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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 274

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 24/19, Beschluss v. 07.11.2019, HRRS 2020 Nr. 274


BGH StB 24/19 - Beschluss vom 7. November 2019 (OLG München)

Beschwerde gegen die Nichtgewährung von Akteneinsicht (kein Wegfall der Beschwer nach rechtskräftiger Verurteilung).

§ 304 Abs. 4 StPO; § 147 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Allein der Umstand, dass nach der Einlegung einer Beschwerde gegen die Nichtgewährung von Akteneinsicht die Verurteilung des Beschwerdeführers rechtskräftig geworden ist, führt nicht zu einer prozessualen Überholung seines Rechtsschutzbegehrens. Denn auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens kann grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht nach § 147 StPO bestehen. Ob die Akteneinsicht im konkreten Fall zu versagen ist, etwa weil sie nicht mehr den Zweck hat, der Verteidigung des Beschwerdeführers zu dienen, ist eine Frage der Begründetheit des Rechtsmittels.

Entscheidungstenor

Auf die Beschwerde des Verurteilten wird die Verfügung des Vorsitzenden des 9. Strafsenats des Oberlandesgerichts München vom 8. Juli 2019 (9 St 7/17) aufgehoben.

Das Akteneinsichtsgesuch des Verurteilten vom 1. Juli 2019 wird der Generalstaatsanwaltschaft München zur Entscheidung vorgelegt.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

1. Das Oberlandesgericht München hat den Beschwerdeführer mit Urteil vom 2. August 2018 wegen Werbens um Unterstützer für eine ausländische terroristische Vereinigung in zwei Fällen, versuchter Anstiftung zum Verbrechen des Totschlags sowie Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Auf die hiergegen eingelegte Revision des Beschwerdeführers sind die Strafakten dem Bundesgerichtshof am 12. März 2019 vorgelegt worden. Der Senat hat mit Beschluss vom 7. August 2019 (3 StR 11/19) die Revision und mit weiterem Beschluss vom 17. September 2019 eine Anhörungsrüge des Verurteilten verworfen.

In dem Verfahren waren dem Verurteilten zwei Pflichtverteidiger beigeordnet, denen in erster Instanz Akteneinsicht gewährt worden war. Einem ersten Gesuch des Beschwerdeführers vom 1. März 2019, ihm persönlich „die komplette Akte“ auf einem „Laptop“ zur Verfügung zu stellen, hat der Vorsitzende des 9. Strafsenats des Oberlandesgerichts München mit Verfügung vom 7. März 2019 nicht entsprochen. Die diesbezügliche Beschwerde des Verurteilten hat der Senat mit Beschluss vom 6. Juni 2019 (StB 11/19) verworfen.

Mit Schreiben vom 1. Juli 2019 hat der Beschwerdeführer erneut Akteneinsicht „egal in welcher Form“ beim Oberlandesgericht beantragt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, er benötige die Akte für eine effektive Verteidigung, um unter anderem die Richtigkeit der Übersetzungen zu kontrollieren. Der Vorsitzende des 9. Strafsenats hat mit Verfügung vom 8. Juli 2019 (9 St 7/17) dem Gesuch unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 7. März 2019 und den Beschluss des Senats vom 6. Juni 2019 nicht entsprochen.

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit dem Rechtsmittel der Beschwerde. In seiner Beschwerdebegründung vom 11. Juli 2019 und der weiteren Stellungnahme vom 30. September 2019 legt er ausführlich die aus seiner Sicht bestehenden Gründe für ein eigenes Akteneinsichtsrecht dar. So müsse er mit Blick darauf, dass seine Verteidiger der arabischen Sprache nicht mächtig seien, persönlich falsche Übersetzungen überprüfen. Auch sei sein Verteidigungsrecht vor dem Hintergrund der Anordnungen nach § 148 Abs. 2 StPO beeinträchtigt. Überdies führten bereits Verfahrensfehler zum Erfolg seines Rechtsmittels. Denn mit Blick auf die Anhängigkeit des Revisionsverfahrens beim Bundesgerichtshof sei das Oberlandesgericht für die Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch nicht zuständig gewesen. Die Sache sei an das Ausgangsgericht zurückzuverweisen. Auch seien die Akten entgegen § 306 Abs. 2 StPO nicht innerhalb von drei Tagen dem Beschwerdegericht vorgelegt worden.

Der Vorsitzende des 9. Strafsenats des Oberlandesgerichts München hat der Beschwerde mit Verfügung vom 19. Juli 2019 nicht abgeholfen.

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde für erledigt zu erklären, da sie mit Blick auf die mittlerweile eingetretene Rechtskraft des Urteils prozessual überholt sei. Er hat die Akten am 13. September 2019 dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

2. Das zulässige Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Vorlage der Sache an die nunmehr für die Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch zuständige Generalstaatsanwaltschaft München.

a) Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 und 2 Nr. 4 StPO statthafte Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist der Beschwerdeführer weiterhin beschwert. Allein der Umstand, dass nach Beschwerdeeinlegung die Verurteilung des Beschwerdeführers rechtskräftig geworden ist, führt nicht zu einer prozessualen Überholung seines Rechtsschutzbegehrens. Denn auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens kann grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht nach § 147 StPO bestehen (vgl. Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 147 Rn. 11; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 147 Rn. 9; KK/Willnow, StPO, 8. Aufl., § 147 Rn. 22; SKStPO/Wohlers, 5. Aufl., § 147 Rn. 23). Ob die Akteneinsicht im konkreten Fall zu versagen ist, etwa weil sie nicht mehr den Zweck hat, der Verteidigung des Beschwerdeführers zu dienen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 147 Rn. 11; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 147 Rn. 9; KK/Willnow, StPO, 8. Aufl., § 147 Rn. 22; SKStPO/Wohlers, 5. Aufl., § 147 Rn. 23), ist eine Frage der Begründetheit des Rechtsmittels.

b) Der in der Unzuständigkeit des Oberlandesgerichts München liegende Verfahrensmangel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Vorlage der Sache an die nunmehr für die Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch zuständige Generalstaatsanwaltschaft München.

Der Vorsitzende des 9. Strafsenats des Oberlandesgerichts München war für die angefochtene Verfügung nicht zuständig. Denn zum Zeitpunkt der Entscheidung lagen die Akten im Hinblick auf die durch den Beschwerdeführer eingelegte Revision bereits dem Senat vor. Das Akteneinsichtsgesuch hätte damit durch den Vorsitzenden des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs verbeschieden werden müssen (vgl. KK/Willnow, StPO, 8. Aufl., § 147 Rn. 27; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 147 Rn. 42; LR/Lüdersen/Jahn, StPO, 26. Aufl., § 147 Rn. 150).

Mit Blick auf die während des Beschwerdeverfahrens eingetretene Rechtskraft der Verurteilung des Beschwerdeführers liegt die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bei der Generalstaatsanwaltschaft München (vgl. KK/Willnow, StPO, 8. Aufl., § 147 Rn. 24; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 147 Rn. 42). Eine Entscheidung in der Sache (§ 309 Abs. 2 StPO) durch den Senat kann damit nicht (mehr) ergehen. Stellt sich die angefochtene Entscheidung nicht als Erkenntnis des dafür vorgesehenen Spruchkörpers dar, kommt eine Entscheidung des Beschwerdegerichts in der Sache nur dann in Betracht, wenn dieses voll an die Stelle der an sich zur Entscheidung berufenen Stelle treten kann (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 - StB 8/92, BGHSt 38, 312, 313 f.; MükoStPO/Neuheuser, § 309 Rn. 29 ff.). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Denn eine Befassung des Bundesgerichtshofs im Instanzenzug gegen eine Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft über die Gewährung von Akteneinsicht ist gesetzlich nicht vorgesehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 274

Bearbeiter: Christian Becker