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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 720

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 142/20, Urteil v. 20.05.2021, HRRS 2021 Nr. 720


BGH 6 StR 142/20 - Urteil vom 20. Mai 2021 (LG Verden)

Mord (niedrige Beweggründe: keine verständliche Reaktion; Ehrenkodex; Gruppenloyalität).

§ 211 Abs. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die billigend in Kauf genommene Auslöschung des Lebens eines Zufallsopfers wegen der Orientierung an einem gruppeninternen „Ehrenkodex“ ist keine verständliche Reaktion, sondern eine besonders verachtenswerte Form der Geringschätzung des personalen Eigenwerts des Opfers.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 13. Januar 2020 aufgehoben

a) im Fall II.1 der Urteilsgründe mit Ausnahme der Feststellungen zum objektiven Geschehen und zum Tötungsvorsatz,

b) betreffend die Angeklagten T. und B. darüber hinaus im Strafausspruch.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten zu mehrjährigen Jugendstrafen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge, dass die Angeklagten im Fall II.1 „nur“ wegen versuchten Totschlags und nicht wegen versuchten Mordes (jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) verurteilt wurden. Die wirksam hierauf beschränkten Revisionen, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, haben Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:

Die Angeklagten befanden sich seit dem frühen Abend des 9. Mai 2019 zusammen mit dem anderweitig Verfolgten A. und den beiden Zeugen J. und K. auf einem Parkplatz in H. und tranken alkoholhaltige Mischgetränke; sie waren angetrunken, in ihrer Steuerungsfähigkeit jedoch jeweils nicht erheblich eingeschränkt. Gegen 22 Uhr fuhr der sichtbar alkoholisierte Nebenkläger auf seinem Fahrrad an der Gruppe vorbei. Hierbei fragte ihn der Angeklagte B., ob man sich kenne. Nachdem der Nebenkläger angehalten und dies verneint hatte, wurde er vom Angeklagten B. aufgefordert weiterzufahren; der Nebenkläger blieb jedoch stehen und erwiderte „ob er jetzt Angst haben müsse“. Unvermittelt schlug ihm der Angeklagte B. so stark gegen das Kinn, dass der Nebenkläger zu Boden ging. Die Angeklagten T., N. und M. sowie A. eilten herbei, um B. zu unterstützen. Mit Ausnahme des Angeklagten M. schlugen und traten sie ebenfalls auf den am Boden liegenden Nebenkläger ein, wobei A. diesem mit einem Messer - von den Angeklagten unbemerkt - mindestens einen Stich versetzte.

Nach einiger Zeit ließ die Gruppe vom Nebenkläger ab. Es gelang ihm aufzustehen und davonzulaufen. Der Angeklagte M. meinte nun, vom Nebenkläger den Ausspruch „Hurensöhne“ vernommen zu haben, setzte ihm nach und brachte ihn durch zwei Faustschläge zu Fall. Die weiteren Angeklagten sowie A. umstellten in einem Halbkreis den am Boden liegenden Nebenkläger, weil innerhalb der Gruppe eine Art „Ehrenkodex“ herrschte, wonach jeder den jeweils anderen bei Auseinandersetzungen unterstützt.

A. versetzte dem Nebenkläger nunmehr mit heftigen Ausholbewegungen mindestens zehn Stiche in den Oberkörper und den Kopf. Diese waren derart wuchtig, dass sie zu akut lebensbedrohlichen, stark blutenden Verletzungen führten. Die Angeklagten nahmen die Stiche wahr. Sie schlugen bzw. traten jeweils zeitgleich auf den Nebenkläger ein, wobei sie erkannten, dass dieser infolge der Messerstiche versterben konnte, was sie billigend in Kauf nahmen. Sie handelten dabei, „ohne einen konkreten Anlass hierfür zu haben“, vielmehr „insbesondere auch aufgrund einer innerhalb der Gruppe herrschenden, die Angeklagten antreibenden und gegenseitig aufstachelnden Gruppendynamik, die sich dadurch manifestierte, dass das gemeinschaftliche Gruppengefühl auch durch die Gelegenheit zu einer körperlichen Auseinandersetzung (…) geradezu gesucht wurde.“ Als A. nach einiger Zeit rief, er habe den Nebenkläger „angestochen“ und alle sollten „abhauen“, beendeten die Angeklagten die Misshandlungen und liefen davon. An einer nahegelegenen Straßenlaterne hielten sie inne und beratschlagten, ob ein Notarzt gerufen werden sollte, weil sie davon ausgingen, dass der Nebenkläger anderenfalls verstürbe. Aus Furcht, hierdurch selbst als Täter entdeckt zu werden, sahen sie davon ab und verließen den Parkplatz. Der Nebenkläger überlebte infolge glücklicher Umstände nach einer Notoperation, befand sich drei Tage im künstlichen Koma und leidet bis heute an erheblichen Tatfolgen.

2. Das Landgericht hat sämtliche Tatbeiträge, einschließlich des Messereinsatzes durch A. in der zweiten Phase des Geschehens, allen Angeklagten wechselseitig zugerechnet. Mordmerkmale hat es verneint. Insbesondere lägen niedrige Beweggründe nicht vor. Denn die Angeklagten hätten die Gewalthandlungen begangen, weil diese „in erster Linie aus dem Motiv der Langeweile heraus und infolge einer sich im weiteren Geschehensverlauf entwickelnden Gruppendynamik und Gruppenloyalität, die zwischen den Mitgliedern der Gruppe üblich war und aufgrund derer keiner der Angeklagten die jeweils anderen im Stich lassen wollte“ geschahen. Dieser Handlungsantrieb eines falsch verstandenen „Ehrenkodexes“ könne nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung „nicht als sozialethisch auf tiefster Stufe stehend und einer niedrigen Gesinnung entspringend eingestuft werden“. Auch Heimtücke sei nicht gegeben.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind begründet. Die Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Totschlags (in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Die Rechtsmittel sind wirksam auf die Verurteilung im Fall II.1 der Urteilsgründe und die Strafaussprüche beschränkt. Zwar hat die Staatsanwaltschaft die uneingeschränkte Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt. Die Auslegung ihrer Revisionsbegründung (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 158/17) ergibt aber, dass die Beschwerdeführerin das Urteil nur insoweit angreift, als sie im Fall II.1 auf der Grundlage der Feststellungen eine Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Mordes statt wegen versuchten Totschlags (jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) erstrebt.

2. Allerdings stellt es entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft keinen Erörterungsmangel dar, dass das Landgericht das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht nicht geprüft hat. Denn die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen bieten insbesondere der Anwesenheit von zwei unbeteiligten Tatzeugen keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Angeklagten durch die mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführten Schläge und Tritte während des zweiten Handlungsabschnitts die vorangegangene Körperverletzung oder Spuren verdecken wollten, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über ihre Tatbeteiligung hätten geben können (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juni 2019 - 4 StR 541/18, NStZ 2019, 605, 606). Insbesondere waren die Misshandlungen auch nicht von der Tendenz getragen, die Situation der Angeklagten im Hinblick auf eine drohende Strafverfolgung zu verbessern (vgl. BGH, Urteil vom 17. Mai 2011 - 1 StR 50/11, BGHSt 56, 239, 244).

3. Die Ablehnung niedriger Beweggründe hält indes revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.

Die billigend in Kauf genommene Auslöschung des Lebens eines Zufallsopfers wegen der Orientierung an einem gruppeninternen „Ehrenkodex“ ist keine verständliche Reaktion, sondern eine besonders verachtenswerte Form der Geringschätzung des personalen Eigenwerts des Opfers. Dabei lässt die Tat nachgerade eine Gesinnung der Täter erkennen, die Freude an körperlicher Misshandlung zum Inhalt hat (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2001 - 2 StR 259/01, BGHSt 47, 128, 132; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 87). Aus reiner Willkür spielten sie sich zu Herren über Leben und Tod auf. Das damit bestehende eklatante Missverhältnis zwischen Anlass und Tat ist als sittlich besonders verwerflich zu qualifizieren (vgl. BGH, Urteile vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 273/11; vom 27. Januar 1956 - 2 StR 432/55, BGHSt 9, 180, 183).

4. Die Aufhebung der Verurteilung wegen versuchten Totschlags erfasst auch den an sich rechtsfehlerfrei getroffenen tateinheitlichen Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie entzieht zugleich den Strafaussprüchen gegen die wegen weiterer Taten verurteilten Angeklagten T. und B. die Grundlage.

Da die Rechtsfehler nur die Bewertung des Tötungsmotivs und die - nicht näher festgestellte - subjektive Seite der Mordmerkmale betreffen, können die Feststellungen zum objektiven Geschehen im Übrigen, einschließlich der Frage der Schuldfähigkeit, und zum Tötungsvorsatz bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Sie können um solche ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen.

Das neue Tatgericht wird zu prüfen haben, ob sich die alkoholisierten Angeklagten der Umstände bewusst waren, die ihre Beweggründe als niedrig erscheinen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 22. März 2017 - 2 StR 656/13, NStZ 2018, 527; Beschluss vom 12. September 2019 - 5 StR 399/19).

5. Einer Kompensation der Dauer des Revisionsverfahrens bedarf es nicht. Das Verfahren ist vor allem unter Berücksichtigung der mit der Corona-Pandemie verbundenen Erschwernisse angemessen zügig geführt worden und verletzt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK demgemäß nicht. Der zunächst auf den 3. November 2020 anberaumte Hauptverhandlungstermin konnte wegen der Erkrankung eines Verteidigers nicht stattfinden. Im Hinblick auf die seit dem 14. Dezember 2020 in Sachsen geltenden verschärften coronabedingten Einschränkungen wurde der für den 15. Dezember 2020 anberaumte Ersatztermin aufgehoben. Ein neuer Termin konnte auch wegen der Anzahl der Beteiligten erst auf den heutigen Tag bestimmt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 720

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 734

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede