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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 15

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 122/19, Beschluss v. 30.07.2019, HRRS 2020 Nr. 15


BGH 2 StR 122/19 - Beschluss vom 30. Juli 2019 (LG Wiesbaden)

Vorsatz; Totschlag (bedingter Tötungsvorsatz: Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts, äußerst gefährliche Gewalthandlungen, Spontanhandlungen; unentbehrliche Gesamtwürdigung).

§ 15 StGB; § 212 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Willenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein. Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen.

2. Zwar liegt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit des Todes des Tatopfers rechnet und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an. Nach alledem ist es bei der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes - nicht anders als sonst bei der Würdigung der Beweise - erforderlich, aber auch ausreichend, sämtliche objektiven und subjektiven, für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände des Einzelfalles in eine individuelle Gesamtschau einzubeziehen und zu bewerten. In diese Gesamtschau sind insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen.

3. Auch bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen, die den Schluss auf einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz nahelegen, kann im Einzelfall das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes fehlen, obwohl der Täter alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, etwa auch bei einem unter der enthemmenden Wirkung von Alkohol spontan ausgeführten Messerstich. Zwar stellt das Wissen um die Gefährlichkeit des Messerangriffs zugleich ein zentrales Indiz für die Annahme des voluntativen Vorsatzelements dar, das den Schluss auf das Wollen der Tatfolgen nahelegt. Allerdings müssen auch insoweit gegenläufige vorsatzkritische Faktoren bedacht werden. Zu den insoweit erörterungsbedürftigen Umständen zählt eine Alkoholbeeinflussung des Täters.

4. Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist.

5. Zwar liegt es in der Natur der Sache, dass der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter in Verfolgung eines anders gelagerten Handlungsantriebs in der Regel über kein Tötungsmotiv verfügt; die Art der Beweggründe kann jedoch für die Prüfung von Bedeutung sein, ob der Täter nach der Stärke des ihn treibenden Handlungsimpulses bei der Tatausführung eine Tötung billigend in Kauf nahm.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 3. Mai 2018 mit den Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte wegen der Taten zum Nachteil des M. H. und des Da. verurteilt ist; ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Tatablauf, diese bleiben bestehen,

b) im Gesamtstrafenausspruch und

c) im Adhäsionsausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen Totschlags, versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung, versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie jeweils tateinheitlich dazu wegen Beteiligung an einer Schlägerei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen.

Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am Abend des 10. Juni 2017 traf sich der Angeklagte S. mit den Mitangeklagten D. und Sc. Sie besuchten ein Straßenfest und ein Lokal und konsumierten im Einzelnen näher festgestellte Mengen Alkohol. Der Angeklagte S. führte ein einseitig geschliffenes Klappmesser mit einer Klingenlänge von 8,5 cm und einer Klingenbreite von 2 cm mit sich.

Gegen 3.00 Uhr morgens begab sich der Mitangeklagte Sc. mit einem halbvollen Longdrink-Glas in der Hand auf den Heimweg und begegnete dabei dem Nebenkläger A. H. und dessen Begleitern, zu denen auch der später Getötete M. H. sowie die Nebenkläger Da. und G. gehörten.

Wenig später rief er die beiden anderen Angeklagten an und bat sie um Hilfe, weil er Ärger mit einer Gruppe habe und glaube, gleich geschlagen zu werden. Daraufhin rannten die Angeklagten S. und D. zu ihm. Sc. erklärte ihnen bei ihrem Eintreffen, dass A. H. der „Hauptübeltäter“ sei und er etwas mit ihm „klären“ wolle. Sie fassten den Plan, dass der Mitangeklagte Sc. den Nebenkläger A. H. von seiner Gruppe trennen sollte, während ihn die Angeklagten S. und D. durch aggressives, einschüchterndes Auftreten gegenüber den anderen jungen Männern unterstützen. Ihnen war bewusst, dass die Konfrontation mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine tätliche Auseinandersetzung münden könnte, was sie billigend in Kauf nahmen. Dass auch der Einsatz des vom Angeklagten S. mitgeführten Messers vom gemeinsamen Tatplan umfasst war, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.

Entsprechend ihrer Absprache gingen die drei Angeklagten auf die mittlerweile sieben Personen umfassenden Gruppe um die Nebenkläger zu, wobei der Mitangeklagte Sc. Provokationen rief, seinen Arm um die Schultern A. H. s legte und versuchte, ihn von seiner Gruppe weg zu schieben, was dieser aber abwehrte. Währenddessen schrien die Angeklagten S. und D. aggressiv herum. Der Angeklagte S. zog sein Messer und reagierte auf die Aufforderung des Zeugen P., dieses wegzustecken, nicht.

Die Situation eskalierte, als der Mitangeklagte Sc. den Nebenkläger A. H. mit dem Longdrink-Glas bedrohte und es auf ihn warf, um ihn zu verletzen. A. H. konnte ausweichen, danach schlugen er und der Mitangeklagte Sc. gegenseitig mit Fäusten aufeinander ein. Als der Nebenkläger Da. versuchte, seinen Freund A. H. aus dieser Situation wegzuziehen, rannte der Angeklagte S. zu ihnen, um dies zu unterbinden, und stach Da., als dieser sich zu ihm umdrehte, das Messer in den Unterbauch; hierbei nahm er den Eintritt des Todes „zumindest billigend in Kauf“.

Zeitgleich standen sich der Angeklagte D. und der Nebenkläger G. in Kampfhaltung gegenüber und bewegten sich aufeinander zu. Bevor sie sich erreichten, fiel G. in dem Moment zu Boden, als der Angeklagte S. hinter ihm vorbeilief. Dieser lief in Richtung des M. H., der sich zwischen Fahrradständern befand und dort dem ihm körperlich überlegenen Angeklagten S. nicht ausweichen konnte. Zwischen den beiden kam es zu wechselseitigen Faustschlägen. G., der sich aufgerappelt hatte, rannte nun zu ihnen und versuchte, den Angeklagten S. von M. H. wegzuziehen. Spätestens in dieser Situation versetzte der Angeklagte S. dem Nebenkläger G. einen Stich in den linken Unterbauch, wobei er dessen Tod „zumindest billigend in Kauf nahm“. Dieser bemerkte den Stich zunächst nicht; nicht auszuschließen vermochte das Landgericht, dass ihm der Angeklagte S. den Stich bereits beim vorangegangenen Vorbeilaufen versetzt hatte.

Als G. sah, dass sich der Mitangeklagte D. nun in Richtung der Auseinandersetzung zwischen dem Mitangeklagten Sc. und A. H. begab, rannte er unbeeinträchtigt von seiner Verletzung in deren Richtung, um A. H. zu helfen. Der Angeklagte S. bemerkte dies; obgleich es ihm möglich gewesen wäre, dem Nebenkläger G. hinterherzurennen und nochmals zuzustechen, entschloss er sich, weiter gegen M. H. vorzugehen. G. erlitt eine Stichverletzung am seitlichen Unterbauch, die 8 cm tief und 3 cm breit war; sie war potenziell, aber nicht akut lebensgefährlich.

Der vom ersten Stich getroffene Nebenkläger Da. saß inzwischen auf dem Boden, bemerkte seinen Blutverlust und schrie panisch, „ich sterbe“, was auch der Angeklagte S. hörte. „In diesem Moment hielt er es zumindest für möglich, dass der Nebenkläger Da. aufgrund des Stichs versterben werde.“ Dieser erlitt eine Stichverletzung von 4x2 cm am Unterbauch und wurde notoperiert; sein Zustand war trotz des potenziell lebensgefährlichen Messerstichs nicht akut lebensgefährlich.

Noch während G. in Richtung A. H. rannte und der Zeuge Sch. sich zum schreienden Nebenkläger Da. umdrehte, stach der Angeklagte S. M. H. das Messer in das Herz, wobei er dessen Tod „zumindest billigend in Kauf“ nahm. Dieser brach nach wenigen Schritten zusammen und verstarb infolge der Stichverletzung aufgrund von Blutverlust und Herzversagen.

2. Die Taten des Angeklagten S. hat das Landgericht als Totschlag zum Nachteil des M. H., als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers Da. und unter Annahme eines Rücktritts vom Tötungsversuch als gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers G. gewertet. Darüber hinaus hat ihm das Landgericht den vom Mitangeklagten Sc. verübten Glaswurf auf den Nebenkläger A. H. als vom gemeinsamen Tatplan umfasste versuchte gefährliche Körperverletzung zugerechnet und jeweils tateinheitlich eine Beteiligung an einer Schlägerei angenommen.

II.

Soweit der Angeklagte wegen der Taten zum Nachteil des M. H. und des Da. wegen vollendeten bzw. versuchten Totschlags verurteilt wurde, hält das angefochtene Urteil sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Feststellung eines bedingten Tötungsvorsatzes ist nicht hinreichend belegt.

1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Willenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 24. April 2019 - 2 StR 377/18, juris Rn. 7 ff.; BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38; vom 11. Oktober 2016 ? 1 StR 248/16, NStZ 2017, 25; vom 14. August 2014 ? 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267 jeweils mwN). Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen (vgl. BGH, Urteil vom 19. April 2016 - 5 StR 498/15, NStZ-RR 2016, 204 f.; Senat, Urteil vom 16. September 2015 ? 2 StR 483/14, NStZ 2016, 25, 26; vgl. insbesondere zur Würdigung des voluntativen Vorsatzelements BGH, Urteile vom 14. Januar 2016 - 4 StR 84/15, NStZ-RR 2016, 79, 80; vom 13. Januar 2015 - 5 StR 435/14, NStZ 2015, 216 f.; vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, juris Rn. 29, BGHSt 57, 183, 188; vom 27. Januar 2011 - 4 StR 502/10, NStZ 2011, 699, 701 f.; vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93 f. jeweils mwN).

Zwar liegt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit des Todes des Tatopfers rechnet und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. Juni 2009 - 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629, 630; BGH, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 5 StR 300/92, NStZ 1992, 587, 588). Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2016 ? 2 StR 484/14, NStZ 2017, 22, 23; BGH, Beschluss vom 25. November 2010 ? 3 StR 364/10, NStZ 2011, 338, 339). Nach alledem ist es bei der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes - nicht anders als sonst bei der Würdigung der Beweise - erforderlich, aber auch ausreichend, sämtliche objektiven und subjektiven, für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände des Einzelfalles in eine individuelle Gesamtschau einzubeziehen und zu bewerten (BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 39; vom 16. Mai 2013 - 3 StR 45/13, NStZ-RR 2013, 242, 243). In diese Gesamtschau sind insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen (BGH, Urteile vom 5. Juni 2014 - 4 StR 439/13, juris Rn. 7; vom 16. Mai 2013 - 3 StR 45/13, NStZ 2013, 581, 582 mwN).

2. Den sich hieraus ergebenden rechtlichen Anforderungen an eine sorgfältige Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Obgleich das Landgericht mehrere vorsatzkritische Umstände festgestellt hat, lassen die Urteilsgründe eine Auseinandersetzung mit diesen und die gebotene Gesamtschau aller für und gegen die Annahme von Tötungsvorsatz sprechenden Umstände vermissen.

a) In Bezug auf die Tat zum Nachteil des Geschädigten Da. stellt die Strafkammer im Ausgangspunkt mit Recht darauf ab, dass der Stich mit dem Messer eine objektiv gefährliche Gewalthandlung darstellt, die nach allgemeiner Auffassung potentiell geeignet ist, den Tod eines Menschen herbeizuführen. Allein dies belegt hier aber nicht die Feststellung, der Angeklagte habe bei diesem Messerstich in den Bauch den Eintritt des Todes des Nebenklägers Da. billigend in Kauf genommen, ihm seien dabei die Folgen seines Handelns für den Nebenkläger gleichgültig gewesen. Dass der Angeklagte sich nach dem Stich - wie das Landgericht an anderer Stelle ausführt - keine Gedanken über die Folgen seines Handelns gemacht hat, kann die notwendigen Ausführungen zu seiner Vorstellung im Tatzeitpunkt nicht ersetzen (vgl. Senat, Urteil vom 24. April 2019 - 2 StR 377/18, juris Rn. 7 ff.). Eine Würdigung des Willenselements des Vorsatzes war hier auch nicht deswegen entbehrlich, weil die Annahme des bedingten Tötungsvorsatzes auf der Hand gelegen hätte. Vielmehr geben einige vorsatzkritische Gesichtspunkte Anlass zu besonderer Erörterung.

aa) Die Urteilsgründe lassen bereits besorgen, dass die Strafkammer die von ihr festgestellte erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten bei der Beurteilung des Tatvorsatzes nicht ausreichend in den Blick genommen hat.

Zwar würdigt die sachverständig beratene Strafkammer den Alkoholkonsum des Angeklagten in Bezug auf dessen Schuldfähigkeit. Insoweit versagen auch die gegen die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit geführten Angriffe der Revision. Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hat die Strafkammer alle relevanten psychodiagnostischen Kriterien umfassend geprüft; soweit die Revision dieser eine eigene entgegenzusetzen versucht, kann sie damit nicht durchdringen. Das Landgericht hat mangels möglicher Rückrechnung die höchstmögliche Tatzeitblutalkoholkonzentration ausgehend von den Trinkmengenangaben des Angeklagten zwischen dem nach wissenschaftlich anerkannten Berechnungsmethoden ermittelten theoretisch höchsten und niedrigsten Wert zutreffend bestimmt (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 2 StR 478/97, juris Rn. 3). Die Berechnungen sind mit den dargelegten Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar; bei der Angabe der Alkoholmenge im Longdrink („0,02-0,08 cl“ statt 2-8 cl) handelt es sich um ein offenkundiges Schreibversehen.

Indes nimmt das Landgericht nicht in den Blick, dass auch bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen, die den Schluss auf einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz nahelegen, im Einzelfall das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes fehlen kann, obwohl der Täter alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, etwa auch bei einem unter der enthemmenden Wirkung von Alkohol spontan ausgeführten Messerstich (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2012 - 3 StR 237/12, NStZ-RR 2012, 369). Zwar stellt das Wissen um die Gefährlichkeit des Messerangriffs zugleich ein zentrales Indiz für die Annahme des voluntativen Vorsatzelements dar, das den Schluss auf das Wollen der Tatfolgen nahelegt. Allerdings müssen auch insoweit gegenläufige vorsatzkritische Faktoren bedacht werden. Zu den insoweit erörterungsbedürftigen Umständen zählt eine - wie hier festgestellte - Alkoholbeeinflussung des Täters (vgl. MünchKomm-StGB/Schneider, 3. Aufl., § 212 Rn. 15 mwN). Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass die Strafkammer die Alkoholisierung des Angeklagten bei der Annahme des Willenselementes des Vorsatzes berücksichtigt hat.

bb) Ferner hat das Landgericht dem Angeklagten - im Rahmen der Strafzumessung - zugutegehalten, dass es sich um ein „relativ spontanes Tatgeschehen“ gehandelt habe. Dieser Umstand, der einem bedingten Tötungsvorsatz entgegenstehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 2009 - 4 StR 424/09, NStZ 2010, 571, 572; Senat, Urteil vom 17. Juli 2013 - 2 StR 139/13), hätte aber nicht nur im Rahmen der Strafzumessung, sondern bereits bei der Prüfung des voluntativen Vorsatzelements erörtert werden müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2013 ? 2 StR 148/13, NStZ 2014, 35). Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2012 - 3 StR 237/12, NStZ-RR 2012, 369 mwN).

cc) In den Blick zu nehmen war hier auch der Umstand, dass es nach den Feststellungen an einem einsichtigen Grund dafür fehlt, dass der Angeklagte in der konkreten Tatsituation den Tod des Geschädigten billigend in Kauf genommen habe. Zwar liegt es in der Natur der Sache, dass der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter in Verfolgung eines anders gelagerten Handlungsantriebs in der Regel über kein Tötungsmotiv verfügt; die Art der Beweggründe kann jedoch für die Prüfung von Bedeutung sein, ob der Täter nach der Stärke des ihn treibenden Handlungsimpulses bei der Tatausführung eine Tötung billigend in Kauf nahm (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2015 - 2 StR 312/15, NJW 2016, 1970, 1971; BGH, Urteil vom 30. November 2005 - 5 StR 344/05, NStZ-RR 2006, 317, 318; Beschluss vom 24. August 1990 - 3 StR 311/90, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 22).

Als Handlungsmotivation des Angeklagten stellt die Strafkammer fest, der Angeklagte habe den Nebenkläger Da. (lediglich) davon abhalten wollen, sich in die Auseinandersetzung zwischen dem Mitangeklagten Sc. und den Nebenkläger A. H. einzumischen. Diese Feststellung ist mit der Annahme eines mit wenigstens bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerangriffs nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen und hätte daher näherer Erörterung bedurft. Gleiches gilt für die an anderer Stelle getroffene Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte sei „lustig und ‚gut drauf‘“ gewesen, habe sich nicht in einer angespannten, aggressiven Grundstimmung befunden, die Ausgangslage nicht als bedrohlich eingeschätzt und anfänglich auf eine Klärung der vermeintlichen Probleme zwischen dem Mitangeklagten Sc. und dem Nebenkläger A. H. hingewirkt. Dies zu erörtern musste sich der Strafkammer umso mehr aufdrängen, als sich die vom Angeklagten geführten Stiche als sukzessive Akte eines sich fortentwickelnden, mehraktigen Geschehen darstellen und die festgestellte Handlungsmotivation jedenfalls der Annahme eines von Anfang bestehenden bedingten Tötungsvorsatzes in Richtung auf jeden der sodann Geschädigten entgegenstehen könnte.

b) Auch hinsichtlich der Tat zum Nachteil des M. H. wird der von der Strafkammer angenommene bedingte Tötungsvorsatz von der Beweiswürdigung nicht getragen. Zwar stellt die Strafkammer wiederum mit Recht darauf ab, dass der ausgeführte Messerstich in den Oberkörper - die Herzregion - eine äußerst gefährliche Handlung darstellt, bei der auch ein medizinischer Laie davon ausgehen kann, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod des Verletzten zur Folge haben wird. Das Landgericht weist - für sich genommen rechtsfehlerfrei - auch darauf hin, dass der Angeklagte gezielt gehandelt habe und er weder aufgrund seiner Alkoholisierung noch aufgrund seiner psychischen Verfassung nicht in der Lage gewesen sei, die Gefährlichkeit seines Handelns zu erkennen. Dies mag zum Nachweis des kognitiven Vorsatzelements ausreichen. Indes konnte angesichts der festgestellten vorsatzkritischen Umstände allein hieraus im vorliegenden Fall nicht ohne Weiteres auf das Willenselement des Vorsatzes geschlossen werden. Es hätte - wie schon bei der Tat zum Nachteil des Geschädigten Da. - einer Gesamtwürdigung bedurft, die auch die gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden Umstände einbezieht. Diese lassen die Urteilsgründe vermissen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 15

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 288; NStZ-RR 2020, 41; StV 2021, 115

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner