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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 657

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 483/20, Beschluss v. 19.05.2020, HRRS 2020 Nr. 657


BVerfG 2 BvR 483/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (LG München I)

Terminsladung zur strafrechtlichen Hauptverhandlung und Schutz vor dem neuartigen Corona-Virus (Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; ausnahmsweise Anfechtbarkeit gerichtlicher Zwischenentscheidungen bei erheblichen Gesundheitsgefahren; staatliche Schutzpflicht; Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege; Abwägung im Einzelfall; erheblicher Einschätzungsspielraum; kein absoluter Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 216 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gerichtliche Zwischenentscheidungen können nur dann selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit sofort und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.

2. Drohen dem Angeklagten durch die Hauptverhandlung erhebliche Gesundheitsgefahren, so sind die Pflichten des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und zum Schutz der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Grundrechte andererseits gegeneinander abzuwägen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern. Den staatlichen Stellen kommt insoweit allerdings ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

3. Wendet sich ein Angeklagter unter Berufung auf die Infektionsgefahr hinsichtlich des neuartigen Corona-Virus gegen eine Ladung zur Hauptverhandlung, so ist insoweit zwar eine unmittelbare verfassungsgerichtliche Überprüfung eröffnet. Die Verfassung gebietet jedoch keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr, zumal ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Aufhebung zweier für den 23. März 2020 und den 31. März 2020 angesetzter Hauptverhandlungstermine vor dem Landgericht München I. Er rügt, aufgrund der Ansteckungsgefahr mit dem neuartigen Corona-Virus sei sein Recht auf körperliche Unversehrtheit, aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen bei der Verhandlung sei der Grundsatz des fairen Verfahrens sowie der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung verletzt; dies gelte insbesondere wegen der in Bayern in diesem Zeitraum geltenden Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung. Sein mit der Verfassungsbeschwerde verbundener Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist bereits mit Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 2020 abgelehnt worden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Ihr kommt im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unzulässig ist.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können Zwischenentscheidungen, zu denen auch Terminsladungen zählen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2001 - 2 BvQ 46/01 -, Rn. 3), grundsätzlich nicht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Der Sinn des Ausschlusses der Verfassungsbeschwerde gegen Zwischenentscheidungen liegt darin, dass Verfassungsverstöße in der Regel noch mit der Anfechtung der Endentscheidung gerügt werden können (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>) und es deshalb dem Grundsatz der Subsidiarität verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes widerspräche, vor Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Die selbständige Anfechtung einer gerichtlichen Zwischenentscheidung im Wege der Verfassungsbeschwerde ist demnach nur dann zuzulassen, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit der Zwischenentscheidung sofort und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte (vgl. BVerfGE 1, 322 <324 f.>; 58, 1 <23>).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens und der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung rügt. Denn diese Beanstandungen kann er ohne Rechtsverlust sowohl in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung geltend machen, als auch im Wege der Revision rügen. Ein nicht mehr behebbarer Rechtsverlust droht dem Beschwerdeführer insoweit nicht, sodass seine Verfassungsbeschwerde hinsichtlich dieser Beschwerdepunkte unzulässig ist.

2. Soweit der Beschwerdeführer eine erhebliche Gesundheitsgefährdung aufgrund der Infektionsgefahr hinsichtlich des neuartigen Corona-Virus geltend macht, kann ihm hingegen grundsätzlich die Überprüfung der Zwischenentscheidung wegen der von ihm behaupteten, nicht mehr behebbaren drohenden Gesundheitsschäden nicht verwehrt werden (vgl. BVerfGE 51, 324 <342 f.>).

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit jedoch nicht in einer den Anforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise begründet.

Auch in Fällen, in denen dem Angeklagten durch die Hauptverhandlung erhebliche Gesundheitsgefahren drohen, entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, zu deren Schutz das Grundgesetz den Staat ebenfalls verpflichtet, ein Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang vor dem anderen. Weder darf der staatliche Strafverfolgungsanspruch ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Beschuldigten durchgesetzt werden, noch erfordert jede denkbare Gefährdung dieser Rechte ein Zurückweichen jenes Anspruchs. Für das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gilt nichts Anderes. Ein hier entstehender Konflikt ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das bei der Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ganz allgemein Beachtung erfordert, durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Beschuldigten im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Beurteilung dieser Frage können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern (vgl. BVerfGE 51, 324 <345 f.>).

Bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kommt staatlichen Stellen zudem ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 56, 54 <80 ff.>; 77, 170 <214 f.>; 79, 174 <202>; 125, 39 <78>; 142, 313 <337 f. Rn. 70>). Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 56, 54 <80 f.>; 77, 170 <215>; 92, 26 <46>; 125, 39 <78 f.>; 142, 313 <337 f. Rn. 70>).

Es genügt demnach nicht, dass der Beschwerdeführer sich darauf beruft, ausschließlich ein absolutes Kontaktverbot stelle einen hinreichenden Schutz dar. Denn die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr. Dies gilt umso mehr, als ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört, von dem auch der Angeklagte in einem Strafverfahren nicht vollständig ausgenommen werden kann.

3. Es kommt unter diesen Umständen nicht mehr darauf an, ob angesichts des Zeitablaufs das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers noch fortbesteht.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 657

Bearbeiter: Holger Mann