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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 662

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 352/19, Beschluss v. 04.03.2020, HRRS 2020 Nr. 662


BGH 2 StR 352/19 - Beschluss vom 4. März 2020 (LG Erfurt)

Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (Belehrung über eingeschränkte Bindungswirkung); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Anforderungen an ein Obhutsverhältnis: Mitgliedschaft in einem Turnverein, Auseinanderfallen von sexuellen Handlungen und Trainingslager); Grundsätze der Strafzumessung (Berücksichtigung von Tatfolgen bei einer Serie von Sexualdelikten; Schuldmaßprinzip: Zumessung der Einzelstrafen).

§ 257c Abs. 5 StPO; § 46 StGB; (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist.

2. Ein Obhutsverhältnis i.S.d. § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfordert eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten, wobei sich die Begriffe der Erziehung, der Ausbildung und der Betreuung in der Lebensführung in ihrem Bedeutungsgehalt überschneiden .

3. Allein die Mitgliedschaft in einem Turnverein begründet für sich genommen regelmäßig kein Obhutsverhältnis zwischen dem jugendlichen Mitglied und den in der Vereinsarbeit tätigen Vorständen oder Trainern.

4. Ein Obhutsverhältnis kann nicht darauf gestützt werden, dass eine Jugendliche an vom Angeklagten (mit-)betreuten Trainingslagern teilnahm, wenn die sexuellen Handlungen gerade nicht während eines solchen Trainingslagers stattfanden. Ein während des Trainingslagers bestehendes Obhutsverhältnis wirkt nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres, für die Zeit nach dessen Beendigung fort.

5. Eine zum Nachteil des Angeklagten auf bloße Vermutungen hinsichtlich möglicherweise auftretender Folgen der Tat gestützte Strafzumessung ist unzulässig.

6. Tatfolgen einer Serie von Sexualdelikten können nur dann bei der Einzelstrafbemessung mit ihrem vollen Gewicht berücksichtigt werden, wenn sie unmittelbare Folge allein einzelner Taten sind; sind sie Folge aller abgeurteilten Straftaten, können sie strafzumessungsrechtlich nur einmal bei der Gesamtstrafenbildung berücksichtigt werden.

7. Das Schuldmaßprinzip (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) erfordert regelmäßig eine differenzierende Zumessung der Einzelstrafen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 17. September 2018 mit den jeweils zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte in den Fällen 9 bis 57, 62, 67 bis 76, 80 und 81 der Urteilsgründe verurteilt worden ist sowie

b) im gesamten Strafausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 82 Fällen, davon in neun Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Verbreitung pornographischer Schriften und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt und angeordnet, dass ein Monat hiervon als bereits vollstreckt gilt. Die hiergegen gerichtete und mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, genügen Anklage und Eröffnungsbeschluss (noch) ihrer Umgrenzungsfunktion.

2. Von den Verfahrensbeanstandungen hat - entsprechend den Ausführungen des Generalbundesanwalts - lediglich die Rüge Erfolg, das Landgericht habe den Angeklagten nicht rechtzeitig im Sinne von § 257c Abs. 5 StPO belehrt. Sie führt zur Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten in den Fällen 62, 80 und 81 der Urteilsgründe.

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Zu Beginn der Verhandlung stellte der Vorsitzende zutreffend fest, dass Gespräche im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO nicht stattgefunden hatten. Nach ordnungsgemäßer Belehrung des Angeklagten gab der Verteidiger für diesen eine Erklärung ab, die sich der Angeklagte zu eigen machte. Darin wurden Ausführungen zu den Taten allgemein gemacht und die Tatvorwürfe zu den einzelnen Taten überwiegend eingeräumt, zum Teil aber auch bestritten. Das Landgericht hat sodann zahlreiche Zeuginnen vernommen.

Auf Anregung des Verteidigers fand während des sechsten Verhandlungstages außerhalb der Hauptverhandlung mit allen Beteiligten ein Verständigungsgespräch statt, über das der Vorsitzende ein Protokoll anfertigte, welches sodann in der Hauptverhandlung verlesen und von den Beteiligten als zutreffend bezeichnet wurde. Der Vorsitzende teilte nach einer weiteren Unterbrechung mit, dass zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und dem Gericht eine Verständigung gemäß § 257c StPO mit näher dargestelltem Inhalt erzielt worden sei. Der Angeklagte, der Verteidiger und der Staatsanwalt stimmten dieser Verständigung zu. Sodann wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden gemäß § 257c Abs. 4 und Abs. 5 StPO qualifiziert belehrt. Am siebten Verhandlungstag stimmte der Angeklagte einer erhobenen Nachtragsanklage zu und am achten Verhandlungstag gab er eine weitere, das bisherige Geständnis ergänzende Erklärung ab.

b) Danach rügt die Revision die Verletzung des § 257c Abs. 5 StPO zu Recht. Denn der Angeklagte hätte bereits bei Unterbreitung des Verständigungsvorschlages über die in § 257c Abs. 4 StPO geregelte Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung belehrt werden müssen. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168, 237; BVerfG, NStZ 2014, 721; BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2018 - 1 StR 425/18, Rn. 3; MüKo-StPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 183).

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil teilweise, nämlich hinsichtlich der Fälle 60, 80 und 81 der Urteilsgründe, auf dem Rechtsfehler beruht. Es kann weder festgestellt werden, dass der Angeklagte das der Verständigung nachfolgende Geständnis oder die Zustimmung zur Nachtragsanklage (betreffend Fall 81 der Urteilsgründe), worauf die zu diesen Fällen getroffenen Feststellungen gestützt sind, auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte, oder dass er auch ohne Belehrung gewusst hat, wann die Bindung des Gerichts an eine Verständigung entfällt. Die Überzeugung der Strafkammer zu allen anderen Fällen fußt ausweislich der Urteilsgründe auf dem bereits zu Beginn der Verhandlung abgegebenen Teilgeständnis sowie auf den Aussagen der vernommenen Zeugen.

3. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Nachprüfung des Urteils führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den jeweils zugrundeliegenden Feststellungen soweit der Angeklagte in den Fällen 67 bis 76 (nachfolgend a) und in den Fällen 9 bis 57 (nachfolgend b) der Urteilsgründe verurteilt ist. Dies führt zum Entfallen der Einzelstrafen in diesen Fällen. Die Strafzumessung erweist sich darüber hinausgehend als rechtsfehlerhaft, was die Aufhebung des gesamten Strafausspruch (alle Einzelstrafen und der Gesamtstrafausspruch) mit den zugrundeliegenden Feststellungen bedingt (nachfolgend c).

a) Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in den Fällen 67 bis 76 der Urteilsgründe zum Nachteil der S. hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Annahme eines Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB (hier in der ab 27. Januar 2015 geltenden Fassung) wird von den bisherigen Feststellungen nicht getragen.

aa) Nach den Urteilsfeststellungen begab sich die am 19. November 1999 geborene S. im Zeitraum zwischen dem 24. August 2015 und dem 19. November 2015 in mindestens zehn Fällen (Fälle 67 bis 76 der Urteilsgründe) freitags vor dem Turntraining in die Wohnung des Angeklagten. Dort ließ sich der Angeklagte jeweils von der Jugendlichen am entblößten Glied manipulieren und manipulierte selber an deren unbedecktem Geschlechtsteil.

Das Landgericht hat angenommen, dass S., die nicht reguläres Teammitglied beim Angeklagten war, sondern von dessen damaliger Partnerin trainiert wurde, dem Angeklagten anvertraut gewesen sei. Es hat festgestellt, dass der Angeklagte Turntrainer beim W. war und dort seit dem Jahr 2006 auch Leiter der Abteilung Turnen. Im gleichen Jahr übernahm er einmal pro Woche eine Mädchengruppe, ab dem Jahr 2007 trainierte er dann eine Wettkampfgruppe mit Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren, die zweimal wöchentlich trainierten. Die Gruppe, die sich im Herbst 2011 auflöste, konnte bei Wettkämpfen einige Erfolge erzielen; der Angeklagte entschied, welches der Mädchen an einem Wettkampf teilnahm. Daneben war er auch als Wettkampfrichter tätig. Ferner trainierte der Angeklagte auch andere weibliche Kinder und Jugendliche, wenn deren Trainer verhindert waren. Da die Turnabteilung eine „überschaubare Anzahl von Mitgliedern“ hatte und die genutzten Sporthallen auch nicht übermäßig groß waren, kam es vor, dass Turnerinnen auch nur zeitweise trainierten und sich einfach einer Trainingsgruppe anschlossen, die gerade in der Turnhalle trainierte. Neben dem Training fanden auch Turnhallenübernachtungen oder mehrtägige Trainingslager mit den Turnerinnen statt, die der Angeklagte betreute. Der Angeklagte unternahm auch vielseitige Freizeitaktivitäten (Kino- oder Schwimmbadbesuche, Partys u.a.) mit der von ihm trainierten Wettkampftruppe.

bb) Diese Feststellungen belegen noch kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB.

(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert ein solches Obhutsverhältnis, wovon die Strafkammer im Ausgangspunkt zutreffend ausgegangen ist, eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten, wobei sich die Begriffe der Erziehung, der Ausbildung und der Betreuung in der Lebensführung in ihrem Bedeutungsgehalt überschneiden (vgl. nur BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 - 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196, 199 ff.; Beschluss vom 26. Juni 2003 - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661). Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus; ob ein solches Verhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist regelmäßig nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles zu beurteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, Rn. 12; SSW-StGB/Wolters, 4. Aufl., § 174 Rn. 5 ff.; MüKo-StGB/ Renzikowski, 3. Aufl., § 174 Rn. 25 f.).

(2) Allein die Mitgliedschaft in einem Turnverein begründet für sich genommen regelmäßig kein Obhutsverhältnis zwischen dem jugendlichen Mitglied und den in der Vereinsarbeit tätigen Vorständen oder Trainern. Deren Aufgabe beschränkt sich grundsätzlich auf administrative Tätigkeiten bzw. die Vermittlung der turnerischen Fähigkeiten und der für den Wettkampfbetrieb erforderlichen Disziplin. Weiter gehende Betreuungsaufgaben im Sinne einer Erziehungsleistung werden von ihnen weder erwartet noch tatsächlich geleistet (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 - 5 StR 180/08, NStZ-RR 2008, 307; zur Zugehörigkeit zu einer Schule auch BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, Rn. 13 mwN). Konkrete Umstände, die insoweit eine abweichende Beurteilung erlauben, hat das Landgericht nicht festgestellt.

(3) Zwar kann ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB nach den Umständen des Einzelfalles auch bei einer Tätigkeit als Trainer bestehen. Dies bedarf indes näherer Darlegungen (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 1962 - 5 StR 74/62, BGHSt 17, 191, 192 ff. - Fußballtrainer einer Schülermannschaft; Beschluss vom 26. Juni 2003 - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661 - Tennistrainer). Hier bleibt nach den Urteilsfeststellungen schon unklar, ob der Angeklagte die Jugendliche, die einer nicht vom Angeklagten betreuten Turngruppe angehörte, überhaupt vertretungsweise (vgl. zum Vertretungslehrer BGH, Beschluss vom 25. April 2012 - 4 StR 74/12, NStZ 2012, 690) als Trainer betreut hat. Dass der Angeklagte andere Jugendliche vertretungsweise trainiert hat und dies, wie das Landgericht ausführt, auch für die Zeugin S. nicht ausschloss, besagt nichts über die maßgeblichen konkreten, tatsächlichen Umstände zu den Tatzeitpunkten.

(4) Unklar bleibt nach den Urteilsfeststellungen auch, ob die Jugendliche im Tatzeitraum vom Angeklagten bei Wettkämpfen betreut wurde. Dass der Angeklagte bei Wettkämpfen auch als Wettkampfrichter tätig war, lässt nicht erkennen, dass ihm damit auch das Recht und die Pflicht zukam, die geistig-sittliche Entwicklung der Jugendlichen zu überwachen und zu leiten.

(5) Ein Obhutsverhältnis kann entgegen der Annahme der Strafkammer hier auch nicht darauf gestützt werden, dass die Jugendliche an vom Angeklagten (mit-)betreuten Trainingslagern teilnahm. Die sexuellen Handlungen in den Fällen 67 bis 76 der Urteilsgründe fanden (anders als im Fall 66 der Urteilsgründe) gerade nicht während eines solchen Trainingslagers statt. Ein während des Trainingslagers bestehendes Obhutsverhältnis wirkt nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres, für die Zeit nach dessen Beendigung fort (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2003 - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661 und vom 25. April 2012 - 4 StR 74/12, NStZ 2012, 690).

b) Auch die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in den Fällen 9 bis 57 der Urteilsgründe zum Nachteil der O. kann keinen Bestand haben.

aa) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte - so, wie ihm mit der Anklage zur Last gelegt - im Zeitraum zwischen dem 30. August 2009 und dem 29. August 2011 „in mindestens 48 weiteren Fällen an verschieden Orten in W.“ mit der am 30. August 1995 geborenen O. geschlechtlich verkehrt.

bb) Diese - sehr knappen - Feststellungen sind nicht hinreichend beweiswürdigend unterlegt. Zwar hat sich das Landgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon überzeugt, dass die Jugendliche, die auch der bis 2011 bestehenden Turngruppe des Angeklagten angehörte, dem Angeklagten im Tatzeitraum anvertraut im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB (hier in der ab 1. April 2004 geltenden Fassung) war. Der Umstand, dass der Angeklagte mit der Jugendlichen Geschlechtsverkehr hatte, wird von dessen Geständnis getragen. Indes ist die Annahme des Landgerichts, dies sei „in mindestens 48 weiteren Fällen“ geschehen, nicht nachvollziehbar dargelegt.

Ausweislich der in den Urteilsgründen wiedergegebenen Einlassungen des Angeklagten hat dieser die Anzahl der Fälle nicht zu beziffern vermocht und sich dahingehend eingelassen, der erste Geschlechtsverkehr mit der Jugendlichen (abgeurteilt als Fall 8 der Urteilsgründe) habe erst im Sommer des Jahres 2010 stattgefunden. Hiermit übereinstimmend hat die als Zeugin vernommene Jugendliche bekundet, sie habe kurz vor ihrem 15. Geburtstag zum ersten Mal Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten gehabt. Durch diese Aussage, der die Strafkammer Glauben schenkt, wird lediglich ein gegenüber der Anklageschrift um ein Jahr späterer Beginn der Taten belegt. Inwiefern die Jugendliche gleichwohl „die Fälle 9 - 57 (…) vollumfänglich“ bestätigt hat, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Die Angaben der Zeugin hierzu werden nicht mitgeteilt. Die Urteilsgründe lassen auch in ihrem Gesamtzusammenhang nicht erkennen, aus welchen (sonstigen) Erwägungen heraus sich die Strafkammer trotz des um ein Jahr verkürzten Tatzeitraums von einer gegenüber der Anklage unveränderten Mindestfallzahl überzeugt hat.

c) Die Strafzumessungserwägungen der Strafkammer weisen ebenfalls durchgreifende Rechtsfehler auf.

aa) Im Rahmen der konkreten Strafzumessung, auf die die Strafkammer auch bei der Prüfung eines minder schweren Falls im Sinne des § 177 Abs. 5 StGB (in der ab 1. Januar 2000 geltenden Fassung) zu Fall 79 der Urteilsgründe Bezug nimmt, wird ausgeführt, strafschärfend fielen insbesondere „die bis heute nachwirkenden Tatfolgen aller Zeuginnen, mit Ausnahme der Zeugin S.“ ins Gewicht. Der Angeklagte habe durch die Taten in die sexuelle Entwicklung der Geschädigten eingegriffen und diese nicht unerheblich nachteilig gestört.

bb) Mit Recht macht die Revision geltend, dass diese Erwägungen von den Feststellungen nicht getragen werden. Dass die Zeugin R., wie es in den Urteilsgründen heißt, das Geschehen verdrängte, sich erst mit Beginn des Verfahrens Freunden anvertraute und das Geschehen als „normal“ darzustellen versuchte, lässt die von der Strafkammer zu Lasten des Angeklagten gewerteten Tatfolgen ebenso wenig erkennen, wie der Umstand, dass sich die Zeugin B. bis heute nicht ihren Eltern anvertraut hat. Eine zum Nachteil des Angeklagten auf bloße Vermutungen hinsichtlich möglicherweise auftretender Folgen der Tat gestützte Strafzumessung ist unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 - 4 StR 320/18, NStZ-RR 2018, 333 [Ls.]; SSW-StGB/Eschelbach, aaO, § 46 Rn. 64).

cc) Die Strafkammer hat überdies nicht in den Blick genommen, dass festgestellte Tatfolgen einer Serie von Sexualdelikten nur dann bei der Einzelstrafbemessung mit ihrem vollen Gewicht berücksichtigt werden können, wenn sie unmittelbare Folge allein einzelner Taten sind; sind sie Folge aller abgeurteilten Straftaten, können sie strafzumessungsrechtlich nur einmal bei der Gesamtstrafenbildung berücksichtigt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 5. November 2019 - 2 StR 469/19; Urteil vom 9. Juli 2014 ? 2 StR 574/13, NStZ 2014, 701; hierzu auch SSW-StGB/Eschelbach, aaO, § 54 Rn. 6; LK-StGB/Rissing-van Saan/Scholze, 13. Aufl., § 54 Rn. 11). Die bisherigen Feststellungen weisen nicht aus, dass sich bis heute nachwirkende Tatfolgen bei den Mädchen bereits nach den ersten Taten eingestellt haben.

dd) Die Strafkammer hat bei der Einzelstrafbemessung auch nicht erkennbar bedacht, dass das Schuldmaßprinzip (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) regelmäßig eine differenzierende Zumessung der Einzelstrafen erfordert (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2018 - 1 StR 228/17, NStZ-RR 2018, 203; Beschluss vom 6. November 2002 - 5 StR 361/02, NStZ-RR 2003, 72 f. jeweils mwN). Dem werden die hier nur pauschal für alle Taten gleichermaßen angenommenen Zumessungserwägungen der Strafkammer angesichts der unterschiedlichen Tatzeiträume (zwischen August 2008 und jedenfalls August 2015) sowie der Vielfältigkeit der Tatbegehungen und der Tatfolgen nicht gerecht.

ee) Der Wegfall der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafausspruchs nach sich. Dieser könnte ohnedies keinen Bestand haben, weil das Landgericht für die Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe lediglich floskelhaft auf eine zusammenfassende Würdigung verwiesen, eine dem Einzelfall angemessene Abwägung jedoch nicht vorgenommen hat. Dies wäre hier jedoch angesichts der im Verhältnis zur Einsatzstrafe von einem Jahr (Fall 79 der Urteilsgründe) auffallend hohen Gesamtstrafe von drei Jahren und acht Monaten geboten gewesen (vgl. Senat, Beschluss vom 21. September 2005 - 2 StR 266/05; LK-StGB/Rissing-van Saan/Scholze, aaO, § 54 Rn. 19, jeweils mwN).

4. Das Urteil ist dementsprechend mit den Feststellungen aufzuheben, soweit der Angeklagte in den Fällen 9 bis 57, 62, 67 bis 76, 80 und 81 der Urteilsgründe verurteilt worden ist, sowie im gesamten Strafausspruch. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung.

5. Soweit das Landgericht eine Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gewährt hat, lässt dies für sich genommen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten nicht erkennen. Die Kompensationsentscheidung wird von der Teilaufhebung nicht berührt; sie hat Bestand (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135). Der neue Tatrichter wird allerdings, sofern hierzu Anlass besteht, zu prüfen und zu entscheiden haben, ob nach der Entscheidung des Revisionsgerichts eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten und zu kompensieren ist; er hat bei seiner Bewertung das gesamte Verfahren und damit auch diejenigen Teile in den Blick zu nehmen, die vor der revisionsgerichtlichen Entscheidung liegen (BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 139 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 662

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 210; StV 2021, 12

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner