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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 931

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 156/21, Beschluss v. 29.06.2021, HRRS 2021 Nr. 931


BGH 3 StR 156/21 - Beschluss vom 29. Juni 2021 (LG Wuppertal)

Beweiswürdigung bei Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts (Aussage; Erinnerung der Vernehmungsperson; Verlesung; Inbegriff der Hauptverhandlung).

§ 261 StPO; § 249 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts ist zwar möglich, unterliegt aber Grenzen. Denn Beweisgrundlage ist in diesen Fällen nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern das, was die Vernehmungsperson hierzu erklärt. Nur die Aussage wird zum verwertbaren Teil des Inbegriffs der Verhandlung. Bei längeren oder komplexen Urkunden besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Sinn der schriftlichen Erklärung auf den mündlichen Vorhalt hin nicht richtig oder nur unvollständig erfasst oder den genauen Wortlaut eines Schriftstücks nicht zuverlässig erinnert. In solchen Fällen muss die Urkunde für eine ordnungsgemäße Einführung gemäß § 249 Abs. 1 StPO verlesen werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 23. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Zwei Monate der Strafe hat es wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Ihre auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision gegen das Urteil hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg.

I.

Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen missbrauchte die Angeklagte im Januar 2013 gemeinsam mit ihrem ehemaligen und inzwischen verstorbenen Ehemann ihre damals vierjährige Tochter, die Nebenklägerin. Der erhobenen Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Die sich schweigend verteidigende Angeklagte hatte sich im Frühjahr 2013 in zwei polizeilichen Vernehmungen zur Tat geäußert. Zu ihren damaligen Angaben hörte das Landgericht die jeweiligen Vernehmungsbeamtinnen. Dabei hielt es den Zeuginnen die seinerzeit gefertigten Protokolle vor. Die Beamtin der ersten Vernehmung konnte sich laut den Urteilsfeststellungen „nicht mehr im Detail an die Einzelheiten der von ihr durchgeführten Vernehmung erinnern“, bestätigte jedoch, darum bemüht gewesen zu sein, die Angaben der Angeklagten wörtlich aufzunehmen. Die Vernehmungsprotokolle wurden nicht anderweitig als Urkunden in die Hauptverhandlung eingeführt.

In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer die Vernehmungsprotokolle wörtlich zitiert. Aus dem ersten Protokoll sind eine Frage und die insgesamt 17 Sätze umfassende Antwort der Angeklagten im Wortlaut übernommen. Das Zitat aus der zweiten polizeilichen Vernehmung erstreckt sich nahezu geschlossen über vier Seiten des Urteils.

Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten maßgeblich auf ihre geständigen Einlassungen bei den damaligen polizeilichen Vernehmungen gestützt. Es hat im Rahmen der Beweiswürdigung den Wortlaut der zitierten Angaben der Angeklagten analysiert und ist auf dieser Grundlage zu dem Schluss gelangt, dass die Schilderung auf einem realen Erleben basierte. Ergänzend hat die Strafkammer weitere Beweismittel herangezogen.

II.

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Revisionsbegründung gibt hinreichend die den Mangel enthaltenden Tatsachen im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Angesichts der sich über mehrere Seiten erstreckenden wörtlichen Wiedergabe der Vernehmungsprotokolle war ein Vortrag dazu entbehrlich, welche Inhalte genau den Vernehmungsbeamtinnen vorgehalten wurden (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2017 - 3 StR 424/16, NStZ 2017, 722, 723).

2. Die Rüge ist auch begründet. Die Angeklagte beanstandet zu Recht, dass das Landgericht die Feststellungen teilweise nicht anhand der Beweisergebnisse aus der Hauptverhandlung getroffen hat (Verstoß gegen § 261 StPO). Die polizeilichen Aussagen der Angeklagten aus dem Jahr 2013 waren im Umfang ihrer Verwertung nicht Gegenstand der Beweisaufnahme. Es ist auszuschließen, dass die Strafkammer ihre Überzeugung vom wortgetreuen Inhalt der Vernehmungen allein durch Vorhalte gewonnen hat. Hierzu gilt:

Die Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts ist zwar möglich, unterliegt aber Grenzen. Denn Beweisgrundlage ist in diesen Fällen nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern das, was die Vernehmungsperson hierzu erklärt. Nur die Aussage wird zum verwertbaren Teil des Inbegriffs der Verhandlung (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 11. April 2012 - 3 StR 108/12, NStZ-RR 2012, 212 f.; Urteil vom 21. März 2012 - 1 StR 43/12, NStZ 2012, 521, 522 mwN). Bei längeren oder komplexen Urkunden besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Sinn der schriftlichen Erklärung auf den mündlichen Vorhalt hin nicht richtig oder nur unvollständig erfasst oder den genauen Wortlaut eines Schriftstücks nicht zuverlässig erinnert. In solchen Fällen muss die Urkunde für eine ordnungsgemäße Einführung gemäß § 249 Abs. 1 StPO verlesen werden (BGH, Beschlüsse vom 25. April 2012 - 4 StR 30/12, juris Rn. 7; vom 30. August 2011 - 2 StR 652/10, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 48 Rn. 8 mwN; vom 5. April 2000 - 5 StR 226/99, BGHR StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene mwN).

Angesichts der Länge und Komplexität der aus den Protokollen zitierten Äußerungen der Angeklagten ist auszuschließen, dass die Polizeibeamtinnen deren Richtigkeit in dem im Urteil zitierten Umfang im Wortlaut im Einzelnen erinnern konnten. Die Vernehmungen lagen bereits über sieben Jahre zurück. Hinzu kommt, dass eine Zeugin auf Erinnerungslücken verwies und auf Nachfrage lediglich ihre damalige Sorgfalt bei der Niederschrift bestätigte. Dies genügt für die Einführung von Vernehmungsprotokollen mittels Vorhalt nicht (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2012 - 1 StR 43/12, NStZ 2012, 521, 522 mwN; Beschluss vom 4. April 2001 - 5 StR 604/00, bei Becker, NStZ-RR 2002, 65, 71 mwN).

Das Urteil beruht auf dem Verfahrensverstoß (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat die Protokolle, deren umfangreiches originalgetreues Zitat es für geboten hielt, seiner Entscheidung zugrunde gelegt und den Wortlaut der damaligen Angaben der Angeklagten für seine Beweiswürdigung herangezogen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Die strafschärfende Berücksichtigung des Umstands, dass „die Angeklagte der Aufforderung des früheren Mitangeklagten, sich an der Tat in der geschehenen Art und Weise zu beteiligen, letztlich im Tatzeitpunkt keinen nach außen erkennbaren Widerstand entgegensetzte“, könnte Bedenken dahin erwecken, dass entgegen § 46 Abs. 2 StGB die Tatbegehung als solche zu ihren Lasten berücksichtigt wird.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 931

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 119; StV 2021, 782

Bearbeiter: Christian Becker