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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 202

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 209/20, Urteil v. 16.12.2020, HRRS 2021 Nr. 202


BGH 2 StR 209/20 - Urteil vom 16. Dezember 2020 (LG Mühlhausen)

Vorsatz (Gewalteinwirkung auf Säuglinge: Gefährlichkeit des Schüttelns von Säuglingen als allgemein bekannte Tatsache; kein Vorsatzausschluss bei typischem affektiven Erregungszustand aufgrund eines schreienden Säuglings; Abgrenzung der Vorsatzformen); Zeugen (Würdigung der Aussagen sachverständiger Zeugen über Wertungen, Meinungen oder Schlussfolgerungen); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit der Beweiswürdigung bei einem freisprechenden Urteil).

§ 15 StGB; § 223 StGB; § 226 Abs. 1 StGB; § 48 StPO; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Tatsache, dass ruckartige Bewegungen eines Säuglings ohne Abstützen des Kopfes zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung führen können, ist allgemein bekannt.

2. Der für Fälle der Verursachung eines Schütteltraumas bei Säuglingen oder Kleinkindern typische affektive Erregungszustand führt im Allgemeinen nicht dazu, dass die Gefährlichkeit der Handlung nicht ins Bewusstsein des Täters dringt.

3. Ob der Angeklagte nur einmal (etwa durch Hochreißen) oder aber mehrfach (im Sinne eines Schüttelns) gewaltsam auf einen Säugling eingewirkt hat, rechtfertigt vor allem die Abgrenzung zwischen direktem und bedingtem Verletzungsvorsatz, aber nicht die generelle Verneinung eines für das Grunddelikt maßgeblichen Körperverletzungsvorsatzes. Die Frage, ob ihm auch schwere Folgen im Sinne des § 226 Abs. 1 StGB in Form von Hirnverletzungen zuzurechnen sind, ist davon zu unterscheiden.

4. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht insoweit Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

5. Zeugen sind Auskunftspersonen, die über Tatsachen berichten, die sie wahrgenommen haben; sie haben im Allgemeinen nicht über Wertungen, Meinungen oder Schlussfolgerungen zu berichten. Wenn sie dies tun, erlangt ihre Aussage nicht die Beweisqualität eines Gutachtens, da es an einer entsprechenden Fundierung fehlt. Das gilt auch für die Angaben von sachverständigen Zeugen, die Wahrnehmungen mit Hilfe besonderer Sachkunde gemacht haben und darüber berichten sollen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 10. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Erfurt zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Freispruchs. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 20. Juni 2016 hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last gelegt, am 6. November 2015 in der Zeit zwischen 14.30 und 15.00 Uhr seinen zwei Monate alten Sohn aus Verärgerung und Ungeduld wegen seines Schreiens kräftig geschüttelt zu haben. Dadurch seien ein Schädel-Hirn-Trauma mit Blutungen unter die harte und weiche Hirnhaut, Diffusionsstörungen des Gehirns und Netzhautblutungen entstanden. Die Hirnschädigungen seien konkret lebensgefährlich gewesen und hätten irreversible Gesundheitsschäden zur Folge.

2. Das Landgericht hat sich aus tatsächlichen Gründen an einer Verurteilung des Angeklagten gehindert gesehen.

a) Die Strafkammer hat festgestellt, dass der Säugling am 6. November 2015 gegen 12.00 Uhr im Beisein der Eltern von der Kinderärztin mit dem Kombinationsimpfstoff Infanix hexa, dem Pneumokokken-Impfstoff Prevenar 13 und dem Rotavirus-Impfstoff Rotateq geimpft wurde. Danach war der Säugling zuerst ruhig und schläfrig, begann aber später zu weinen und zu quengeln. Um 14.30 Uhr verließ die Mutter, nachdem sie das Kind gefüttert hatte und eine Beruhigung eingetreten war, die Wohnung. Daraufhin war der Angeklagte mit seinem Sohn, der auf der Couch im Wohnzimmer lag, allein.

Der Säugling begann erneut zu weinen. Der Angeklagte gab ihm einen Milchrest aus der Trinkflasche und nahm den Säugling auf, um ihn aufstoßen zu lassen. Dann legte er ihn wieder auf die Couch, wo er aber erneut weinte. Ablenkungsversuche des Angeklagten schlugen fehl, der Säugling weinte weiterhin und begann schließlich zu schreien. Darauf wurde der Angeklagte hektisch. In Unkenntnis der möglichen Folgen packte er den Säugling im Bereich des Beckens und riss ihn nach oben, um ihn an seine Schulter zu drücken. Dadurch fiel dessen Kopf zuerst nach hinten und dann nach vorn gegen die Schulter des Angeklagten. Dies verursachte ein „Schütteltrauma“. Das Schreien des Säuglings verstummte zunächst nicht; kurze Zeit später erschlaffte sein Körper. Er reagierte dann nur noch auf mechanische Reize mit schrillem Schreien und es stellten sich Krämpfe ein.

Die Mutter des Kindes alarmierte nach ihrer Rückkehr einen Rettungswagen, der den Säugling in die Klinik brachte. Dort ergab die augenärztliche Untersuchung retinale Blutungen in allen Quadranten. Eine Kernspintomographie ließ Marklagerschädigungen im Gehirn erkennen sowie Läsionen im Bereich des Balkens, der die Hirnhälften verbindet, ferner ödematös veränderte Gewebsanteile. Durch die Hirnverletzung verbleiben dem Geschädigten voraussichtlich auf Dauer eine Neigung zu epileptischen Anfällen, eine Intelligenzminderung, visuelle Einschränkungen und Einschränkungen des Bewegungsapparats.

b) Das Landgericht ist dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. dahin gefolgt, dass das diagnostizierte Verletzungsbild nur mit einer Gewaltanwendung erklärbar sei. Der Annahme des privat beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. P., dass es sich um eine Folge der Impfung gehandelt haben könnte, hat es zurückgewiesen. Zu der Frage, durch welche Handlung des hiernach als Verursacher allein in Frage kommenden Angeklagten das „Schütteltrauma“ herbeigeführt wurde, hat das Landgericht die Einlassung des Angeklagten zugrunde gelegt, er habe den Säugling nicht geschüttelt, sondern nur einmalig, wenngleich heftig, hochgerissen. Ein Rückschluss von der Schwere der Verletzungen auf ein Schütteln des Säuglings sei „mangels wissenschaftlicher Belege nicht herleitbar“; es fehle an Forschungsergebnissen, insbesondere aus dem Bereich der Biomechanik, zur notwendigen Schwere und Dauer physischer Einwirkungen, um die diagnostizierten Einblutungen und Läsionen zu verursachen.

c) Zur subjektiven Tatseite hat das Landgericht ausgeführt, mit Blick auf die allein feststellbare Handlung des Angeklagten in Form eines ruckartigen Hochreißens des Säuglings könnten weder ein Vorsatz zur schweren Körperverletzung oder Misshandlung eines Schutzbefohlenen noch auch nur die Vorhersehbarkeit der Verursachung von Blutungen und hirnorganischen Beeinträchtigungen im Sinne einer fahrlässigen Körperverletzung festgestellt werden.

II.

Die Revision ist begründet, da die dem Freispruch zugrundeliegende Beweiswürdigung rechtlicher Überprüfung nicht standhält.

1. Die Beweiswürdigung ist zwar Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht insoweit Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr., z.B. BGH, Urteil vom 26. Mai 2009 - 1 StR 597/08, BGHSt 54, 15, 18; Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 36/19, NStZ-RR 2019, 254, 255; Senat, Urteil vom 6. Juni 2018 - 2 StR 20/18, NStZ-RR 2018, 289 f.; Urteil vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19).

2. Nach diesem Maßstab ist die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtlich zu beanstanden.

a) Das Landgericht hat die „Feststellungen zur Verursachung des Schütteltraumas“ allein auf die Einlassung des Angeklagten gestützt. Deren Würdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Nach den Urteilsgründen gestalteten sich die Aussagen der Angeklagten zum Geschehensablauf wie folgt:

(1) Der Angeklagte sei in der Intensivstation über die Verdachtsanzeige der Ärzte unterrichtet und alsbald danach polizeilich vernommen worden. Dabei habe er zum Kerngeschehen ausgeführt, nachdem seine Ehefrau die Wohnung verlassen und das Kind zu weinen begonnen habe, habe er zuerst versucht, es zu beruhigen, indem er seinem Sohn den Milchrest aus der Trinkflasche gegeben habe. „Dann habe er ihn aufgenommen zum `Bäuerchen´. Dabei sei der Kopf seines Sohnes leicht gegen seine Schulter `geschnickt´.“ Er habe den Sohn wieder auf die Couch gelegt und ihm Söckchen mit Rasseln angezogen, um ihn abzulenken; jedoch habe dieser nicht aufgehört zu schreien. „Er habe ungeduldig seinen Sohn unter den Achseln gegriffen und ruckartig hochgezogen, um ihn zu beruhigen. Dabei habe er dessen Kopf nicht gestützt. Der Kopf des Säuglings sei erst nach hinten und dann nach vorn `geschnickt´.“ Von der Ruckartigkeit des Hochhebens sei er selbst überrascht gewesen. Dann sei sein Sohn schlaff geworden.

(2) Auch gegenüber einer Mitarbeiterin des Jugendamtes habe sich der Angeklagte „gleichartig geäußert“.

(3) In der Hauptverhandlung habe er angegeben, er habe seinem weinenden Sohn zuerst das Fläschchen gegeben und ihn dann aufgenommen „für ein `Bäuerchen`.“ Er habe seinen Sohn an seine Schulter gelegt und gestreichelt; dieser habe dabei schlapp gewirkt, weshalb er ihn wieder auf die Couch gelegt habe, worauf er aber wieder geweint habe. Ein Ablenkungsversuch durch Anziehen von Söckchen mit Rasseln sei nicht gelungen. Das Weinen sei plötzlich schrill geworden. Er habe seinen Sohn hochnehmen und beruhigen wollen. Dabei habe er diesen „im Hüftbereich angefasst und ruckartig aufgenommen und gegen seine Brust gedrückt. Hierbei sei der Oberkörper erst nach hinten und dann nach vorn gebeugt gewesen,“ dann sei der Kopf des Säuglings „gegen seine Schulter `geschnickt´, also geschlagen.“

bb) Das Landgericht hat dies wie folgt bewertet:

Für die Richtigkeit der Einlassung spreche, dass der Angeklagte bereits am 8. November 2015, zwei Tage nach dem Vorfall, „ein ruckartiges Hochheben des Säuglings eingeräumt“ habe. Bei allen Aussagen zur Sache habe er „ein ruckartiges Hochnehmen des Säuglings durchgehend eingeräumt“, was „für die Glaubhaftigkeit seiner Einlassung“ spreche. Das gelte um so mehr, als er trotz der Behauptungen seiner Ehefrau und seiner Mutter, dass es um einen Impfschaden gehe, seine ursprünglichen Angaben nicht revidiert habe. Für deren Richtigkeit spreche „insbesondere, dass er die Erstangaben zu einem Zeitpunkt gemacht habe, in dem er wegen des sich verschlechternden Gesundheitszustandes seines Sohnes in einer emotional angespannten Verfassung war.“ Zudem sei er nur kurze Zeit vor der polizeilichen Vernehmung durch den behandelnden Arzt von dessen Verdachtsanzeige unterrichtet worden. „Vor diesem Hintergrund wäre es kaum nachvollziehbar, dass der Angeklagte, der zuvor noch keine Erfahrungen mit polizeilichen Befragungen hatte, nur ein Teilgeständnis ablegte und seine Tathandlung schmälern wollte. Hiergegen spricht insbesondere, dass er von einer erfahrenen Beamtin vernommen wurde und dass diese den Schwerpunkt der Vernehmung auf die Befragung zu Misshandlungshandlungen gelegt hat.“ Soweit der Angeklagte in der Hauptverhandlung angegeben habe, dass er den Säugling beim ruckartigen Hochheben nicht unter den Achseln, sondern im Beckenbereich gefasst habe, spreche auch das nicht gegen die Richtigkeit seiner Behauptung, den Säugling nur einmal ruckartig hochgerissen zu haben. Damit habe er sich nämlich nur noch schwerer selbst belastet. Für die Richtigkeit dieser Einlassung sprächen zudem die Angaben der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen, dass „nach ihrer Kenntnis und Einschätzung ein einmaliges Schütteln für die Verursachung eines Schütteltraumas ausreiche.“

cc) Diese Würdigung der Einlassung ist rechtsfehlerhaft. Die Angaben eines Angeklagten sind, nicht anders als andere Beweismittel, insbesondere auf ihre Plausibilität und auch anhand des übrigen Beweisergebnisses auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 5 StR 451/19). Insoweit weist das angefochtene Urteil Lücken auf.

(1) Das Landgericht hat sich mit der Annahme von Aussagekonstanz auf die Äußerungen des Angeklagten zum Bestreiten eines Schüttelns des Säuglings mit der wiederholten Behauptung, diesen nur einmal ruckartig hochgehoben zu haben, beschränkt. Dabei hat es die Inkonstanz bei anderen Aussageelementen vernachlässigt.

Abweichend von der Aussage in der polizeilichen Vernehmung hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht mehr davon gesprochen, er habe den Säugling schon beim ersten Hochnehmen „für ein `Bäuerchen`“ an seine Schulter „geschnickt“. Vielmehr wollte er das Kind dann zunächst nur „an seine Schulter gelegt und gestreichelt“ haben. An die Schulter „geschnickt“ haben wollte er das Kind aufgrund des nachfolgenden ruckartigen Hochhebens, nachdem er es an seine Brust gedrückt habe. Mit der biomechanischen Plausibilität dieser Darstellung hat sich die Strafkammer nicht auseinandergesetzt, sie aber den Feststellungen zugrunde gelegt.

Die Abweichung in der Einlassung zum Ergreifen des Säuglings hat die Strafkammer erörtert. Dazu hat sie ausgeführt, der Angeklagte habe sich mit der zweiten Version eines Ergreifens an der Hüfte statt unter den Achseln nur noch weiter gehend belastet. Damit hat sie die Aussageänderung nach mehr als vier Jahren aber nicht erschöpfend, auch unter Berücksichtigung des übrigen Beweisbildes und mit einer Plausibilitätsbetrachtung, gewürdigt. Ein Ergreifen an der Hüfte zum Hochheben aus der liegenden Position des Säuglings wirkt jedenfalls auf erste Sicht ungeeignet, um ihn zu beruhigen. Ob dabei trotz einer dann fehlenden Unterstützung des gesamten Oberkörpers dieselben Kopfbewegungen wie bei einem ruckartigen Hochheben nach einem Ergreifen unter den Achseln zu erwarten wären, hat das Landgericht nicht hinterfragt.

Zudem hat der Angeklagte mit dieser Behauptung zwar eine gravierendere eigene Gewalteinwirkung eingeräumt, aber andererseits weiter bestritten, dass er den Sohn geschüttelt habe, was der gerichtliche Sachverständige als einzig realistische Erklärung für die Verletzungssymptome angesehen hat. Die Verstärkung der Behauptung eines massiven Hochreißens durch abweichende Darstellung der Griffhaltung in der schriftlich vorbereiteten Einlassung war insoweit nicht ohne weiteres als Mehrbelastung anzusehen, sondern konnte auch einen Erklärungsversuch zum weiteren Bestreiten des Vorwurfs eines heftigen Schüttelns dargestellt haben.

(2) Das Landgericht hat auch die Entstehung der Behauptung des Angeklagten, er habe den Säugling nur einmal ruckartig hochgenommen, nicht ausreichend überprüft. War der Angeklagte vor der polizeilichen Vernehmung bereits in der Klinik mit der ärztlichen Verdachtsanzeige konfrontiert worden, ein „Schütteltrauma“ verursacht zu haben, das eine irreversible Gesundheitsschädigung seines Sohnes zur Folge hatte, so lag es als verständliche sofortige Reaktion nahe, ein Schütteln zu bestreiten, um die eigene Verantwortung für die schweren Folgen abzuschwächen. Deshalb wäre es für die Bewertung der Einlassung auch von Bedeutung gewesen, möglichst genau festzustellen, wie der Angeklagte bereits in der Klinik mit dem Verdacht konfrontiert wurde. Die Annahme des Landgerichts, es sei fernliegend anzunehmen, dass er in der angespannten Situation der polizeilichen Vernehmung „nur ein Teilgeständnis ablegte“, trägt dem nicht ausreichend Rechnung. Erst recht kommt es nicht darauf an, dass der Angeklagte von einer erfahrenen Polizeibeamtin vernommen wurde. Hatte er sich darauf festgelegt, ein Schütteln zu bestreiten, kommt schließlich auch dem späteren Festhalten an diesem Bestreiten nicht die vom Landgericht hervorgehobene Beweisbedeutung zu. Welche Informationen ihm in der Zeit zwischen der polizeilichen Vernehmung am 8. November 2015 und der Vernehmung in der Hauptverhandlung vom 10. Januar 2020 zugeflossen sind und gegebenenfalls auf den Inhalt der schriftlich vorbereiteten dortigen Einlassung Einfluss nehmen konnten, hat das Landgericht nicht geprüft.

(3) Die Annahme der Strafkammer, die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten zum einmaligen Hochreißen des Säuglings anstelle eines Schüttelns im Sinne der Anklage werde durch die Aussage der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen bestätigt, trägt nicht.

Zeugen sind Auskunftspersonen, die über Tatsachen berichten, die sie wahrgenommen haben; sie haben im Allgemeinen nicht über Wertungen, Meinungen oder Schlussfolgerungen zu berichten (vgl. Bertheau/Ignor in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., Vorbem. zu § 48 Rn. 9 mwN). Wenn sie dies tun, erlangt ihre Aussage nicht die Beweisqualität eines Gutachtens, da es an einer entsprechenden Fundierung fehlt. Das gilt auch für die Angaben von sachverständigen Zeugen, die Wahrnehmungen mit Hilfe besonderer Sachkunde gemacht haben und darüber berichten sollen. Die „Einschätzung“ der als sachverständige Zeugen vernommenen Ärzte, dass „ein einmaliges Schütteln für die Verursachung eines Schütteltraumas ausreiche“, ist deshalb kein tauglicher Beleg für die vom gerichtlichen Sachverständigen bestrittene Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten zum einmaligen Hochreißen als einziger Gewalteinwirkung auf den Säugling.

Der rechtsmedizinische Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. hat sich zu den Zeugenbehauptungen dahin geäußert, dass diese nur auf einen Videofilm zurückzuführen seien, der aber auf Veranlassung der D. G. K. i. M. gelöscht worden sei. Das Landgericht hätte sich, wenn es in der „Einschätzung“ der sachverständigen Zeugen eine Bestätigung der Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten entnehmen wollte, auch mit dieser gegenläufigen Aussage des Sachverständigen auseinandersetzen müssen. Sie hat das aber mit der Bemerkung umgangen, dass es mangels biomechanischer Testverfahren zu der für die Verursachung eines Schütteltraumas notwendigen Einwirkung auf Säuglinge keinen wissenschaftlichen Beleg für das Gegenteil gebe. Damit ist aber auch die Richtigkeit der Einschätzung der behandelnden Ärzte nicht belegt und diese nicht ohne weiteres geeignet, die Einlassung des Angeklagten zu stützen.

(4) Auch die Behandlung der Gegengründe ist rechtlich zu beanstanden.

Vielfach wird in der Literatur aufgrund von Schilderungen geständiger Täter, ferner anhand von Untersuchungen am Tiermodell und Berechnungen aufgrund theoretischer Modelle davon ausgegangen, dass zur Verursachung eines Schütteltraumas mit Symptomen der vorliegenden Art ein heftiges Schütteln erforderlich ist (vgl. B. Herrmann, Rechtsmedizin 2007-18, S. 9, 10; Maxeiner, Archiv für Kriminologie 221 [5/6-2008], S. 65, 81; Wegener/Zack in Lammel/Sutarski/Lau/Bauer, Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung. Medizinische und juristische Aspekte, 2013, S. 65). Davon ist im vorliegenden Fall auch der gerichtliche Sachverständige mit Blick auf die Symptomtrias bei dem Geschädigten ausgegangen. Dem ist das Landgericht mit Hinweis darauf nicht gefolgt, dass es insbesondere zu den biomechanischen Abläufen keine unmittelbar auf die Fallgruppe des Schütteltraumas bezogenen Testverfahren gebe. Das aber ist kein endgültiges Hindernis für die Feststellung einer Verursachung der Beeinträchtigungen des Geschädigten durch heftiges Schütteln. Wenn sich nach dem Stand der Wissenschaft die Ursächlichkeit bestimmter Handlungen für einen festgestellten Schaden nicht direkt klären lässt, sind nur alle anderen konkret in Betracht kommenden Schadensursachen rechtsfehlerfrei auszuschließen (vgl. Senat, Urteil vom 6. Juli 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 112). Daran fehlt es, weil der Geschehensablauf allein anhand der Einlassung des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei geklärt ist und das sachverständig beratene Landgericht sich nicht inhaltlich mit dem Stand der Wissenschaft zur Verursachung eines „Schütteltraumas“ auseinandergesetzt hat.

b) Schließlich begegnet die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite rechtlichen Bedenken.

aa) Das Landgericht hat zum Ausschluss eines Körperverletzungsvorsatzes angenommen, dem Angeklagten sei weder bekannt gewesen noch habe er durch entsprechende Unterrichtung Kenntnis davon gehabt, dass ein ruckartiges Hochreißen eines zwei Monate alten Säuglings Hirnverletzungen verursachen kann. Dabei hat es die Beweisanforderungen überspannt.

Die Tatsache, dass ruckartige Bewegungen eines Säuglings ohne Abstützen des Kopfes zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung führen können, ist allgemein bekannt (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2003 - 3 StR 59/03, NStZ 2004, 201, 202 mit Anm. H. Schneider). Zudem war der Angeklagte nach den Feststellungen immerhin darauf hingewiesen worden, dass der Kopf des Säuglings zu stützen ist. Einer genauen Vorinformation über das Ausmaß der drohenden Verletzungsfolgen bedurfte es jedenfalls für die Feststellung des Vorsatzes zum Grunddelikt der Körperverletzung dann aber nicht ohne weiteres.

Auch der für Fälle der Verursachung eines Schütteltraumas bei Säuglingen oder Kleinkindern typische affektive Erregungszustand führt im Allgemeinen nicht dazu, dass die Gefährlichkeit der Handlung nicht ins Bewusstsein des Täters dringt (H. Schneider NStZ 2004, 202, 203). Besonderheiten, die im vorliegenden Fall etwas anderes ergeben könnten, hat das Landgericht in diesem Zusammenhang nicht angeführt. Seine Ausführungen lassen vielmehr besorgen, dass die Strafkammer die konkrete Feststellung, dass der Angeklagte seinen Sohn „im Bereich des Beckens“ gepackt und so aus der liegenden Position hochgerissen hat, nicht im Blick hatte. Dabei kann es sich schon für sich genommen um eine körperliche Misshandlung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB gehandelt haben.

Ob der Angeklagte, wie festgestellt, nur einmal (durch Hochreißen), oder aber, wie angeklagt, mehrfach (im Sinne eines Schüttelns) gewaltsam auf den Säugling eingewirkt hat, rechtfertigt vor allem die Abgrenzung zwischen direktem und bedingtem Verletzungsvorsatz, aber nicht die generelle Verneinung eines für das Grunddelikt maßgeblichen Körperverletzungsvorsatzes (vgl. H. Schneider NStZ 2004, 202, 204). Die Frage, ob ihm auch schwere Folgen im Sinne des § 226 Abs. 1 StGB in Form von Hirnverletzungen zuzurechnen sind, ist davon zu unterscheiden.

bb) Ist deshalb schon die Verneinung eines Körperverletzungsvorsatzes rechtlich bedenklich, so gilt dasselbe erst recht für die hilfsweise erörterte Verneinung von Fahrlässigkeit.

Das Landgericht hat einerseits festgestellt, dass der Angeklagte darauf hingewiesen wurde, der Kopf des Säuglings sei zu stützen; andererseits hat es behauptet, es sei „nicht festzustellen, dass der Angeklagte Kenntnisse im Umgang mit Säuglingen im Hinblick auf deren körperliche Unversehrtheit erworben“ habe. Aus dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Stützens des Kopfes sei nicht zu folgern, dass ihm bekannt gewesen sein könne, dass ein ruckartiges Hochheben eine Schleuderbewegung des Kopfes des Säuglings bewirken und erhebliche Verletzungen verursachen könne; das gelte besonders in der Ausnahmesituation angesichts des anhaltenden Schreiens. Auch diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht von einem falschen Maßstab ausgegangen ist, indem es eine fahrlässige Körperverletzung bereits dem Grunde nach an der Vorhersehbarkeit des großen Verletzungsumfangs gemessen hat.

3. Der neue Tatrichter wird sich gegebenenfalls mehr als bisher auch mit der Möglichkeit einer Verursachung oder Mitverursachung der diagnostizierten Symptome durch die Impfung, einschließlich des Standes der Wissenschaft zu hypotonhyporesponsiven Episoden (UA S. 12), auseinander zu setzen haben.

III.

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 202

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 424

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner