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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 994

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 348/20, Beschluss v. 15.04.2021, HRRS 2021 Nr. 994


BGH 2 StR 348/20 - Beschluss vom 15. April 2021 (LG Bonn)

Schuldfähigkeit (Schädigung des Gehirns: allgemeine Sachkunde des Gerichts nicht ausreichend, spezialisierter Sachverständiger, Anhaltspunkte für ein Abweichen von der Norm aus psychiatrischer Sicht, fehlendes Berufen des Angeklagten auf eine Erkrankung); Beweiswürdigung (Beweisantrag ins Blaue hinein).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht die allgemeine Sachkunde eines Gerichts regelmäßig nicht aus, soweit es um die Beurteilung der Auswirkungen von Schädigungen des Gehirns auf die Schuldfähigkeit geht. Erforderlich ist vielmehr die Hinzuziehung eines auf Hirnverletzungen spezialisierten Sachverständigen, der mit apparativen Untersuchungen hirnorganische Ursachen und Auswirkungen einer Schädigung feststellen kann.

2. Dies kann nicht ersetzt werden durch eigene Erwägungen des Tatrichters, zu denen er aufgrund seiner „Beobachtung des Verhaltens in der Hauptverhandlung“ und aufgrund einer tatrichterlichen Bewertung von für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bedeutsamen Umständen wie etwa seiner schulischen und beruflichen Entwicklung gekommen ist. Werden mit ärztlichem Attest Umstände unter Beweis gestellt, die auch nur möglicherweise Anhaltspunkte für ein Abweichen von der Norm aus psychiatrischer Sicht enthalten, scheidet eine auf eigene Sachkunde gestützte Ablehnung des Beweisantrags aus. Dies gilt selbst dann, wenn der Angeklagte sich selbst nicht auf diese Erkrankung beruft.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 7. Juli 2020 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Die Revision rügt zu Recht, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

1. In der Hauptverhandlung am 30. Juni 2020 stellte der Verteidiger des Angeklagten einen Beweisantrag zur Einholung eines Schuldfähigkeitsgutachtens. Das Gutachten werde zeigen, dass die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seiner Tat einzusehen und/oder nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich vermindert gewesen sei.

Zur Begründung wurde ausgeführt, der Angeklagte verfüge gemäß der Angabe von Dr. med. F. lediglich über einen IQ von 92. Zudem habe er eine eigene Missbrauchsgeschichte und sei selbst Opfer sexueller Gewalt gewesen. Zudem leide er an einer hirnorganischen Schädigung, so dass zumindest nicht ausgeschlossen erscheine, dass der Angeklagte während der Tatbegehung diese mindestens im Zustand verminderten Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB bei nicht auszuschließender vollständiger Aufhebung im Sinne des § 20 StGB begangen habe.

Dem Antrag beigefügt war ein Attest des den Angeklagten behandelnden Psychologen Dr. med. F. mit den Diagnosen „leichte kognitive Störung“ und „sonstige näher bezeichnete Krankheiten des Gehirns“. Weiter heißt es in der Bescheinigung:

„Herr M. gab bei Erstvorstellung an, an einem frühkindlichen Hirnschaden und einer Intelligenzminderung zu leiden. In einer orientierenden Testung erreichte Herr M. einen IQ von 92. Genaue Unterlagen hierzu liegen nicht vor. Im Kontakt und auch in der Beschreibung fallen immer wieder Verhaltensweisen, die für eine verminderte Abgrenzungs- und Steuerungsfähigkeit sprechen, zeitweise sei er stark verschuldet gewesen und habe 25 verschiedene Gläubiger gehabt. Aus psychiatrischer Sicht besteht eine am ehesten hirnorganische Wesensveränderung, die mit einer Minderung der Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit einhergehen kann, weshalb eine psychiatrische Begutachtung empfohlen wird.“ Das Landgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 3. Juli 2020 zurückgewiesen. Es hat darin lediglich einen Beweisermittlungsantrag gesehen und hat sich auch nicht veranlasst gesehen, diesem zur Erforschung der Wahrheit nachzugehen. Es werde keine konkrete Tatsache behauptet, sondern lediglich der Gesetzestext wiedergegeben. Selbst dann, wenn es sich um einen Beweisantrag im engeren Sinn handeln würde, hätte die Kammer diesen zurückgewiesen, weil sie selbst über die erforderliche Sachkunde verfüge (§ 244 Abs. 4 StPO). Es lägen keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit vor. Die Einsichtsfähigkeit sei vorhanden gewesen. Der Angeklagte habe auf Nachfragen des Gerichts selbst angegeben, dass er gewusst habe, dass das, was er damals mit dem Geschädigten gemacht habe, „Scheiße“ gewesen sei. Er habe im Übrigen ausgeführt, dass er aufgrund der eigenen Missbrauchserfahrungen gewusst habe, wie schlimm die Übergriffe für den Geschädigten gewesen seien. Auch lägen keine Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit vor. Der Angeklagte sei durchschnittlich intelligent. Er habe einen Hauptschulabschluss, eine abgeschlossene Lehre als Beikoch und Berufserfahrung. Er könne lesen und schreiben. Zudem habe er der Hauptverhandlung folgen und Fragen sachgerecht und sinnvoll beantworten können. Soweit eine frühere kindliche hirnorganische Störung angeführt werde, sei diese dem Angeklagten nicht bekannt. Er sei nach eigenen Angaben auch zu keiner Zeit „durch eine Röhre“ untersucht worden. Auch seiner Schwester sei von einer solchen Schädigung nichts bekannt. Soweit in dem Antrag auf das Attest des Dr. F. Bezug genommen werde, ergebe sich aus diesem lediglich, dass der Angeklagte selbst einen frühkindlichen Hirnschaden erwähnt habe und dass dieser vermutlich „am ehesten“ vorliege. Letztlich handele es sich nur um Vermutungen. Eine diesbezügliche Untersuchung habe nicht stattgefunden. Insgesamt reiche dies aus Sicht der Kammer angesichts des sonstigen Verhaltens des Angeklagten nicht aus, Anhaltspunkte für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit zu liefern.

Mit einem weiteren Antrag vom 3. Juli 2020 wiederholte und modifizierte der Angeklagte sein Beweisbegehren zum Vorliegen einer hirnorganischen Schädigung bzw. einer frühkindlichen Hirnschädigung und einer dadurch bedingten erheblich verminderten Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit. Auch diesen Antrag wies das Landgericht zurück.

2. Die Zurückweisung des Beweisantrags vom 30. Juni 2020 hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Bei dem Antrag des Angeklagten handelte es sich um einen Beweisantrag. Dieser behauptet mit dem Hinweis darauf, dass der Angeklagte über eine „hirnorganische Schädigung“ verfüge, das Vorliegen einer psychiatrisch relevanten Erkrankung des Angeklagten und damit eine bestimmte Tatsache, die auch dem Sachverständigenbeweis zugänglich ist. Dies wird nicht durch die weitere Formulierung in Frage gestellt, dass es aufgrund dessen zumindest nicht ausgeschlossen erscheine, dass der Angeklagte die Taten zumindest im Zustand verminderter Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB bei nicht auszuschließender vollständiger Aufhebung im Sinne von § 20 StGB begangen habe. Damit ist weiterhin bestimmt behauptet, dass eine solche hirnorganische Schädigung vorliege, und zudem vorgetragen, dass diese auch Auswirkungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit habe.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts liegen der aufgestellten Beweisbehauptung auch nicht lediglich bloße Vermutungen zugrunde, was gegebenenfalls dazu führen könnte, den Beweisantrag als ins Blaue hinein gestellt zu sehen (vgl. dazu Krehl, in: KK-StPO, 8. Aufl., § 244 Rn. 73). Das dem Antrag des Angeklagten beigefügte Attest des Dr. F. bietet hinreichend konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen der behaupteten Erkrankung. Es enthält bei verständiger Auslegung seines Inhalts eine eigene ärztliche Stellungnahme, die ersichtlich auf einem persönlichen Kontakt mit dem Angeklagten und nicht allein auf dessen Angaben beruht, und die mit Blick auf eine jedenfalls mögliche hirnorganisch bedingte Wesensveränderung (die mit einer Minderung der Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit einhergehen kann) in die Empfehlung einer psychiatrischen Begutachtung mündet. Dass dieser Einschätzung des Dr. F. selbst keine weitergehende Untersuchung etwa durch bildgebende Diagnostik zugrunde gelegen hat, nimmt ihr nicht die Qualität einer auf Sachkunde gestützten Stellungnahme, die konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer strafrechtlich möglicherweise relevanten psychiatrischen Erkrankung enthält.

b) Die Ablehnung des Beweisantrags begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat sich für den Fall, dass es sich entgegen der eigenen Ansicht doch um einen Beweisantrag handele, auf den Ablehnungsgrund der eigenen Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) berufen und mit im Einzelnen ausgeführten Erwägungen dargelegt, dass aus seiner Sicht keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit vorlägen. Diese Zurückweisung des Beweisantrags, die insoweit nicht geltend macht, es fehle bereits an erforderlichen Anknüpfungstatsachen für die Erstattung eines Gutachtens, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht die allgemeine Sachkunde eines Gerichts regelmäßig nicht aus, soweit es um die Beurteilung der Auswirkungen von Schädigungen des Gehirns auf die Schuldfähigkeit geht (vgl. etwa BGHR StPO § 244 Abs. 4 Schuldfähigkeitsgutachten 1; § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 3 mwN). Erforderlich ist vielmehr die Hinzuziehung eines auf Hirnverletzungen spezialisierten Sachverständigen (vgl. Senat, NStZ 2020, 368, 369), der mit apparativen Untersuchungen hirnorganische Ursachen und Auswirkungen einer Schädigung feststellen kann (vgl. Eschelbach BeckOK StGB, § 20 Rn. 13). Dies kann nicht ersetzt werden durch eigene Erwägungen des Tatrichters, zu denen er aufgrund seiner „Beobachtung des Verhaltens in der Hauptverhandlung“ und aufgrund einer tatrichterlichen Bewertung von für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bedeutsamen Umständen wie etwa seiner schulischen und beruflichen Entwicklung gekommen ist. Werden wie hier mit dem ärztlichen Attest Umstände unter Beweis gestellt, die auch nur möglicherweise Anhaltspunkte für ein Abweichen von der Norm aus psychiatrischer Sicht enthalten, scheidet eine auf eigene Sachkunde gestützte Ablehnung des Beweisantrags aus. Dies gilt selbst dann, wenn der Angeklagte sich selbst nicht auf diese Erkrankung beruft (BGH NStZ-RR 2006, 140, 141).

c) Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht jedenfalls der Strafausspruch. Der Senat kann zwar ausschließen, dass ein eingeholtes Sachverständigengutachten zur Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB gekommen wäre, nicht aber, dass sich daraus das Vorliegen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit ergeben hätte.

II.

Die Sache bedarf damit - da die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der allgemeinen Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO) - lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 994

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 61; StV 2022, 209

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß