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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 234

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 280/20, Beschluss v. 21.01.2021, HRRS 2021 Nr. 234


BGH 2 StR 280/20 - Beschluss vom 21. Januar 2021 (LG Aachen)

Voraussetzungen der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe (restriktive Auslegung und Anwendung des Zweifelssatzes).

§ 27 JGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anwendung des § 27 JGG setzt ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts voraus, dass schädliche Neigungen festgestellt werden, jedoch zweifelhaft bleibt, ob aufgrund deren Umfangs die Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich ist; bei Fehlen schädlicher Neigungen oder auch nur bei Zweifeln an deren Existenz ist der Weg über § 27 JGG versperrt. Unzulässig ist eine Aussetzung der Verhängung mit der Begründung, es sei schon das Vorliegen „schädlicher Neigungen“ überhaupt ungewiss geblieben.

2. Vermag sich das Tatgericht von dem Vorliegen schädlicher Neigungen des Angeklagten nicht zu überzeugen, ist bei der gebotenen engen Auslegung des § 27 JGG nach dem Grundsatz in „dubio pro reo“ zu Gunsten des Angeklagten davon auszugehen, dass keine schädlichen Neigungen vorhanden sind.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 2. Dezember 2019, soweit es sie betrifft, im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat beide Angeklagte der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmittel in nicht geringer Menge für schuldig befunden. Die Verhängung von Jugendstrafe hat es zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.

Während die Schuldsprüche aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts keinen rechtlichen Bedenken begegnen, haben die Rechtsfolgenaussprüche keinen Bestand. Der Generalbundesanwalt hat hinsichtlich beider Angeklagten jeweils ausgeführt:

„Die Anordnung, die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung gemäß § 27 JGG auszusetzen, hält indes rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Strafkammer hat nicht beachtet, dass die Anwendung des § 27 JGG ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts voraussetzt, dass schädliche Neigungen festgestellt werden, jedoch zweifelhaft bleibt, ob aufgrund deren Umfangs die Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich ist; (BGHSt 35, 288; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 10.01.2019 - 1 OLG 2 Ss 78/18, BeckRS 2019, 421; OLG Oldenburg, Urteil vom 13. Dezember 2010 - 1 Ss 188/10-, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 3. Februar 2009 - 4 Ss 1/09-, juris); bei Fehlen schädlicher Neigungen oder auch nur bei Zweifeln an deren Existenz ist der Weg über § 27 JGG versperrt (Nehring in BeckOK JGG Gertler/Kunkel/Putzke § 27 Rn. 13; Diemer in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, § 27 Rn. 7). Unzulässig ist eine Aussetzung der Verhängung mit der Begründung, es sei schon das Vorliegen „schädlicher Neigungen“ überhaupt ungewiss geblieben (Eisenberg, JGG 20. Auflage § 27 Rn. 11; Diemer in Diemer/Schatz/ Sonnen, JGG, § 27 Rn. 7; aA OLG Düsseldorf MDR 1990, 466; Brunner/ Dölling JGG § 27 Rn. 6).

Aus der Gesamtschau der Urteilsgründe folgt, dass sich die Strafkammer von dem Vorliegen schädlicher Neigungen des Angeklagten nicht zu überzeugen vermochte. Die gewichtige Anlasstat hat sie zwar als einen für das Vorliegen schädlicher Neigungen sprechenden Umstand gewertet (UA S. 63). Aber im Hinblick auf die positive Entwicklung des Angeklagten seit der Tat vermochte sie schädliche Neigungen des Angeklagten zum Zeitpunkt der Entscheidung jedenfalls zweifelsfrei nicht mehr festzustellen. So hat das Landgericht auch ausgeführt, dass seitens der Kammer - im Einklang mit der Jugendstrafe - nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte, ob und inwiefern bei dem Angeklagten zum jetzigen Zeitpunkt (noch) schädliche Neigungen vorliegen. Dies genügt für die Rechtsfolgenentscheidung des § 27 JGG indes nicht. Bei dieser Sachlage war die Strafkammer vielmehr gehalten, bei der gebotenen engen Auslegung des § 27 JGG nach dem Grundsatz in „dubio pro reo“ zu Gunsten des Angeklagten davon auszugehen, dass keine schädlichen Neigungen vorhanden sind (siehe Diemer in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, § 27 Rn. 7). Weitere Feststellungen hierzu erscheinen möglich. Wird auch nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, ob schädliche Neigungen bei dem Angeklagten vorliegen, wird zu prüfen sein, ob Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Ahndung der Straftat in Betracht kommen.“ Dem schließt sich der Senat an.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 234

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 373; StV 2022, 39

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner