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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 618

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 47/20, Beschluss v. 28.04.2021, HRRS 2021 Nr. 618


BGH StB 47/20 - Beschluss vom 28. April 2021

Überwachung von beim Provider gespeicherten E-Mails (Telekommunikation; Telekommunikationsdienst; Dienstanbieter; Verkehrsdaten; Over the Top-Dienste; telekommunikationsrechtliche Begriffsbildung); Statthaftigkeit der Beschwerde.

§ 100a StPO; § 304 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei versandten oder empfangenen E-Mails handelt es sich um Telekommunikation im Sinne von § 100a StPO selbst dann noch, wenn sie nach Kenntnisnahme beim „Provider“ zwischen- oder endgespeichert werden. Derartige Anbieter, welche die Kommunikation mittels über das Internet weitergeleiteter E-Mails ermöglichen, erbringen Telekommunikationsdienste im Sinne des § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO unabhängig davon, ob sie zugleich den Zugang zum Internet oder lediglich sogenannte „Over the top"-Dienste (OTT-Dienste) bereitstellen.

2. Die Strafprozessordnung verweist zur Bestimmung der Begriffe „Telekommunikation“ und „Telekommunikationsdienst“ nicht generell auf das Telekommunikationsgesetz, so dass die telekommunikationsrechtliche Einordnung einzelner Dienste zwar von Belang, aber nicht ohne Weiteres ausschlaggebend ist. Obschon grundsätzlich bei der Auslegung ein Rückgriff auf die fachgesetzlichen Definitionen zulässig ist, ergibt sich daraus nicht zwingend ein vollständiger Gleichlauf. Vielmehr sind die unterschiedlichen Regelungsgegenstände in den Blick zu nehmen, im vorliegenden Zusammenhang mithin strafverfahrensrechtliche Ermittlungsmaßnahmen einerseits sowie die Wettbewerbsregulierung, die Infrastrukturförderung und die Gewährleistung von Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation (s. § 1 TKG) andererseits.

Entscheidungstenor

Die Beschwerde der T. GmbH gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 14. April 2020 wird verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Generalbundesanwalt führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts, als Finanzmittler zugunsten terroristischer Vereinigungen fortgesetzt und regelmäßig Spenden Dritter entgegengenommen sowie an die Organisationen weitergeleitet zu haben.

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat mit dem angefochtenen Beschluss ( ) die Überwachung und Aufzeichnung der über zwei näher bezeichnete E-Mail-Adressen geführten Telekommunikation für die Dauer von drei Monaten angeordnet sowie Weiteres hierzu, zur Kenntnisnahme und Speicherung der gewonnenen Daten und zur Zurückstellung der Benachrichtigung der betroffenen Beteiligten bestimmt. Die Beschwerdeführerin hat nach Erhalt einer Beschlussausfertigung dem Generalbundesanwalt mitgeteilt, aus technischen Gründen der ermittlungsrichterlichen Anordnung nicht mehr entsprechen zu können. Sie erhebe keine Verkehrsdaten mehr und habe die Möglichkeiten zur Überwachung des E-Mail-Verkehrs aus ihrem System entfernt.

Die Beschwerdeführerin begehrt mit ihrer durch Schriftsatz ihres Bevollmächtigten am 25. November 2020 eingelegten Beschwerde eine Aufhebung des Beschlusses, hilfsweise die Feststellung dessen Rechtswidrigkeit. Sie ist im Wesentlichen der Auffassung, dass sie keine Telekommunikationsdienste im Sinne des § 3 Nr. 24 TKG erbringe und daher nicht zu den angeordneten Maßnahmen verpflichtet werden dürfe. Das Rechtsmittel, dem der Ermittlungsrichter nicht abgeholfen hat, hat keinen Erfolg.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 5 StPO statthaft, da sie sich gegen eine Entscheidung wendet, die in § 101 Abs. 1 StPO bezeichnete Maßnahmen nach § 100a StPO zum Gegenstand hat. Die Beschwerdeführerin ist als verpflichtete Adressatin des Beschlusses betroffen und insoweit beschwerdebefugt (§ 304 Abs. 2 StPO; vgl. auch BGH, Beschluss vom 20. August 2015 - StB 7/15, NStZ-RR 2015, 345). Ihr Rechtsschutzbedürfnis ist nicht dadurch entfallen, dass der Anordnungszeitraum verstrichen ist; denn es besteht zumindest, gerade angesichts unterschiedlicher Rechtsprechung (s. einerseits LG München I, Beschluss vom 4. Dezember 2019 - 9 Qs 15/19, MMR 2020, 336; LG Köln, 3 4 5 Beschluss vom 15. Juli 2020 - 118 Qs 7/20, MMR 2021, 179; andererseits LG Hannover, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - 96 Qs 8/20; vom 4. Juni 2020 - 46 Qs 26 und 27/20), die von ihr geltend gemachte Wiederholungsgefahr (vgl. allgemein BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 - 5 ARs 17/19, NJW 2020, 3123 Rn. 13 mwN; BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2017 - 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164 Rn. 14).

2. Die beanstandete Anordnung der Telekommunikationsüberwachung und -aufzeichnung war rechtmäßig. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob die Beschwerdeführerin Telekommunikationsdienste im Sinne des § 3 Nr. 24 TKG erbrachte.

a) § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO gestattet unter bestimmten Voraussetzungen, Telekommunikation - einschließlich dabei anfallender Verkehrsdaten (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2018 - 3 StR 400/17, BGHSt 63, 82 Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 2 BvR 2377/16, NJW 2019, 584 Rn. 44) - zu überwachen und aufzuzeichnen. Nach § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO hat auf Grund der Anordnung einer Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation jeder, der Telekommunikationsdienste erbringt oder daran mitwirkt, dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und ihren im Polizeidienst tätigen Ermittlungspersonen diese Maßnahmen zu ermöglichen und die erforderlichen Auskünfte unverzüglich zu erteilen.

Bei versandten oder empfangenen E-Mails handelt es sich um Kommunikation im Sinne der Vorschrift selbst dann noch, wenn sie nach Kenntnisnahme beim „Provider“ zwischen- oder endgespeichert werden (vgl. im Einzelnen BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - 5 StR 229/19, NJW 2021, 1252 Rn. 14 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 63. Aufl., § 100a Rn. 6b). Derartige Anbieter, welche die Kommunikation mittels über das Internet weitergeleiteter E-Mails ermöglichen, erbringen Telekommunikationsdienste im Sinne des § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO unabhängig davon, ob sie zugleich den Zugang zum Internet oder lediglich sogenannte „Over the top"-Dienste (OTT-Dienste) bereitstellen (vgl. auch LG München I, Beschluss vom 4. Dezember 2019 - 9 Qs 15/19, MMR 2020, 336; Rottmeier/Faber, MMR 2020, 339, 340; aA etwa Dieckmann/Heidrich, MMR 2021, 179 ff.).

aa) Der Gesetzestext stellt auf das Erbringen von Telekommunikationsdiensten ab. Handelt es sich bei der Kommunikation über durch Internetverbindungen vermittelte E-Mails um Telekommunikation (s. dazu etwa BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 2 BvR 2377/16, NJW 2019, 584 Rn. 42 mwN; BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - 5 StR 229/19, NJW 2021, 1252 Rn. 15), liegt es nach dem Wortlaut des § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO nahe, dass der Betreiber eines E-Mail-Dienstes zugleich einen Telekommunikationsdienst erbringt.

bb) Die Gesetzessystematik steht einem solchen Verständnis nicht entgegen. Insbesondere verweist die Strafprozessordnung zur Bestimmung der Begriffe „Telekommunikation“ und „Telekommunikationsdienst“ nicht auf das Telekommunikationsgesetz, sondern nimmt auf dieses und die Telekommunikations-Überwachungsverordnung lediglich in § 100a Abs. 4 Satz 2 StPO hinsichtlich der Frage Bezug, ob und in welchem Umfang Vorkehrungen zu treffen sind, um Überwachungsmaßnahmen zu ermöglichen. Obschon grundsätzlich bei der Auslegung ein Rückgriff auf die fachgesetzlichen Definitionen zulässig ist (s. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 2 BvR 2377/16, NJW 2019, 584 Rn. 42; vgl. bereits BGH, Urteil vom 14. März 2003 - 2 StR 341/02, BGHR StPO § 100a Verwertungsverbot 13), ergibt sich daraus nicht zwingend ein vollständiger Gleichlauf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 1454/13, NJW 2016, 3508 Rn. 25 ff., 32). Vielmehr sind die unterschiedlichen Regelungsgegenstände in den Blick zu nehmen, im vorliegenden Zusammenhang mithin strafverfahrensrechtliche Ermittlungsmaßnahmen einerseits sowie die Wettbewerbsregulierung, die Infrastrukturförderung und die Gewährleistung von Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation (s. § 1 TKG) andererseits.

Vor diesem Hintergrund ist die telekommunikationsrechtliche Einordnung einzelner Dienste zwar von Belang, aber nicht ohne Weiteres ausschlaggebend. Daher kommt es nicht entscheidend darauf an, dass Art. 21 Buchst. c der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (RahmenRL) in der durch die Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung dahin auszulegen ist, dass ein internetbasierter E-Mail-Dienst, der keinen Internetzugang vermittelt, nicht ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über elektronische Kommunikationsnetze besteht und daher keinen „elektronischen Kommunikationsdienst“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2019 - C-193/18 - Google LLC / Deutschland - NJW 2019, 2597; nachfolgend etwa OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 5. Februar 2020 - 13 A 17/16, MMR 2020, 347). Dies gilt umso mehr, als nach Erwägungsgrund Nr. 7 RahmenRL die Möglichkeit für jeden Mitgliedstaat unberührt bleibt, „die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Schutz seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen sicherzustellen, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und die Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten zu ermöglichen, wozu unter anderem gehört, dass die nationalen Regulierungsbehörden spezifische und angemessene Verpflichtungen für Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste festlegen“. Hinzu kommt, dass nach Art. 2 Nr. 4 Buchst. c der - in Deutschland kurz vor der Umsetzung stehenden - Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (ABl. L 321 S. 36) interpersonelle Kommunikationsdienste unter elektronische Kommunikationsdienste fallen (vgl. dazu auch Erwägungsgrund Nr. 15, 17 der Richtlinie).

cc) Der Gesetzeszweck spricht für das dargelegte Ergebnis. Die Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO hat die Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten zum Ziel (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. März 2003 - 1 BvR 330/96 u.a., BVerfGE 107, 299, 316). Dies erfordert, dass die Ermittlungsbehörden tatsächlich auf die Telekommunikation zugreifen können. Eine solche Zugangsmöglichkeit zu einem bestimmten E-Mail-Postfach kann regelmäßig allein dessen Anbieter effektiv eröffnen. Gerade bei internetgestützten E-Mail-Diensten, die losgelöst von dem Internetzugang als solchem angeboten werden, wäre angesichts der vielfältigen Abrufmöglichkeiten über diverse Internetzugänge eine anderweitige Überwachung schwerlich möglich.

dd) Der Gesetzgeber hat den - dem jetzigen § 100a Abs. 4 StPO weitgehend entsprechenden (vgl. BT-Drucks. 18/12785 S. 52) - § 100b Abs. 3 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3198, 3200) zur Umsetzung von Art. 17 i.V.m. Art. 16 des Übereinkommens des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität (BGBl. II, 2008 S. 1242) ausgeweitet und dabei gesehen, „dass sich Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen in effizienter Weise regelmäßig nur unter Mitwirkung der Telekommunikationsdienstleister umsetzen lassen“ (BT-Drucks. 16/5846 S. 47). Den Begriff der Dienstleister hat er in diesem Zusammenhang nicht näher definiert. Allerdings geht Art. 1 Buchst. c des Übereinkommens über Computerkriminalität von einem eher weiten Verständnis des Dienstanbieters aus (vgl. auch BT-Drucks. 16/7218 S. 42). In der Begründung eines aktuellen Gesetzentwurfs zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung nimmt die Bundesregierung an, dass bereits nach derzeitiger Rechtslage der verdeckte Zugriff auf beim Provider zwischen- oder endgespeicherter E-Mail dem Anwendungsbereich des § 100a StPO unterfalle (BT-Drucks. 19/27654 S. 62).

b) Daran gemessen erbrachte die Beschwerdeführerin Telekommunikationsdienste im Sinne des § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO und unterlag demgemäß den sich daraus ergebenden Pflichten. Hierfür kommt es nicht darauf an, inwieweit sie nach § 100a Abs. 4 Satz 2 StPO i.V.m. TKG und TKÜV bestimmte Vorkehrungen zu treffen hatte. Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 6 TKG bleibt von dieser Vorschrift die nunmehr in § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO enthaltene grundsätzliche Verpflichtung nach § 100b Abs. 3 Satz 1 StPO aF unberührt. Mithin sind eine technische Vorhaltungsverpflichtung und die Zulässigkeit einer Überwachungsanordnung zu unterscheiden (s. dazu bereits BGH, Beschluss vom 20. August 2015 - StB 7/15, NStZ-RR 2015, 345 f.; vgl. auch MüKoStPO/Günther, § 100b Rn. 36; SSWStPO/Eschelbach, 4. Aufl., § 100a Rn. 23; NK-Gesamtes Medienrecht/Keller, 4. Aufl., 90. Abschnitt Rn. 13; von zur Mühlen, Zugriffe auf elektronische Kommunikation, 2019, S. 270 ff.). Eine weitergehende allgemeine Erörterung ist angesichts der geplanten Änderung des Telekommunikationsgesetzes durch das - vom Bundestag bereits verabschiedete - Telekommunikationsmodernisierungsgesetz (vgl. BT-Drucks. 19/26108; BTPlPr. 19/224, S. 28408) nicht erforderlich.

c) Sonstige Gründe, die der Beschwerde zum Erfolg verhelfen könnten, sind weder vorgebracht, noch haben sie sich sonst ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 618

Bearbeiter: Christian Becker