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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 388

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 243/21, Beschluss v. 08.02.2022, HRRS 2022 Nr. 388


BGH 5 StR 243/21 - Beschluss vom 8. Februar 2022 (LG Hamburg)

Selbstleseverfahren (Bestimmtheit; Bezeichnung der eingeführten Urkunden; Identifizierbarkeit; Individualisierbarkeit).

§ 249 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, sind im Hauptverhandlungsprotokoll zu bezeichnen (§ 273 Abs. 1 StPO). Die Bezeichnung muss so genau sein, dass die Urkunden identifizierbar sind, wobei bei umfangreichen Konvoluten eine zusammenfassende und pauschale Benennung der nach § 249 Abs. 2 StPO zu behandelnden Urkunden genügen kann. Dadurch soll sichergestellt werden, dass bei den Verfahrensbeteiligten über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung kein Zweifel entstehen kann.

2. Die Urkunden sind dergestalt zu bezeichnen, dass sie von den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres individualisiert werden können. Diese sollen so darauf hingewiesen werden, dass der nach § 249 Abs. 2 StPO ausnahmsweise außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Können die Verfahrensbeteiligten nach dem Wortlaut der Anordnung die Urkunden leicht identifizieren, die zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden, genügt die Anordnung dem Bestimmtheitserfordernis des § 249 Abs. 2 StPO.

3. Das Selbstleseverfahren dient nicht dem Zweck, ohne vorherige Bewertung der Beweisbedeutung große Teile der Akten in die Hauptverhandlung einzuführen und sie so zur potentiellen Grundlage des Urteils zu machen. Vielmehr ist es geboten, die durch ein Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden mit Sorgfalt zusammenzustellen und bereits zu diesem Zeitpunkt ihre (mögliche) Erheblichkeit ebenso wie ihre Verlesbarkeit (insbesondere nach den § 249 Abs. 1, §§ 250, 251 ff. StPO) zu prüfen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 15. September 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Bankrotts in Tateinheit mit vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in acht Fällen, vorsätzlicher Insolvenzverschleppung und Anstiftung zum Bankrott und zur Insolvenzverschleppung in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt, vier Monate der Strafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 34.000 Euro angeordnet.

Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge nach § 249 Abs. 2 StPO Erfolg.

I.

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Im Hauptverhandlungstermin vom 3. Juli 2019 ordnete der Strafkammervorsitzende ein Selbstleseverfahren an. Erfasst war in 25 Listen eine Vielzahl von Einzelurkunden und Urkundenkonvoluten im Umfang von etwa 9.000 Seiten, bei denen es sich um einen Großteil der gesamten verfahrensgegenständlichen Fallakten einschließlich schriftlich festgehaltener Angaben von Zeugen und Beschuldigten handelte. Die Verteidigung des Angeklagten widersprach der Anordnung des Selbstleseverfahrens.

Daraufhin ergänzte der Vorsitzende die Selbstleseanordnung im nächsten Hauptverhandlungstermin wie folgt: „Soweit in den Urkundenlisten 1 bis 23, der Urkundenliste ,Fallübergreifende Urkunden‘ sowie der Urkundenliste ,Auswertung EDV, EMail, Mobiltelefone, Asservate‘ Urkunden aufgeführt sind, die in fremder Sprache abgefasst sind, sind nur die mit Namen, Zahlen und Einzelbuchstaben dargestellten und nicht sprachspezifischen Angaben Gegenstand des Selbstleseverfahrens. Schriftliche Erklärungen i.S.d. § 250 StPO sind insoweit Gegenstand der Selbstleseanordnung, als dies durch § 256 Abs. 1 Nr. 1, 5 StPO gestattet wird oder als es sich um einfache Auskünfte von Mitarbeitern über den Inhalt von Buchungs- und Abrechnungsunterlagen oder vergleichbaren Unterlagen handelt. Soweit Vermerke über Befragungen oder Angaben Dritter (z.B. in Durchsuchungs- oder sonstigen Ermittlungsberichten) in Urkunden enthalten sind, sind diese nicht Gegenstand der Selbstlesung.“ Konkretisierungen, Streichungen, Klammerungen oder andere Markierungen wurden nicht vorgenommen.

Auch der so ergänzten Selbstleseanordnung widersprach die Verteidigung des Angeklagten unmittelbar. Unter anderem stützte sie dies darauf, dass Urkunden nicht ausreichend bezeichnet seien. In einer ergänzenden schriftlichen Widerspruchsbegründung beanstandete die Verteidigung, dass die abstrakt formulierte Einschränkung des Vorsitzenden in unzulässiger Weise den Mitgliedern des Spruchkörpers die Entscheidung über den Umfang der Selbstlesung übertrage.

Die Strafkammer wies den Widerspruch mit Beschluss vom 7. Oktober 2019 zurück und ordnete das Selbstleseverfahren unter Bezugnahme auf die frühere Anordnung und ausdrücklicher Fortgeltung der ergänzenden Beschränkung des Vorsitzenden vorsorglich erneut an. Auf die Frage der Bestimmbarkeit der zu verlesenden Urkunden(teile) ging sie in der Beschlussbegründung nicht ein. Auf eine Gegenvorstellung, mit der die Verteidigung des Angeklagten ihre diesbezüglichen Bedenken wiederholte, verblieb es bei dem Beschluss.

Im Hauptverhandlungstermin vom 8. Januar 2020 wurden folgende Erklärungen abgegeben: „Die Berufsrichter und Schöffen erklärten jeder für sich, vom Wortlaut der in den Urkundenlisten … genannten Urkunden durch Lesen Kenntnis genommen zu haben.“ Der Vorsitzende stellte zudem fest, dass die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. In einer Stellungnahme zum Abschluss des Selbstleseverfahrens wies die Verteidigung des Angeklagten unter anderem darauf hin, dass angesichts der abstrakten Beschränkung der Selbstleseanordnung nicht hinreichend deutlich sei, welche Urkunden(teile) eingeführt worden seien. In einem daraufhin ergangenen Beschluss erklärten die Mitglieder der Strafkammer erneut, „vom Inhalt aller in (den) Urkundenlisten genannten Urkunden durch Lesen Kenntnis genommen“ zu haben.

2. Die zulässige Verfahrensrüge ist begründet.

a) Die Rüge richtet sich gegen das von der Strafkammer durchgeführte Selbstleseverfahren allein unter dem Gesichtspunkt der unzureichenden Bezeichnung der Urkunden in der durch Gerichtsbeschluss bestätigten Anordnung des Vorsitzenden in ihrer ergänzten Fassung. Diese habe durch die abstrakte Umschreibung der vom Selbstleseverfahren erfassten Urkunden(teile) den Mitgliedern des Spruchkörpers und den Verfahrensbeteiligten die Einschätzung des Umfangs der Selbstlesung überlassen. Mit dieser Angriffsrichtung wird das Selbstleseverfahren selbst beanstandet, weil die Anordnung des Vorsitzenden insgesamt als verfahrensfehlerhaft gerügt wird. Die hiermit geltend gemachte Verletzung des § 249 Abs. 2 StPO kann einen relativen Revisionsgrund darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 2019 - 3 StR 462/17, NStZ 2019, 422, 423 mwN).

b) Die zulässig erhobene Rüge beanstandet in der Sache zu Recht, dass die Selbstleseanordnung in ihrer ergänzten Fassung § 249 Abs. 2 StPO verletzt.

aa) Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, sind im Hauptverhandlungsprotokoll zu bezeichnen (§ 273 Abs. 1 StPO). Die Bezeichnung muss so genau sein, dass die Urkunden identifizierbar sind, wobei bei umfangreichen Konvoluten eine zusammenfassende und pauschale Benennung der nach § 249 Abs. 2 StPO zu behandelnden Urkunden genügen kann. Dadurch soll sichergestellt werden, dass bei den Verfahrensbeteiligten über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung kein Zweifel entstehen kann. Die Urkunden sind daher dergestalt zu bezeichnen, dass sie von den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres individualisiert werden können. Diese sollen so darauf hingewiesen werden, dass der nach § 249 Abs. 2 StPO ausnahmsweise außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Beweisstoff (vgl. LR/Mosbacher, StPO, 27. Aufl., § 249 Rn. 58) dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10, NStZ 2010, 712, 713). Können die Verfahrensbeteiligten nach dem Wortlaut der Anordnung die Urkunden leicht identifizieren, die zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden, genügt die Anordnung dem Bestimmtheitserfordernis des § 249 Abs. 2 StPO (BGH, Urteil vom 7. März 2019 - 3 StR 462/17, NStZ 2019, 422 mwN).

bb) Diesen Anforderungen hält die Selbstleseanordnung in ihrer ergänzten Fassung nicht stand.

Die Revision macht mit Recht geltend, dass durch die anhand rechtlicher und tatsächlicher Kriterien abstrakt vorgenommene Einschränkung des Umfangs des Selbstleseverfahrens die eingeführten Urkunden(teile) nicht eindeutig identifiziert und individualisiert werden konnten. Es handelte sich nicht lediglich um eine zulässige zusammenfassende und pauschale Benennung der zu verlesenden Schriftstücke durch den Vorsitzenden, vielmehr war den Mitgliedern des Spruchkörpers einschließlich der Schöffen sowie den Verfahrensbeteiligten für die Ermittlung des Umfangs der Selbstlesung eine eigene Subsumtion unter tatsächliche Begriffe sowie unter rechtlich im Einzelnen umstrittene Verlesungsvorschriften der Strafprozessordnung überantwortet. Eine solche Vorgehensweise war im Rahmen der durch das Selbstleseverfahren ausnahmsweise aus der Hauptverhandlung verlagerten Beweisaufnahme rechtsfehlerhaft, weil das Ergebnis der Subsumtion nicht feststellbar war und damit unklar blieb. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Mitglieder des Spruchkörpers Urkunden(teile) in unterschiedlichem Umfang zum Gegenstand der Selbstlesung und damit zur Urteilsgrundlage gemacht haben. Insbesondere aber konnten bei den Verfahrensbeteiligten Zweifel über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung entstehen, so dass die Selbstleseanordnung ihre dargestellte Hinweiswirkung verfehlt hat.

Der Umfang des Selbstleseverfahrens konnte auch nicht dadurch konkludent auf den gesamten Inhalt aller in den Urkundenlisten bezeichneten Urkunden erweitert werden, dass die Berufsrichter und Schöffen zum Abschluss des Selbstleseverfahrens ohne Bezugnahme auf die einschränkende Anordnung des Vorsitzenden zu Protokoll erklärt und in einem Beschluss wiederholt haben, den Wortlaut aller in den Urkundenlisten aufgeführten Urkunden zur Kenntnis genommen zu haben. Denn die Feststellung zum Abschluss eines Selbstleseverfahrens muss dem Inhalt seiner Anordnung entsprechen (vgl. hierzu auch LR/Mosbacher, StPO, 27. Aufl., § 249 Rn. 84). Zudem war schon angesichts der gebotenen Klarheit des Umfangs der Selbstlesung für eine stillschweigende Aufhebung der abstrakten Beschränkung des Vorsitzenden kein Raum.

c) Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Angesichts des erheblichen Umfangs des in Rede stehenden Selbstleseverfahrens und des Umstands, dass das Landgericht seine Beweiswürdigung auf eine Vielzahl im Selbstleseverfahren enthaltener Urkunden gestützt hat, lässt sich nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne den Verfahrensfehler zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Danach unterliegt das Urteil, soweit es den Angeklagten betrifft, mit den Feststellungen der Aufhebung (§ 349 Abs. 4 StPO).

II.

Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:

1. Das Selbstleseverfahren dient nicht dem Zweck, ohne vorherige Bewertung der Beweisbedeutung große Teile der Akten in die Hauptverhandlung einzuführen und sie so zur potentiellen Grundlage des Urteils zu machen. Vielmehr ist es geboten, die durch ein Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden mit Sorgfalt zusammenzustellen und bereits zu diesem Zeitpunkt ihre (mögliche) Erheblichkeit ebenso wie ihre Verlesbarkeit (insbesondere nach den § 249 Abs. 1, §§ 250, 251 ff. StPO) zu prüfen.

2. Der Tenor und die rechtliche Würdigung eines Urteils sind ebenfalls sorgfältig abzufassen. Es ist tunlichst zu vermeiden, dass aufgrund einer Mehrzahl von Schreib, Zähl- und Zuordnungsfehlern die rechtliche Würdigung in sich widersprüchlich wird und keine Entsprechung im Urteilstenor findet. Zudem erleichert eine kurze Begründung die Nachvollziehbarkeit der Urteilsgründe, wenn das Tatgericht - wie hier im Fall 5 - bei vergleichbaren tatsächlichen Feststellungen zu einem abweichenden Schuldspruch gelangt.

3. Sollte das neue Tatgericht abermals feststellen, dass es sich bei den verfahrensgegenständlichen Taten um Fälle der gewerblichen Firmenbestattung handelte, die der Angeklagte initiierte und in deren Verlauf er die Geschicke der zu liquidierenden Unternehmen fest in den eigenen Händen hielt, wird zu prüfen sein, ob er in sämtlichen Fällen faktischer Geschäftsführer oder faktischer Liquidator der Gesellschaften war und deshalb eine Strafbarkeit als (Mit-)Täter in Betracht kommt. Einer Änderung der Schuldsprüche in den Fällen, in denen der Angeklagte bislang als Anstifter verurteilt wurde, stünde das Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) nicht entgegen (vgl. KKStPO/Gericke, 8. Aufl., § 358 Rn. 18 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 388

Bearbeiter: Christian Becker