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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 844

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 12/21, Beschluss v. 27.04.2021, HRRS 2021 Nr. 844


BGH 2 StR 12/21 - Beschluss vom 27. April 2021 (LG Bonn)

Totschlag; Versuch (beendeter Versuch: Vorliegen bei gedanklicher Indifferenz des Täters, Vorliegen bei Kenntnis der die den Erfolgseintritt nahelegenden tatsächlichen Umstände).

§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB; § 212 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein beendeter Versuch liegt auch dann vor, wenn sich der Täter nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht.

2. Diese gedankliche Indifferenz des Täters gegenüber den von ihm bis dahin angestrebten oder doch zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen ist eine innere Tatsache, die positiv festgestellt werden muss. Hierzu bedarf es in der Regel einer zusammenfassenden Würdigung aller maßgeblichen objektiven Umstände. Können keine eindeutigen Feststellungen getroffen werden, ist der Zweifelsgrundsatz anzuwenden.

3. Ein Versuch ist auch dann beendet, wenn der Täter Kenntnis der tatsächlichen Umstände hat, die den Erfolgseintritt nach der Lebenserfahrung nahelegen, was bei gefährlichen Gewalthandlungen und schweren Verletzungen, insbesondere bei tief in den Brust- oder Bauchraum eingedrungenen Messerstichen, deren Wirkungen der Täter wahrgenommen hat, auf der Hand liegt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 23. Juni 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte die Angeklagte mit dem Nebenkläger, dem späteren Tatopfer, eine gemeinsame Wohnung bezogen. Nach einem erneuten Streit begab sich der Nebenkläger gemeinsam mit zwei Nachbarn in eine Spielhalle. Zahlreiche Versuche der Angeklagten, ihn anzurufen, beantwortete er nicht. Die Angeklagte begann, Alkohol zu konsumieren. Sie kommunizierte mit einer Freundin, schrieb dem Nebenkläger Chat-Nachrichten (unter anderem, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle) und packte schließlich aus Wut dessen Bekleidung in einen Koffer und Tüten, die sie teils aus dem Fenster warf, teils auf die Treppe vor der Wohnung stellte. Dies sah der Nebenkläger, als er mit seinen Nachbarn zum Wohnanwesen zurückkehrte. Während diese in ihre Wohnung gingen, setzte sich der Angeklagte auf ein Schuhregal im Hausflur.

Die Angeklagte, die bemerkt hatte, dass sich jemand vor der Wohnung befand, öffnete die Wohnungstür und sah den Nebenkläger. In dem Moment bekam sie Angst, er werde zu ihr in die Wohnung kommen und sie - wie schon mehrfach in alkoholisiertem Zustand - schlagen. In ihrer Angst lief sie in die Küche, ergriff dort ein Messer mit einer Klingenlänge von 19 cm, lief damit erneut vor die Wohnung und „versetzte dem Nebenkläger dort mit dem Messer unvermittelt einen Stich in den Brustkorb, um seine Rückkehr in die Wohnung und die befürchteten Schläge zu verhindern sowie ihn gleichzeitig für sein rücksichtsloses Verhalten zu bestrafen. Hierbei erkannte sie die Möglichkeit des Todeseintritts und nahm diesen billigend in Kauf.“ Anschließend lief sie zurück in die Wohnung, schloss die Tür und setzte sich aufs Bett, das Messer ließ sie hinter sich fallen.

Unmittelbar nachdem die Angeklagte die Wohnungstür geschlossen hatte, schleppte sich der Nebenkläger zur Wohnung seiner Nachbarn, die auf sein Klopfen öffneten. Der Nebenkläger bat, einen Krankenwagen zu holen. Anschließend sackte er sofort in sich zusammen und kam auf dem Fußboden zum Liegen. Einer der beiden Nachbarn kümmerte sich um den Nebenkläger, der andere begab sich ein Stockwerk nach unten, um mit Hilfe dort wohnender Zeugen einen Rettungswagen zu verständigen. Währenddessen trat die Angeklagte noch einmal vor die Wohnung und sagte sinngemäß, der Nebenkläger sei selber schuld. Anschließend ging sie wieder in ihre Wohnung und schloss die Türe hinter sich.

Der Nebenkläger erlitt eine äußerlich etwa vier Zentimeter lange Stichverletzung in der rechtsseitigen Brustregion unmittelbar unterhalb des rechten Schlüsselbeins. Der von unten außen nach oben innen geführte Stich durchtrennte den Ansatzknorpel der zweiten Rippe sowie ein arterielles Gefäß und führte zu einem Eindringen von Luft und Blut in die Brusthöhle. In der Folge kollabierte die Lunge des Nebenklägers; eine Thoraxdrainage wurde erforderlich. Für den Nebenkläger bestand akute Lebensgefahr, er konnte aber gerettet werden.

Die nach den Feststellungen nicht trinkgewohnte Angeklagte hatte zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,42 Promille; ihre Steuerungsfähigkeit war erheblich eingeschränkt.

2. Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Begründung, mit der das Landgericht hinsichtlich des versuchten Tötungsdelikts einen beendeten Versuch angenommen hat, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Auf die Verfahrensbeanstandung kommt es daher nicht an.

a) Im Ansatzpunkt zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass ein beendeter Versuch, von dem nur unter den - hier nicht gegebenen - erschwerten Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Satz 2 StGB zurückgetreten werden kann, auch dann vorliegt, wenn sich der Täter nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 2 StR 540/98, NStZ 1999, 299; BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 - 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264 Rn. 9; Beschluss vom 29. Mai 2007 - 3 StR 179/07, NStZ 2007, 634, 635; Beschluss vom 3. März 2011 - 4 StR 52/11 Rn. 7). Diese gedankliche Indifferenz des Täters gegenüber den von ihm bis dahin angestrebten oder doch zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen ist eine innere Tatsache, die positiv festgestellt werden muss. Hierzu bedarf es in der Regel einer zusammenfassenden Würdigung aller maßgeblichen objektiven Umstände. Können keine eindeutigen Feststellungen getroffen werden, ist der Zweifelsgrundsatz anzuwenden (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013 - 4 StR 170/13, NStZ 2013, 703, 704; Beschluss vom 11. März 2014 - 1 StR 735/13, NStZ 2014, 396 mwN).

b) Diesen Anforderungen werden die Darlegungen in den Urteilsgründen nicht in vollem Umfang gerecht. Die Strafkammer hat maßgeblich darauf abgestellt, dass die Angeklagte sich „trotz der objektiven und für jeden erkennbaren Gefährlichkeit des Stiches“ nicht vergewissert habe, dass sich die „Gefährlichkeit ihres Handelns“ ausnahmsweise nicht verwirklicht habe. Dies mag zutreffend sein, lässt unter den Umständen des Falles aber keinen tragfähigen Rückschluss auf das Vorstellungsbild der Angeklagten unmittelbar nach der Tat zu. Zwar ist ein Versuch auch dann beendet, wenn der Täter Kenntnis der tatsächlichen Umstände hat, die den Erfolgseintritt nach der Lebenserfahrung nahelegen, was bei gefährlichen Gewalthandlungen und schweren Verletzungen, insbesondere bei tief in den Brust- oder Bauchraum eingedrungenen Messerstichen, deren Wirkungen der Täter wahrgenommen hat, auf der Hand liegt (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2004 - 4 StR 326/04, NStZ 2005, 263, 264 mwN). Was die Angeklagte tatsächlich wahrgenommen hat, stellt die Strafkammer nicht fest. Die Urteilsgründe verhalten sich auch nicht dazu, was sie - etwa aufgrund der Lichtverhältnisse zur Tatzeit, des Tatablaufs, feststellbarer Tatfolgen (beispielsweise Blutverlust) oder der Reaktion des Tatopfers - wahrnehmen konnte und musste. Dies versteht sich nach den getroffenen Feststellungen, wonach sich die Tat zur Nachtzeit außerhalb einer Wohnung abspielte und es dem Tatopfer noch gelang, zur Nachbarwohnung zu kommen, wo ihm geholfen wurde, auch nicht von selbst und hätte daher im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung näherer Erörterung bedurft.

c) Die Verurteilung wegen versuchten Totschlags kann daher keinen Bestand haben. Dies zieht die Aufhebung der Verurteilung wegen des tateinheitlich verwirklichten Körperverletzungsdelikts nach sich, auch wenn dieses ansonsten rechtsfehlerfrei festgestellt ist.

3. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls auch den Tötungsvorsatz erneut zu prüfen haben. Das angefochtene Urteil ist insoweit nicht unbedenklich, als es in dem Wunsch der Angeklagten, den Nebenkläger zu bestrafen, ein Tötungsmotiv erblickt. Denn dies würde einerseits - im Widerspruch zu den sonstigen Urteilsgründen - auf direkten Tötungsvorsatz hindeuten. Andererseits ist die Möglichkeit, die Angeklagte könnte in einer Körperverletzung eine ausreichende Strafe gesehen haben, nicht erkennbar in den Blick genommen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 844

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 271

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß