch verfolgt werde. Aus diesem Grund habe er 2010 in Italien politisches Asyl beantragt und dieses durch das italienische Innenministerium am 18. Mai 2010 gewährt bekommen. Der ihm daraufhin vom italienischen Staat erteilte Flüchtlingspass habe eine Gültigkeit bis Juni 2030 und sei dem Oberlandesgericht vorgelegt worden. Das Oberlandesgericht habe die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention ebenso wie die hierauf beruhenden Vorschriften der Europäischen Union nicht berücksichtigt. Die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention würden durch die Qualifikationsrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates konkretisiert. Die Anerkennung als Flüchtling berechtige zum Aufenthalt und enthalte ein Auslieferungsverbot. Sie konstituiere „eine berechtigte subjektive Erwartung, nicht mit Entscheidungen konfrontiert zu werden, die seinen Schutz konterkarieren“. Angesichts der Freizügigkeit, der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen und der gemeinsamen Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention in der Europäischen Union sei es nicht zulässig, dass das Oberlandesgericht eine von den italienischen Behörden bereits getroffene Entscheidung abweichend bewerte. Aus völkerrechtlicher und europarechtlicher Sicht müsse ein deutsches Gericht eine von den italienischen Behörden bereits vor zehn Jahren getroffene Entscheidung grundsätzlich akzeptieren und könne ihm nur in Ausnahmefällen, wie bei Fälschungen oder dem Vorliegen völlig neuer Erkenntnisse, den bereits gewährten Flüchtlingsstatus verweigern.

Die seit einem Jahr bestehende Auslieferungshaft sei unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht habe nicht ausgeführt, wohin er fliehen könne.

2. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde insoweit offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich der Fortdauer der Auslieferungshaft genügt das Vorbringen des Beschwerdeführers mangels hinreichend differenzierter und verfassungsrechtlich erheblicher Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung nicht dem gesetzlichen Begründungserfordernis gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz, § 92 BVerfGG (vgl. BVerfGE 81, 208 <214 f.>; 85, 36 <52 f.>; 88, 40 <45>; 89, 1 <4 f.>; 101, 331 <345 f.>; 105, 252 <264>). Von einer weiteren Begründung wird diesbezüglich gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

1. Hinsichtlich der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung vom 2. November 2021 ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Sie verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Beschwerdeführer hat einen solchen Verfassungsverstoß zwar nicht ausdrücklich gerügt, dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde seine Prüfung hierauf zu erstrecken (vgl. BVerfGE 6, 376 <385>; 17, 252 <258>; 54, 117 <124>; 58, 163 <167>; 71, 202 <204>; 147, 364 <378 Rn. 36>).

a) aa) Bei Zweifelsfragen über die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht haben die Fachgerichte diese zunächst dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen. Dieser ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129, 78 <105>; 135, 155 <230 Rn. 177>; stRspr). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind die letztinstanzlich entscheidenden mitgliedstaatlichen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>; stRspr). Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach oder stellt es ein Vorabentscheidungsersuchen, obwohl eine Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht gegeben ist (vgl. BVerfGE 133, 277 <316 Rn. 91>), kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 126, 286 <315>; 135, 155 <231 Rn. 177>).

(1) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415 ff. Rn. 21, Anlage 23) muss ein mitgliedstaatliches letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass diese Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105 f.>; 135, 155 <231 Rn. 178>; 140, 317 <376 Rn. 125>; 147, 364 <378 f. Rn. 37>).

(2) Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, jedoch nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 29, 198 <207>; 82, 159 <194>; 126, 286 <315>; 135, 155 <231 Rn. 179>). Durch die grundrechtsähnliche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird das Bundesverfassungsgericht nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden einem Gericht unterlaufenen, die Zuständigkeit des Gerichts berührenden Verfahrensfehler korrigieren müsste. Vielmehr ist das Bundesverfassungsgericht gehalten, seinerseits die Kompetenzregeln zu beachten, die den Fachgerichten die Kontrolle über die Befolgung der Zuständigkeitsordnung übertragen (vgl. BVerfGE 82, 159 <194>; 135, 155 <231 Rn. 179>; 147, 364 <379 f. Rn. 39>).

bb) Diese Grundsätze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 29, 198 <207>; 82, 159 <194>; 126, 286 <315>; 135, 155 <231 f. Rn. 180>). Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 <315>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>; 135, 155 <232 Rn. 180>). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 <316> m.w.N.); ein „oberstes Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>; 135, 155 <232 Rn. 180>; 147, 364 <380 Rn. 40>).

(1) Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt, und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195>; 126, 286 <316>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>; 135, 155 <232 Rn. 181>). Dies gilt erst recht, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht. Es verkennt dann regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht (vgl. BVerfGE 147, 364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGK 8, 401 <405>; 11, 189 <199>; 13, 303 <308>; 17, 108 <112>). Alle Fachgerichte haben sich bei Auslegung und Anwendung des Unionsrechts selbstständig mit der Frage auseinanderzusetzen, ob in Bezug auf eine entscheidungserhebliche Norm des Unionsrechts weiterer Klärungsbedarf und - damit verbunden - die Notwendigkeit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2017 - 2 BvR 987/16 -, Rn. 18). Eine Verkennung der Vorlagepflicht ist auch anzunehmen, wenn das Gericht offenkundig einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht auswertet. Um eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu ermöglichen, hat es die Gründe für seine Entscheidung über die Vorlagepflicht anzugeben (vgl. BVerfGE 147, 364 <381 Rn. 41>).

(2) Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 82, 159 <195>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106>; 135, 155 <232 Rn. 182>).

(3) Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hingegen noch nicht vor, hat die bestehende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <317>; 128, 157 <188>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ willkürlich bejahen. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>; 135, 155 <233 Rn. 184>; 147, 364 <381 f. Rn. 43>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 135, 155 <233 Rn. 184>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>; 135, 155 <233 Rn. 184>). Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachliche Begründung bejaht (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 135, 155 <233 Rn. 185>; 147, 364 <382 Rn. 43>).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Oberlandesgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Es hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass kein Auslieferungshindernis wegen drohender politischer Verfolgung bestehe. Die Voraussetzungen der Vorlagepflicht lagen vor.

aa) Das Oberlandesgericht ist ein zur Vorlage verpflichtetes Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil seine Entscheidungen im Auslieferungsverfahren nicht mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

bb) Der Sachverhalt wirft die entscheidungserhebliche Frage auf, ob die bestandskräftige Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling durch die italienischen Behörden am 19. Mai 2010 für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV) verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegenstünde, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist.

cc) Diese Frage ist im Schrifttum umstritten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bislang noch nicht geklärt.

(1) (a) Ausgangsnorm des europarechtlichen Streitstandes war Art. 7 der Richtlinie 2005/85/EG (Asyl-VRL a.F.), wonach während eines laufenden Asylverfahrens eine Auslieferung nur innerhalb der Europäischen Union, nämlich auf Grundlage eines europäischen Haftbefehls, oder an internationale Strafgerichte und -tribunale erfolgen durfte. Die Richtlinie 2005/85/EG trat außer Kraft und wurde durch die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Asyl-VRL) ersetzt, deren Art. 9 an die Stelle des bisherigen Art. 7 getreten ist. Nach Art. 9 Abs. 3 Asyl-VRL lässt die Richtlinie mittlerweile die Möglichkeit zu, eine Person während des Asylverfahrens an einen Drittstaat auszuliefern, wenn sich die zuständigen Behörden davon überzeugt haben, dass eine Auslieferungsentscheidung keine unmittelbare oder mittelbare Zurückweisung zur Folge hat, die einen Verstoß gegen die völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Pflichten dieses Mitgliedstaats darstellt.

(b) Hieraus wird im Schrifttum gefolgert, dass jedenfalls ab Vorliegen einer bestandskräftigen Anerkennung des Flüchtlingsstatus durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine Auslieferung an einen Drittstaat unionsrechtlich nicht mehr zulässig sei und § 6 Satz 2 AsylG, dem zufolge die Entscheidung über die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung internationalen Schutzes in Auslieferungsverfahren nicht verbindlich ist, entsprechend richtlinienkonform ausgelegt werden müsse (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 6 Rn. 15 f.; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 AsylVfG, Rn. 22; im Ergebnis auch Schierholt/Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, § 6 IRG, Rn. 76; zu Art. 7 Asyl-VRL a.F. auch bereits Lagodny, Auslieferung trotz Flüchtlings- oder Asylanerkennung, 2008, S. 48 ff.). Als weiteres Argument für eine Bindungswirkung einer Anerkennungsentscheidung eines anderes EU-Mitgliedstaats in einem Auslieferungsverfahren wird vorgebracht, dass Art. 11, Art. 12 und Art. 14 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) sowie die Asyl-Verfahrensrichtlinie (insbes. Art. 44 und Art. 45 Asyl-VRL) spezielle Regeln mit eigenen Verfahren für das Erlöschen, den Ausschluss oder die Aberkennung einer anerkannten Flüchtlingseigenschaft vorsähen, die bei einer fehlenden Bindungswirkung umgangen würden. Die Qualifikationsrichtlinie kenne gerade keine § 6 Satz 2 AsylG vergleichbare Regelung, sondern sehe das Erlöschen der Flüchtlingsanerkennung nur für den Fall der Veränderung der Umstände vor (Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie) oder wenn sonst ein Grund dafür gegeben sei, den einmal ausgesprochenen Schutz abzuerkennen. Dies könne der Fall sein, wenn später bekannt werde, dass der Flüchtling über einen Ausschlussgrund nach Art. 12 der Qualifikationsrichtlinie getäuscht habe, oder offenbar werde, dass er eine Gefahr für die Sicherheit im Anerkennungsstaat darstelle (Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie). Entsprechend der Richtlinienvorgaben sei deshalb mit einer Schutzzuerkennung eine (bindende) Geltung verbunden, die nur in den ausdrücklich geregelten Fällen unter Beachtung der dafür vorgesehenen Verfahrensregelungen aufgehoben werden dürfe (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 6 Rn. 17 f.; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 AsylVfG, Rn. 22).

(c) Von der im Schrifttum vertretenen Gegenauffassung (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 38 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Okt. 2021, § 6 AsylG, Rn. 5; Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationale Rechtshilfe, Stand: Juli 2009, § 6 IRG, Rn. 140 ff.) wird vorgebracht, dass Art. 7 Abs. 2 Asyl-VRL a.F. erkennen lasse, dass die unionalen Richtliniengeber Asyl- und Auslieferungsverfahren als voneinander unabhängige, selbstständige Verfahren angesehen hätten und keine Bindungswirkung der Asylentscheidungen im Auslieferungsverfahren zwingend vorgeschrieben werden sollte (vgl. Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationale Rechtshilfe, Stand: Juli 2009, § 6 IRG, Rn. 140 f.). Ob eine Ausnahme von der Bindung rechtspolitisch sinnvoll sei und einen qualifizierten Beitrag zur Effektuierung des Grundrechtsschutzes leisten könne, sei eine andere Frage (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 39). Es könne ein langer Zeitraum zwischen der Anerkennungsentscheidung und der Einleitung des Auslieferungsverfahrens verstrichen sein, sodass sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben könnten. Hielte man aber dennoch an einer uneingeschränkten Bindungswirkung fest, müsste erst ein Widerrufsverfahren durchgeführt werden. Insbesondere könne aufgrund eines Auslieferungsersuchens auch erstmals Anlass bestehen, Ausschlussgründe im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie zu prüfen, die auch einen Widerruf oder die Rücknahme einer zuerkennenden Entscheidung rechtfertigen könnten (vgl. Funke-Kaiser, GKAsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 40). Weder die Qualifikationsrichtlinie noch die Asylverfahrensrichtlinie würden eine Bindungswirkung ausdrücklich anordnen (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 42; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Okt. 2021, § 6 AsylG, Rn. 5). Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 Asyl-VRL lasse sich allerdings entnehmen, dass erst recht im Falle einer Auslieferung an den Herkunftsstaat das Refoulement-Verbot zu beachten sei (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 42). Art. 21 der Qualifikationsrichtlinie bestimme, dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten hätten. Darüber hinausgehende Verpflichtungen im Sinne einer Bindungswirkung an eine einmal getroffene Entscheidung ließen sich für das Auslieferungsverfahren aus dieser Norm nicht ableiten (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Okt. 2021, § 6 AsylG, Rn. 5).

(2) Bislang hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung der Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 der Asyl-VRL noch nicht erschöpfend geäußert beziehungsweise die entscheidungserhebliche Frage nicht abschließend geklärt. Vor diesem Hintergrund konnte das Oberlandesgericht nicht von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts ausgehen, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe („acte clair“). Es hätte sich vielmehr mit den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten auseinandersetzen und das Absehen von einer Vorlage an den Gerichtshof näher begründen müssen.

(a) So könnten die Richtlinienbestimmungen einerseits so ausgelegt werden, dass auch nach der (bestandskräftigen) Zuerkennung des Flüchtlingsstatus eine Auslieferung in den Herkunftsstaat, einen Drittstaat, zulässig ist, soweit diese nicht gegen Völkerrecht und Unionsrecht (insbes. Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 GRCh) verstößt. Dies könnte mit der vom Gerichtshof der Europäischen Union wiederholt als legitimes Ziel anerkannten Vermeidung der Straflosigkeit von Personen, die eine Straftat begangen haben und sich im freien Binnenmarkt der Europäischen Union bewegen, in Einklang stehen (vgl. zur Betonung dieses Ziels m.w.N. das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 60). Andererseits könnte die Norm im Wege eines Umkehrschlusses auch so auszulegen sein, dass nach Abschluss des Asylverfahrens mit einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling eine Auslieferung an den Herkunftsstaat durch einen anderen EU-Mitgliedstaat nicht (mehr) zulässig ist. Für diese Auslegung könnte sprechen, dass die Richtlinienbestimmungen nur eine Regelung für den Zeitraum eines laufenden Asylverfahrens [„während“] treffen und damit gegebenenfalls divergierende Entscheidungen vermieden werden sollten. Zudem könnte eine fehlende Bindungswirkung die in der Richtlinie vorgesehenen speziellen Verfahren bei Erlöschen beziehungsweise Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft unterlaufen.

(b) Letztlich sind die Gründe, aus denen das Gericht von einer fehlenden Bindungswirkung im vorliegenden Fall ausgeht, nicht nachvollziehbar. So nimmt das Oberlandesgericht zwar ausdrücklich Bezug auf den Beschluss des Ersten Senats vom 13. April 1983 - 1 BvR 866/82, 1 BvR 890/82 - (BVerfGE 64, 46 ff.), ohne jedoch darauf einzugehen, dass dieser die Frage einer möglicherweise bestehenden Bindungswirkung bei einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling in dieser Entscheidung ausdrücklich offengelassen hat (vgl. BVerfGE 64, 46 <65>). Auch die Bezugnahme auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 25. August 2008 - OLG Ausl 108/07 -, juris, und des Oberlandesgerichts München vom 10. Juli 1995 - Ausl 120/94 (48/94) -, StV 1996, 100 ff., vermögen die Entscheidung nicht zu erklären. Beide Beschlüsse betrafen Fälle, in denen im Asylverfahren keine positive Anerkennung als Flüchtling erfolgt war, sodass sich die vorliegend entscheidungserhebliche Frage nach der Bindungswirkung einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gerade nicht stellte. Schließlich fehlt es an jeglicher Auseinandersetzung mit dem das Internationale Flüchtlingsrecht beherrschenden Refoulement-Verbot (vgl. Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Konvention -).

2. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob der angegriffene Beschluss weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt.

IV.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. November 2021 - III-2-Ausl. 180/20 - wird, soweit er die Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, aufgehoben; die Sache wird an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

V.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der Beschwerdeführer hat sein wesentliches Rechtsschutzziel erreicht, weshalb die Auslagen dem Land Nordrhein-Westfalen in vollem Umfang aufzuerlegen waren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21 -, Rn. 70 m.w.N.).

Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 465

Bearbeiter: Holger Mann