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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 142

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2316/21, Beschluss v. 11.01.2022, HRRS 2022 Nr. 142


BVerfG 2 BvR 2316/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Januar 2022 (LG Berlin)

Eilrechtsschutz im Strafvollzug gegen die Anordnung einer Fesselung bei einer Ausführung (Recht auf effektiven Rechtsschutz; fehlerhafte Auslegung des Begehrens als Vornahmeantrag; Unterlassen der gebotenen Abwägung zwischen Vollzugs- und Aussetzungsinteresse; verfassungsgerichtlicher Eilrechtsschutz; Abwendung eines schweren Nachteils; strenger Maßstab).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 114 Abs. 2 StVollzG; § 123 Abs. 1 VwGO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Begehrt ein Strafgefangener vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Anordnung einer Justizvollzugsanstalt, ihn während einer Ausführung zu fesseln und ihn von uniformierten Bediensteten begleiten zu lassen, so liegt ein Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz nahe, wenn die Strafvollstreckungskammer den Eilantrag ablehnt, weil sie das Begehren zu Unrecht als Vornahmeantrag auslegt und daher den Maßstab des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO heranzieht, anstatt die nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG gebotene Abwägung zwischen den Rechten des Gefangenen und dem Interesse an einem sofortigen Vollzug vorzunehmen.

2. Gleichwohl ist eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG nicht zu erlassen, weil sie nicht zur Abwendung eines schweren Nachteils erforderlich erscheint. Insoweit sind gegenüber dem - möglichst lückenlos zu gewährenden - fachgerichtlichen Rechtsschutz erheblich strengere Anforderungen zu stellen.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

1. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheidet hier nicht bereits deshalb aus (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>), weil die Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Jedenfalls soweit das Landgericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnt, weil eine vorläufige Zustandsregelung weder zur Abwendung eines dem Beschwerdeführer drohenden unverhältnismäßigen Nachteils noch aus anderen vorgreiflichen Gründen geboten erscheine, liegt eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) durch den angegriffenen Beschluss nicht fern. Der Beschluss ist auf die Annahme gestützt, dass der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anhand der Voraussetzungen der § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO gestellt habe. Diese Annahme erscheint hinsichtlich des vom Beschwerdeführer gestellten Antrags bedenklich. Dieser war der Formulierung nach darauf gerichtet, der Justizvollzugsanstalt im Wege des Eilrechtsschutzes zu untersagen, ihn während der Ausführung zu fesseln und dass die ihn begleitenden Beamten Dienstuniform tragen. Das einstweilige Rechtsschutzbegehren wäre daher nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zu prüfen gewesen. Das Gericht hätte demgemäß prüfen müssen, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Indem das Gericht diese Interessenabwägung unterlassen hat, besteht die Möglichkeit, dass es den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven vorläufigen Rechtsschutz nicht gerecht geworden ist.

2. Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts kommt dennoch nicht in Betracht. Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 93, 181 <186>). Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts weittragende Folgen haben können (vgl. BVerfGE 3, 41 <44>; stRspr), sondern auch im Hinblick auf die besondere Funktion und Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG ist - anders als der von Art. 19 Abs. 4 GG geprägte vorläufige Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren - nicht darauf angelegt, möglichst lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz zu bieten (vgl. BVerfGE 94, 166 <216 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2013 - 2 BvR 2541/13 -, Rn. 5 m.w.N.). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht kommt danach nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen in Betracht als die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte. Insbesondere sind, wenn eine einstweilige Anordnung zur Abwendung eines geltend gemachten schweren Nachteils erstrebt wird, erheblich strengere Anforderungen an die Schwere des Nachteils zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2013 - 2 BvR 2541/13 -, Rn. 5 m.w.N.). Nach diesen strengen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren des Eilrechtsschutzes hier nicht vor. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt sich nicht, dass eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile geeignet und dringend geboten ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 142

Bearbeiter: Holger Mann