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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 149

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 397/21, Beschluss v. 18.11.2021, HRRS 2022 Nr. 149


BGH 1 StR 397/21 - Beschluss vom 18. November 2021 (LG München I)

Heimtückemord (keine Heimlichkeit erforderlich; fehlende Arglosigkeit des Erpressers); Einschränkung der Notwehr des Erpressungsopfers (Chantage; Verfahrenseinstellung; nemo tenetur; Zumutbarkeit).

§ 211 StGB; § 253 StGB; § 32 StGB; § 154c StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Heimtückisches Handeln im Sinne des § 211 StGB erfordert kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer vielmehr auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.

2. Die Beurteilung, ob ein Mensch arglos ist, richtet sich dabei grundsätzlich nach seiner tatsächlichen Einsicht in das Bestehen einer Gefahr; maßgeblich sind hierfür jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls. Ein Erpresser mag in der von ihm gesuchten Konfrontation mit dem Erpressten im Hinblick auf einen etwaigen abwehrenden Gegenangriff des Opfers auf sein Leben regelmäßig dann nicht arglos sein, wenn er in dessen Angesicht im Begriff ist, seine Tat zu vollenden oder zu beenden und damit den endgültigen Rechtsgutsverlust auf Seiten des Erpressten zu bewirken. Da der Erpresser mit einer Ausübung des Notwehrrechts durch sein Opfer grundsätzlich jederzeit rechnen muss, spricht bereits die Grundkonstellation gegen dessen Arglosigkeit.

3. Jedenfalls wohnt einer für den Erpresser tödlichen Gegenwehr des Erpressungsopfers vielfach nicht in dem Maße das Tückische inne, welches den gesteigerten Unwert des Mordmerkmals der Heimtücke kennzeichnet. Da der Erpresser (späteres Tatopfer) in derartigen Konstellationen der wirkliche Angreifer ist, gegen dessen Angriff dem Erpressungsopfer aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 32 StGB und der dieser zugrunde liegenden strafrechtlichen Werteordnung das Notwehrrecht zusteht, mit dessen Ausübung der Erpresser in einer solchen Lage grundsätzlich rechnen muss, erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzubürden, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen.

4. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer - auch normativ orientierten - einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs der Heimtücke mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat.

5. Wird der Angeklagte vom Tatopfer mit Androhung der Preisgabe seiner Beteiligung an Straftaten erpresst, liegt zwar ein andauernder und damit gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf seine freie Willensentschließung und sein Vermögen vor (vgl. hierzu: BGHSt 48, 207 ff. Rn. 16), wenn die von gewalttätigen Übergriffen begleiteten fortlaufenden Drohungen des Tatopfers zwecks Durchsetzung der von ihm erstrebten rechtsgrundlosen Zahlungen ununterbrochen fortwirkten und sich sogar zunehmend intensivierten. Eine Tötung ist zur Abwehr dieses fortdauernden und sich zunehmend steigernden Angriffs aber nicht erforderlich, wenn es dem Angeklagten - wie hier - möglich und zumutbar gewesen ist, sich zur Abwehr des Angriffs an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden und das Verhalten zur Anzeige zu bringen. Anderes ergibt sich insbesondere nicht aus dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur“), wenn der Angeklagte durch die Anzeige des erpresserischen Verhaltens des Tatopfers die Strafverfolgungsbehörden zu einem Einschreiten hätte veranlassen können, ohne gleichzeitig seine eigene Beteiligung an den Betäubungsmittelgeschäften preiszugeben. Zudem ermöglicht § 154c Abs. 2 StPO eine adäquate Auflösung des insoweit gegebenen Interessenkonfliktes (vgl. BGHSt 48, 207 ff. Rn. 16).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 10. Juni 2021

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Totschlags schuldig ist;

b) im Strafausspruch aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die mit der Rüge einer Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verband den Angeklagten und das spätere Tatopfer, S., seit dem Jahr 2019 eine Bekanntschaft dergestalt, dass der Angeklagte von S. regelmäßig Kokain erwarb und beide gelegentlich zusammen zum Feiern oder Essen ausgingen. Mitte November 2019 kündigte S. eine bis dahin mit dem Angeklagten bei den laufenden Betäubungsmittelgeschäften praktizierte Zahlungsvereinbarung, wonach der Angeklagte die von S. bezogenen Betäubungsmittel erst zum Monatsende zu bezahlen hatte, und forderte vom Angeklagten die sofortige Bezahlung ausstehender 700 €. Da der Angeklagte diese Zahlung erst Anfang Dezember 2019 erbringen konnte, forderte S. von ihm „Strafzinsen“ in Höhe von 300 €. In der Folgezeit erhob S. erhebliche weitere, aus Sicht des Angeklagten unberechtigte, also nicht mit den gemeinsamen Drogengeschäften begründbare Forderungen. Diese bekräftigte er gelegentlich mit Schlägen und Drohungen gegen den Angeklagten - insbesondere dann, wenn der Angeklagte die Berechtigung der Mehrforderungen in Frage stellte. Anfang Februar 2020 kündigte S. dem Angeklagten an, dass er, wenn dieser die von ihm erhobenen Forderungen nicht begleichen sollte, jede Woche zusätzlich weitere 1.000 € fordern werde, und sprach massive Drohungen gegen den Angeklagten für den Fall aus, dass dieser den Forderungen nicht nachkommen sollte. Der Angeklagte übergab S. infolge der Drohungen wiederholt aus seiner Sicht nicht geschuldete Beträge in dreistelliger Höhe.

Nachdem der Angeklagte den immer weiter steigenden Zahlungsverlangen des S. nicht hatte nachkommen können, forderte S. Mitte März 2020 zuletzt einen Betrag von 8.000 oder 9.000 € vom Angeklagten. Dieser erklärte S. am 16. März 2020 wahrheitswidrig, dass seine Mutter einen Kredit aufgenommen habe und er den geforderten Betrag am kommenden Tag bezahlen werde. Am 17. März 2020 rief der Angeklagte S. an und vereinbarte mit diesem ein Treffen. Beide verbrachten einige Stunden zusammen, wobei die Stimmung des S. wegen der ausstehenden Zahlung immer aggressiver wurde. Gegen 17.30/17.45 Uhr fuhr S. mit dem Angeklagten zur Wohnung von dessen Familie, damit dieser dort das Geld holen könne. Im Hausflur schlug S. dem Angeklagten mit voller Wucht in den Bauch und sagte, dass er noch etwas zu erledigen habe, danach aber wiederkomme. In einem vom Angeklagten und S. in der Zwischenzeit geführten Telefonat drohte S. dem Angeklagten zudem damit, dass er „nach oben kommen und alles auseinandernehmen“ werde, wenn sich herausstelle, dass das Geld nicht da sei. Der Angeklagte, der bereits zuvor zwei Lines Kokain konsumiert hatte, schnupfte noch einmal Kokain, holte sodann vom Dachboden eine Selbstladepistole, Kaliber 6,35 mm Browning, steckte diese in die Jackentasche und begab sich zu dem verabredeten Standort des S., der dort in seinem PKW auf den Angeklagten wartete.

Der Angeklagte umrundete das Fahrzeug des S. und setzte sich hinter dem Beifahrersitz auf die Rückbank, um zu verhindern, dass S. ihm die Waffe entreißt oder ihn schlägt. S. drehte sich um und fragte nach dem Geld, woraufhin der Angeklagte sagte, seine Mutter sei noch nicht da. Dann zog der Angeklagte die Waffe und sagte, dass er mehr Zeit für die Beschaffung des Geldes benötige und S. nicht mit in die Wohnung kommen dürfe. S. lachte den Angeklagten aus, fragte, was dieser mit dem „Spielzeug“ wolle, und sagte „Schieß doch, Hurensohn, ich lasse Dich nicht so einfach in Ruhe“. Zudem machte er, von der Waffe unbeeindruckt, mit seiner Hand eine Bewegung in Richtung des Angeklagten. Hierauf schoss der Angeklagte S. aus kurzer Distanz mit der zuvor entsicherten Waffe dreimal schnell hintereinander in den Kopf, wodurch S., der sich keines Angriffs auf Leib oder Leben versehen hatte und sich deshalb nicht effektiv gegen den Angriff des Angeklagten verteidigen konnte, verstarb. Den Umstand, dass sich S. keines Angriffs auf Leib oder Leben versah, nutzte der aufgrund des vorangegangenen Kokainkonsums zwar enthemmte, aber weder in seiner Einsichts- noch in seiner Steuerungsfähigkeit beeinträchtigte Angeklagte bewusst zur Tatbegehung aus.

2. Das Landgericht hat weder die Tat des Angeklagten als gerechtfertigt noch diesen als entschuldigt angesehen; die Vorgehensweise des Angeklagten hat es als heimtückisch im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB gewertet.

II.

1. Der Schuldspruch wegen Mordes hat keinen Bestand. Das Landgericht hat zwar rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Tat des Angeklagten weder gerechtfertigt war noch entschuldigt ist; es hat die Tatbegehung des Angeklagten aber rechtsfehlerhaft als heimtückisch im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB angesehen.

a) Die Tat des Angeklagten war, wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt. Zwar war der Angeklagte entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht nur einem latenten, sondern einem andauernden und damit gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf seine freie Willensentschließung und sein Vermögen ausgesetzt (vgl. hierzu: BGH, Urteil vom 12. Februar 2003 - 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 16 mwN), weil die von gewalttätigen Übergriffen begleiteten fortlaufenden Drohungen des Tatopfers zwecks Durchsetzung der von ihm erstrebten rechtsgrundlosen Zahlungen ununterbrochen fortwirkten und sich sogar zunehmend intensivierten; die Tötung des S. war indes zur Abwehr dieses fortdauernden und sich zunehmend steigernden Angriffs nicht erforderlich. Denn dem Angeklagten wäre möglich und zumutbar gewesen, sich zur Abwehr des von S. ausgehenden Angriffs an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden und das Verhalten von S. zur Anzeige zu bringen. Dieser Weg wäre nicht nur erfolgversprechend gewesen, sondern auch geboten und dem Angeklagten zumutbar (vgl. BGH, Urteile vom 19. August 2020 - 5 StR 219/20 Rn. 23 und vom 12. Februar 2002 - 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 16).

Anderes ergibt sich insbesondere nicht aus dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur“), weil der Angeklagte durch die Anzeige des erpresserischen Verhaltens des Tatopfers die Strafverfolgungsbehörden zu einem Einschreiten hätte veranlassen können, ohne gleichzeitig seine eigene Beteiligung an den Betäubungsmittelgeschäften preiszugeben. Zudem ermöglicht § 154c Abs. 2 StPO eine adäquate Auflösung des insoweit gegebenen Interessenkonfliktes (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2002 - 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 16).

b) Auch die Voraussetzungen des § 33 StGB sind nicht gegeben, weil nach den Feststellungen des Landgerichts kein Anhalt dafür besteht, dass der Angeklagte aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken die Grenzen des Notwehrrechts überschritten haben könnte.

c) Der Angeklagte befand sich nach den getroffenen Feststellungen auch nicht in einem entschuldigenden Notstand im Sinne des § 35 StGB, weil es ihm möglich und zumutbar gewesen wäre, die vom Tatopfer ausgehende Gefahr anders als durch dessen Tötung - nämlich durch Einschalten der Strafverfolgungsbehörden - abzuwenden.

d) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen indes nicht die Annahme, der Angeklagte habe S. heimtückisch im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB getötet.

aa) Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist dabei, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren.

(a) Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer vielmehr auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 6. Januar 2021 - 5 StR 288/20 Rn. 28 mwN).

(b) Begeht der Täter seine Tat als Opfer einer Erpressung in einer bestehenden Notwehrlage, kann dies - unbeschadet der weiteren Voraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes - Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage heimtückischen Handelns haben (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2002 - 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 9). Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer - auch normativ orientierten - einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs der Heimtücke mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat (BGHSt, aaO, Rn. 12; kritisch hierzu - nicht tragend - BGH, Urteile vom 10. Mai 2007 - 4 StR 11/07 Rn. 20 und vom 10. November 2004 - 2 StR 248/04 Rn. 19; vgl. im Übrigen BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 5 StR 219/20 Rn. 11 f., 18).

(c) In derartigen Konstellationen wird zudem die Frage aufgeworfen, ob das Tatopfer überhaupt arglos sein kann (vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Februar 2002 - 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 10). Die Beurteilung, ob ein Mensch arglos ist, richtet sich dabei grundsätzlich nach seiner tatsächlichen Einsicht in das Bestehen einer Gefahr; maßgeblich sind hierfür jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls (vgl. BGHSt, aaO Rn. 11). Ein Erpresser mag in der von ihm gesuchten Konfrontation mit dem Erpressten im Hinblick auf einen etwaigen abwehrenden Gegenangriff des Opfers auf sein Leben regelmäßig dann nicht arglos sein, wenn er in dessen Angesicht im Begriff ist, seine Tat zu vollenden oder zu beenden und damit den endgültigen Rechtsgutsverlust auf Seiten des Erpressten zu bewirken. Das sich wehrende Erpressungsopfer handelt hiernach in einem solchen Fall in aller Regel nicht heimtückisch (BGHSt, aaO Rn. 10). Denn in einer Konstellation, in dem sich das Erpressungsopfer gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen erpresserischen Angriff durch Tötung seines Erpressers wehrt, ist regelmäßig der Erpresser der Angreifer, weil er durch sein Verhalten den schützenden oder trutzwehrenden Gegenangriff herausgefordert hat, mag dieser Gegenangriff sich nun im Rahmen des durch Notwehr Gerechtfertigten halten oder die Grenzen der Notwehr überschreiten (BGHSt, aaO Rn. 11). Da der Erpresser mit einer Ausübung des Notwehrrechts durch sein Opfer grundsätzlich jederzeit rechnen muss, spricht bereits die Grundkonstellation gegen dessen Arglosigkeit (vgl. BGHSt, aaO, vgl. auch Urteil vom 9. Januar 1991 - 3 StR 205/90; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13); deren Vorliegen ist aber dennoch aufgrund einer Gesamtwürdigung der konkreten Tatumstände im Einzelfall festzustellen (BGHSt, aaO).

(d) Letztlich kann aber dahinstehen, ob das spätere Opfer des Gegenangriffs (der Erpresser) mit seinem konkreten Angriff auf die Willensfreiheit des Erpressungsopfers seine Arglosigkeit tatsächlich bereits verloren hat, weil es in einer von ihm geschaffenen Notwehrlage schon nach der gesetzlichen Wertung jederzeit mit einem Gegenangriff des Erpressten rechnen muss (vgl. BGHSt, aaO). Denn jedenfalls wohnt einer für den Erpresser tödlichen Gegenwehr des Erpressungsopfers vielfach nicht in dem Maße das Tückische inne, welches den gesteigerten Unwert des Mordmerkmals der Heimtücke kennzeichnet (BGHSt, aaO). Da nämlich der Erpresser (späteres Tatopfer) in derartigen Konstellationen der wirkliche Angreifer ist, gegen dessen Angriff dem Erpressungsopfer aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 32 StGB und der dieser zugrunde liegenden strafrechtlichen Werteordnung das Notwehrrecht zusteht, mit dessen Ausübung der Erpresser in einer solchen Lage grundsätzlich rechnen muss (vgl. BGHSt, aaO, vgl. auch BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13), erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzubürden, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen (BGHSt, aaO).

bb) Als heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB ist das Verhalten des Angeklagten nach alledem nicht zu bewerten.

(a) Der Angeklagte befand sich in einer nicht nur latenten, sondern fortdauernden, durch den Schlag des S. im Hausflur und dessen Ankündigung, er werde in Kürze nach oben kommen und „alles auseinander nehmen“, wenn das Geld nicht da sei (UA S. 15), zugespitzten Erpressungssituation und war daher einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt, gegen den er sich mit den Schüssen zur Wehr setzte. Zudem besteht nach den getroffenen Feststellungen auch kein Anhalt dafür, dass der Angeklagte sich deshalb gezielt auf die Rückbank des Fahrzeugs setzte, um dies für die Tötung S. s zu nutzen; vielmehr wollte er nur verhindern, dass S. ihm die Waffe aus den Händen reißen oder ihn schlagen könnte (UA S. 15). Den Feststellungen lässt sich insbesondere nicht entnehmen, dass der Angeklagte den Entschluss, S. zu töten, bereits beim Einsteigen in das Fahrzeug gefasst hatte; vielmehr wollte er diesen zunächst nur einschüchtern (UA S. 58). In der akut zugespitzten Situation im Fahrzeug verteidigte sich der Angeklagte mithin - die gesetzlichen Grenzen der Notwehr überschreitend - gegen den vom Tatopfer ausgehenden Angriff, ohne hierbei „tückisch“ im Wortsinne des Mordmerkmals „Heimtücke“ vorzugehen.

(b) Der Angeklagte vollzog seinen Gegenangriff auf S. insbesondere auch nicht aus einer von ihm gesuchten und vorbereiteten Situation heraus, was eine heimtückische Tatbegehung trotz der andauernden Erpressungslage begründen könnte (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 19. Januar 1995 - 4 StR 589/94 Rn. 5 ff.). Zwar ging die Verabredung des Angeklagten und des Tatopfers für den Nachmittag des 17. März 2020 vom Angeklagten aus; nach den landgerichtlichen Feststellungen besteht aber kein Anhalt dafür, dass der Angeklagte auf diese Verabredung gerade mit Blick auf eine Gelegenheit zur Tötung des S. hingewirkt haben könnte. Vielmehr entwickelte sich die konkrete Situation, aus der heraus der Angeklagte die Tat beging, erst aufgrund der zunehmenden Drohungen des Tatopfers und des von diesem unter Gewaltandrohung eingeforderten weiteren Treffens zwecks Übergabe des Geldes sowie dessen - für den Angeklagten unerwarteten - Verhaltens im Fahrzeug. Dass der Angeklagte insoweit planvoll vorging, als er die Waffe zu dem Treffen mitnahm, rechtfertigt keine andere Beurteilung, weil dies nach den Feststellungen nicht zwecks Tötung des S. geschah, sondern um diesen einzuschüchtern und so dazu zu bewegen, ihn mit seinen unberechtigten Forderungen in Ruhe zu lassen (UA S. 58).

2. Der Senat ändert den Schuldspruch selbst in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO ab, weil ausgeschlossen werden kann, dass weitere Feststellungen getroffen werden können, die eine Einordnung der Tat als Mord (§ 211 StGB) tragen könnten. Die Regelung in § 265 StPO steht nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.

3. Die Änderung des Schuldspruchs zieht die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich, wobei aber die Feststellungen insgesamt aufrechterhalten bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 149

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 288

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede