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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 933

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 194/21, Beschluss v. 13.07.2021, HRRS 2021 Nr. 933


BGH 3 StR 194/21 - Beschluss vom 13. Juli 2021 (LG Bad Kreuznach)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Person unter 18 Jahren; Obhutsverhältnis; Abhängigkeit; Unter- und Überordnung; Überwachung der Lebensführung; Einzelfallbetrachtung).

§ 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 18 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Ob ein solches Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 9. März 2021 mit denjenigen Feststellungen aufgehoben, die das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin betreffen; die übrigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen diese Verurteilung. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, denn die bisherigen Feststellungen belegen nicht, dass zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten zu den Tatzeitpunkten ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der genannten Vorschrift bestand.

Hierzu hat der Generalbundesanwalt das Folgende ausgeführt:

„Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 18 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 07.04.2020 - 3 StR 44/20, StV 2021, 263; BGH, Beschl. v. 5.7.2017 - 4 StR 228/17, BeckRS 2017, 118934; Beschl. v. 8.12.2015 - 2 StR 200/15, NStZ-RR 2016, 201; Senat, Beschl. v. 5.4.2011 - 3 StR 12/11, StV 2011, 482; Urt. v. 5.11.1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344 f.). Ob ein solches Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BGH, Beschl. v. 5.11.1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344; Beschl. v. 25.4.2012 - 4 StR 74/12, NStZ 2012, 690).

Ausweislich der Feststellungen war der Angeklagte seit September 2015 als Hausmeister und Gärtner für die berufstätige, alleinstehende Pflegemutter des Tatopfers tätig und mit der Beaufsichtigung und Betreuung des Tatopfers und ihres Bruders im Haushalt der Pflegemutter betraut, während diese aufgrund ihrer Arbeitszeiten außer Haus war (UA S. 5). Im Tatzeitraum Februar bis Juni 2019 beaufsichtigte der Angeklagte das 17jährige Tatopfer wöchentlich jedenfalls freitags von 13.00 und 15.00 Uhr (UA S. 6), als die Kinder von der Schule kamen und die Pflegemutter noch auf ihrer Schichtarbeit war. Darüberhinausgehende Betreuungszeiten im Tatzeitraum sind nicht festgestellt. Dass der Angeklagte im Haushalt der Pflegemutter lebte, ist ebenfalls nicht festgestellt.

Aus diesen Feststellungen lässt sich ein besonderes Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten nicht zweifelsfrei entnehmen. In welcher konkretisierenden Art und Weise und in welchem zeitlichen Umfang der Angeklagte die Pflegemutter vor allem bei der Erziehung der Geschädigten unterstützte, bleibt nach den Feststellungen unklar. So bleibt etwa offen, wie oft und wie lange die Pflegemutter wegen ihrer Arbeit abwesend war und über welche Zeiträume der Angeklagte das Tatopfer über die nur relativ kurzen Tatzeiträume hinaus beaufsichtigt hat und ob er die Pflegemutter auch bei Erziehungsfragen unterstützt hat. Konkrete Anhaltspunkte, die für ein Obhutsverhältnis sprechen könnten, etwa, dass der Angeklagte den Tagesablauf des Tatopfers organisierte, den Schulbesuch überwachte, sich um Ernährung und Körperhygiene des Tatopfers kümmerte, an den gemeinsamen Mahlzeiten der Pflegefamilie teilnahm, der Pflegemutter im Haushalt half, Ausflüge mit der Pflegefamilie unternahm oder die Kinder abends zu Bett brachte, sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Auch soweit darauf abgestellt wird, dass das Tatopfer den Angeklagten als Autoritätsperson anerkannt hat (UA S. 6), lässt das Urteil dahingehende Feststellungen vermissen, dass dem Angeklagten die Mitverantwortung bei der Erziehung des Pflegekindes durch die Pflegemutter eingeräumt war, er etwa Verbote und Erlaubnisse erteilen und Strafen verhängen konnte bzw. solche tatsächlich ausgesprochen hat. Die Überwachung und Leitung der geistig-seelischen Entwicklung des Tatopfers durch den Angeklagten versteht sich angesichts des Alters des Tatopfers und der Tätigkeit des Angeklagten als Hausmeister und Gärtner auch nicht von selbst.“

Dem tritt der Senat bei.

Die Aufhebung der Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen hat die Aufhebung der für sich genommen rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen Vergewaltigung in jedem Einzelfall zur Folge, weil beide Delikte jeweils tateinheitlich verwirklicht wurden (vgl. KKStPO/Gericke, 8. Aufl., § 353 Rn. 12 mwN).

Da weitergehende Feststellungen das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin betreffend möglich erscheinen, ist die Sache unter Aufhebung der diesbezüglichen bisherigen Feststellungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Einer Aufhebung der übrigen Feststellungen bedarf es nicht, da diese nicht im Sinne des § 353 Abs. 2 StPO von der zur Aufhebung des Urteils führenden Gesetzesverletzung betroffen werden. Insoweit sind ergänzende, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 933

Bearbeiter: Christian Becker