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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 835

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 477/20, Urteil v. 24.06.2021, HRRS 2021 Nr. 835


BGH 5 StR 477/20 - Urteil vom 24. Juni 2021 (LG Berlin)

Versuchter Totschlag (Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz; anschauliche und konkrete Lebensgefährlichkeit; Rücktritt; unbeendeter und beendeter Versuch).

§ 212 StGB; § 24 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont). Wenn der Täter bei einem Tötungsdelikt den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht, liegt ein beendeter Versuch vor, mit der Folge, dass er für den Eintritt der Straffreiheit entweder den Tod durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum jedenfalls freiwillig und ernsthaft bemühen muss. Rechnet der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit dem Eintritt des Erfolges, hält er jedoch die Vollendung weiterhin für möglich, liegt ein unbeendeter Versuch vor; für eine Straffreiheit genügt sodann die Aufgabe der weiteren Tatausführung.

2. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit der Tatausführung stellt auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. März 2020 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten, die die Verurteilung wegen Körperverletzung in zwei Fällen von ihrem Angriff ausgenommen hat, bleibt ohne Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts feierte der Angeklagte mit seiner Freundin in einem Club und hatte über den Abend verteilt Kokain und alkoholische Mischgetränke konsumiert. Als seine Freundin im Vorraum der Toiletten mit einer anderen Besucherin in eine körperliche Auseinandersetzung geriet, sah der Angeklagte, dass deren Bekannte eingreifen wollte, und schlug beiden Frauen ins Gesicht. Das Landgericht hat die Handlungen jeweils als Körperverletzung bewertet (Taten 1 und 2).

2. Der Nebenkläger, der auf den Tumult im Toilettenbereich aufmerksam geworden war, sah, dass der Angeklagte eine der Frauen schubste, und schlug ihm daraufhin zweimal heftig mit der Faust ins Gesicht. Es kam zu einem kurzen Handgemenge, welches der Türsteher des Clubs dadurch beendete, dass er den Nebenkläger in den Gastraum schob.

Der Angeklagte, der infolge seines Alkohol- und Kokainkonsums sowie einer affektiven Erregung nicht ausschließbar in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war, folgte den beiden. Er wollte sich rächen und dem Nebenkläger mit einem Klappmesser einen Stich versetzen. Er schlug zunächst mit seiner linken Faust in dessen Richtung. Als der Türsteher dem Schlag auswich, nutzte der Angeklagte die Situation aus und stach an ihm vorbei dem Nebenkläger mit dem in der rechten Hand geführten Klappmesser in die linke Brusthälfte, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Der Nebenkläger wurde „durch den Stoß nach hinten befördert, … sackt(e) in sich zusammen, krümmt(e) seinen Oberkörper nach vorne“. Das Messer drang mindestens drei bis vier Zentimeter in die Brust ein, eröffnete den Herzbeutel und verletzte die linke Brustwandarterie, aus der sich Blut in den Herzbeutel ergoss. Die Schnittverletzungen bluteten zudem stark nach außen. Unmittelbar nach dem Stich umfasste der Türsteher den Nebenkläger und schirmte ihn mit seinem Körper vollständig vom Angeklagten ab. Dieser hatte die Auswirkungen seines Stichs noch nicht wahrgenommen, klappte das Messer etwa 1,5 Sekunden nach dem Stich wieder mit seiner rechten Hand ein und schlug mit der linken Faust weiter in Richtung des Nebenklägers, ohne ihn zu treffen. Der Türsteher schob den Nebenkläger hinter den Tresen, bemerkte dessen Blutung und zeigte dem Angeklagten seine blutverschmierte Hand. Dieser sah nun, dass er dem Nebenkläger eine blutende Stichverletzung zugefügt hatte, und erkannte, dass ihm in dieser Situation weitere Stiche nicht mehr möglich waren. Er zog sich zurück und warf das Messer in eine Herrentoilette (Tat 3).

Der Nebenkläger überlebte aufgrund vor Ort durchgeführter Reanimationsmaßnahmen sowie anschließender Operation und befand sich zwei Wochen in stationärer Behandlung.

3. Das Landgericht hat die Tat zum Nachteil des Nebenklägers als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet (§ 212 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 223 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1 und 2, § 52 StGB); es hat angenommen, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe und nicht strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten sei.

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Der Schuld- und der Strafausspruch halten rechtlicher Prüfung stand.

1. Die im Gewand einer Verfahrensrüge nach § 261 StPO, tatsächlich aber sachlich-rechtlich beanstandete Beweiswürdigung des Landgerichts zum Ablauf des Messereinsatzes ist rechtsfehlerfrei. Dass die Strafkammer nach Augenscheinseinnahme des Messers den Schluss gezogen hat, der Angeklagte sei - wie sie - in der Lage gewesen, dieses einhändig zu öffnen und wieder zu schließen, begegnet keinen Bedenken und erweist sich entgegen der Ansicht der Revision auch nicht als Zirkelschluss. Die vom Landgericht im Übrigen gewürdigten weiteren Beweismittel tragen seine Überzeugung, dass sich die Tat wie festgestellt ereignet hat.

2. Das Landgericht hat zutreffend das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung bejaht und rechtsfehlerfrei einen gemäß § 24 Abs. 1 StGB strafbefreienden Rücktritt vom beendeten Versuch des Totschlags abgelehnt. Im Einzelnen:

a) Die Strafkammer hat das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes tragfähig begründet.

Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn zudem billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit ihm abfindet. Bei äußerst gefährlichen (Gewalt-)Handlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen, und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit der Tatausführung stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar (BGH, Urteil vom 4. März 2021 - 5 StR 509/20 mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 517/18, NStZ 2019, 208; Beschluss vom 23. Juni 2020 - 5 StR 601/19).

Gemessen daran ist die Annahme des Landgerichts, dass der mit einem Messer in den besonders gefährdeten linken Brust-/Herzbereich des Nebenklägers zustechende Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe, nicht zu beanstanden.

b) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Versuch beendet, da der Angeklagte mit dem Stich bereits alles nach seiner Vorstellung für eine Tötung des Nebenklägers Erforderliche getan hatte.

Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung, dem sogenannten Rücktrittshorizont (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 23. Oktober 2019 - 5 StR 677/18). Wenn der Täter bei einem Tötungsdelikt den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht, liegt ein beendeter Versuch vor (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2017 - 5 StR 6/17, NStZ 2017, 576), mit der Folge, dass er für den Eintritt der Straffreiheit entweder den Tod durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum jedenfalls freiwillig und ernsthaft bemühen muss. Rechnet der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit dem Eintritt des Erfolges, hält er jedoch die Vollendung weiterhin für möglich, liegt ein unbeendeter Versuch vor; für eine Straffreiheit genügt sodann die Aufgabe der weiteren Tatausführung.

aa) Nach diesen Maßstäben tragen die Feststellungen die Annahme, dass der Versuch des Tötungsdelikts aus der Sicht des Angeklagten zu dem für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts maßgeblichen Zeitpunkt beendet war, als er mit dem Klappmesser in die Herzregion des Nebenklägers zugestochen hatte.

Angesichts der vom Nebenkläger gezeigten Reaktion konnte er nicht davon ausgehen, dass er ihn nicht getroffen hatte. Es ist deshalb nicht ersichtlich, dass der Angeklagte, auch wenn er die von ihm verursachte Blutung noch nicht wahrgenommen hatte, nicht mehr mit der tödlichen Folge seiner Handlung rechnete.

bb) Die Schlagbewegungen im Anschluss an den Messerstich führen zu keiner anderen Beurteilung. Denn die bei dem Messerstich vorherrschende Erwartung des Angeklagten über den möglichen Eintritt des Todes des Nebenklägers veränderte sich bei den anschließenden Faustschlägen nicht mehr. Dies hat das Landgericht rechtsfehlerfrei auf das sich nur über kurze Zeit, nämlich eine Sekunde, erstreckende dynamische Geschehen gestützt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2017 - 5 StR 6/17, NStZ 2017, 576). Angesichts dessen ergaben sich hier keine Anhaltspunkte für die weitergehende Erörterung einer Korrektur des Rücktrittshorizonts. Ob sich die Faustschläge als Ausdruck einer vom Angeklagten ersonnenen zusätzlichen, mit Körperverletzungsvorsatz geführten Bestrafung des bereits potentiell tödlich getroffenen Nebenklägers darstellen, kann deshalb letztlich offenbleiben.

Durch den Hinweis des Türstehers auf die blutende Wunde beim Nebenkläger erhielt der Angeklagte Gewissheit über die Schwere der Verletzung und wurde in seiner Vorstellung bestätigt, alles zum Eintritt des Taterfolges Erforderliche getan zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es für die Frage des Rücktritts bedeutungslos, dass er zu diesem Zeitpunkt ohnehin keine Möglichkeit mehr hatte, auf den Nebenkläger einzuwirken.

Die im Anschluss an den Messerstich vom Angeklagten geführten Faustschläge stellen auch keinen Anhalt für einen Vorsatzwechsel dar, mit dem sich das Landgericht näher hätte auseinandersetzen müssen. Die von der Revision und in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts angeführte Entscheidung des 4. Strafsenats (Beschluss vom 5. September 2019 - 4 StR 394/19, NStZ 2020, 82, 83) ist nicht einschlägig, denn in ihr ging es - anders als hier dargelegt - um einen unbeendeten Versuch.

c) Da der Angeklagte weder eigene Rettungsbemühungen unternommen noch sich freiwillig und ernsthaft um eine Verhinderung des Eintritts des Todes bemüht hat, liegt kein strafbefreiender Rücktritt (§ 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. und Satz 2 StGB) vor.

3. Die auf die Sachrüge weiter gebotene Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 835

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 340

Bearbeiter: Christian Becker