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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 311

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 364/21, Beschluss v. 09.12.2021, HRRS 2022 Nr. 311


BGH 2 StR 364/21 - Beschluss vom 9. Dezember 2021 (LG Aachen)

Jugendstrafe (schädliche Neigung); Einziehung von Tatmitteln; Teilfreispruch (geänderte Konkurrenzverhältnisse; nicht nachweisbarer Einzelakt; versuchte besonders schwere Zwangsprostitution).

§ 17 Abs. 2 JGG; § 27 JGG; § 74 StGB; § 232a StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ergibt eine Hauptverhandlung, dass es sich bei den dem Angeklagten angelasteten Handlungen um selbständige, tatmehrheitliche Delikte handelt, etwa weil das verbindende Element, das die Einzelakte zu einer natürlichen Handlungseinheit verschmolzen hätte, nicht zu belegen ist und erweist sich in diesem Fall ein dem Angeklagten von Anklage und Eröffnungsbeschluss vorgeworfener Einzelakt als nicht nachweisbar, so ist der Angeklagte insoweit freizusprechen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 4. Dezember 2020

a) dahin ergänzt, dass der Angeklagte vom Vorwurf der versuchten besonders schweren Zwangsprostitution freigesprochen wird;

b) mit den Feststellungen aufgehoben aa) im Strafausspruch

bb) sowie im Ausspruch über die Einziehung eines Mobiltelefons Samsung A50.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schwerer Zwangsprostitution“ schuldig gesprochen und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt, das Mobiltelefon des Angeklagten als Tatmittel eingezogen und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 75 Euro angeordnet. Das auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Verfahrensrügen versagen aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts dargestellten Gründen.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch sowie zur Einziehung des Wertes von Taterträgen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Hingegen haben der Strafausspruch sowie die Einziehung eines Mobiltelefons keinen Bestand.

a) Die Jugendkammer hat sowohl bei der Prüfung, ob bei dem Angeklagten bereits schädliche Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG vorliegen wie auch bei ihrer Entscheidung nach § 27 JGG berücksichtigt, dass der Angeklagte neben der „schweren Zwangsprostitution“ zum Nachteil der 15- beziehungsweise 16-jährigen Nebenklägerin zwei weitere, ebenfalls angeklagte und eröffnete Taten zum Nachteil einer weiteren Zeugin begangen habe. Entsprechende Schuldsprüche sind weder verkündet noch im Tenor der Urteilsurkunde enthalten, sodass maßgebliche Grundlagen für die Entscheidung der Strafkammer nach § 27 JGG fehlen. Ein offensichtliches Verkündungs- bzw. Fassungsversehen, wonach ausnahmsweise eine Ergänzung der Urteilsformel zulässig wäre, liegt aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts dargestellten Gründen nicht vor.

b) Die Einziehung des Mobiltelefons als Tatmittel nach § 74 Abs. 1 StGB erfolgte, wie sich aus den Gesamtumständen der Urteilsgründe ergibt, wegen der nicht verurteilten Fälle II.1 und II.2 der Urteilsgründe. Sie unterfällt daher ebenfalls der Aufhebung.

c) Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die nicht abgeurteilten Fälle II.1 und II.2 der Urteilsgründe sind beim Revisionsgericht nicht anhängig geworden. Sie unterliegen der Kognition des Landgerichts (vgl. Senat, Beschluss vom 11. April 2017 ? 2 StR 345/16, NStZ 2017, 212, 213 mwN). Dieses hat insoweit neue Feststellungen zu treffen.

3. Das Rechtsmittel des Angeklagten führt darüber hinaus zur Nachholung eines Teilfreispruchs.

a) Dem Angeklagten war durch die Anklage zur Last gelegt worden, sich zum Nachteil der minderjährigen Nebenklägerin der besonders schweren Zwangsprostitution (§ 232a Abs. 1 und Abs. 4 [in der Fassung vom 15. Oktober 2016; BGBl. I S. 2226], § 232 Abs. 3 Nr. 1 StGB) sowie der ausbeuterischen und dirigistischen Zuhälterei (§ 181a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB) schuldig gemacht zu haben. Das Landgericht hat im Eröffnungsbeschluss darauf hingewiesen, dass „im Hinblick auf die Drohung, alles ihrem Vater zu erzählen, wenn sie der Prostitution nicht weiter nachginge, auch eine versuchte schwere Zwangsprostitution (in Tateinheit mit versuchter schwerer Zwangsarbeit und versuchter Zuhälterei) nach §§ 232a Abs. III, Abs. 4, 22, 23 StGB, gegebenenfalls in Tatmehrheit zu den weiteren angeklagten Delikten stehend, in Betracht kommen könnte.“ Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung sprach das Landgericht den Angeklagten wegen „schwerer Zwangsprostitution“ schuldig, weil er die Nebenklägerin veranlasste, die Prostitution aufzunehmen. Hinsichtlich des weiteren Vorwurfs, versucht zu haben, „die Nebenklägerin noch zu weiteren ähnlichen entgeltlichen sexuellen Kontakten zu überreden, als diese sich bereits nicht mehr für ihn prostituieren wollte“, hat es einen Schuldspruch unterlassen. Der Angeklagte habe „sich nicht strafbar gemacht, da insoweit jedenfalls eine letztendlich freiwillige Aufgabe dieser Versuche und damit ein Rücktritt im Sinne des § 24 StGB nicht ausgeschlossen werden konnte.“

b) Aufgrund der nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung geänderten Konkurrenzverhältnisse war der Angeklagte freizusprechen, um klarzustellen, dass die angeklagte versuchte besonders schwere Zwangsprostitution nicht zur Verurteilung gelangt ist.

aa) Ergibt eine Hauptverhandlung, dass es sich bei den dem Angeklagten angelasteten Handlungen um selbständige, tatmehrheitliche Delikte handelt, etwa weil das verbindende Element, das die Einzelakte zu einer natürlichen Handlungseinheit verschmolzen hätte, nicht zu belegen ist und erweist sich in diesem Fall ein dem Angeklagten von Anklage und Eröffnungsbeschluss vorgeworfener Einzelakt als nicht nachweisbar, so ist der Angeklagte insoweit freizusprechen (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juni 2011 ? 2 StR 90/11, juris Rn. 19; BGH, Beschlüsse vom 30. Oktober 1991 ? 4 StR 463/91, NStZ 1992, 398 und vom 12. Dezember 2013 ? 3 StR 210/13, juris Rn. 22; KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 260 Rn. 20; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., § 260 Rn. 12).

bb) Hieran gemessen war der Teilfreispruch nachzuholen. Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung stellte sich die zunächst versuchte besonders schwere Zwangsprostitution als selbständige Tat dar, von der der Angeklagte freiwillig zurückgetreten ist. Er ist damit hinsichtlich dieses Teilakts straffrei und insoweit freizusprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 311

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 104

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß