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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1336

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 373/19, Urteil v. 01.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1336


BGH 1 StR 373/19 - Urteil vom 1. September 2020 (LG Traunstein)

Unterlassene Hilfeleistung (Vorliegen eines Unglücksfalls oder einer gemeinen Notlage: objektivierte ex-ante-Betrachtung, Erforderlichkeit des Hilfeleistens, auch wenn Folge des Unglücksfalls ex post betrachtet unabwendbar war); Strafverteilung (Straflosigkeit der Selbstbegünstigung).

§ 323c Abs. 1 StGB; § 258 Abs. 1, Abs. 5 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Beurteilung, ob ein Unglücksfall oder eine Notlage im Sinne § 323c Abs. 1 StGB vorliegt, kommt es auf eine objektivierte ex-ante-Sicht an. Der Hilfspflichtige muss einem Verunglückten selbst dann die mögliche Hilfe leisten, wenn sie schließlich vergeblich bleibt und sich die befürchtete Folge aus der Rückschau von Anfang an als unabwendbar erweist; jedoch besteht keine Hilfspflicht mehr, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist (vgl. BGHSt 32, 367, 381).

2. Nach § 258 Abs. 5 StGB wird nicht wegen Strafvereitelung bestraft, wer durch die Tat ganz oder zum Teil vereiteln will, dass er selbst bestraft wird. Dabei ist entscheidend, wie der Täter seine Situation selbst einschätzt. Die Selbstbegünstigung führt auch dann zur Straflosigkeit, wenn die Befürchtung eigener Strafverfolgung unbegründet ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 4. Dezember 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht - Jugendrichter - Traunstein zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Strafvereitelung in Tateinheit mit unterlassener Hilfeleistung freigesprochen. Die hiergegen mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der zur Tatzeit 19 Jahre und sechs Monate alte Angeklagte war mit dem früheren Mitangeklagten Ul. W. nicht nur geschäftlich verbunden. Vielmehr war dieser sein bester Freund, wobei der Angeklagte von ihm emotional abhängig war.

Am 15. September 2017 kam es in den Mittagsstunden, vermutlich zwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr, in dem Anwesen der Familie W. in A. zu einer verbalen und anschließend tätlichen Auseinandersetzung zwischen Ul. W. und seiner Mutter U. W. Im Verlauf der Auseinandersetzung biss Ul. W. einen Teil der rechten Unterlippe seiner Mutter ab, fügte ihr bei einem Würgevorgang Verletzungen im Kehlkopfbereich mit diversen Brüchen zu, schlug sie mindestens sechsmal mit einem Zimmererhammer auf den Kopf, so dass die Schädelkalotte eröffnet wurde, und packte schließlich ihren Kopf und ihre Füße in Plastiktüten, die er mittig mit Klebeband zusammenklebte. Der Würgevorgang führte beim Opfer zu einer tiefen Bewusstlosigkeit mit irreversibler Schädigung des Großhirns; die Schläge mit dem Zimmererhammer waren „sicher“ tödlich und das Einpacken des Kopfes nicht überlebbar.

Um 15.00 Uhr verständigte Ul. W. über iMessenger den Angeklagten und bat ihn zu kommen, ohne dass er aber von dem vorangegangenen Geschehen berichtete. Als der Angeklagte von T. kommend am Anwesen gegen 16.15 Uhr eintraf, eröffnete ihm W. sogleich, dass er seine Mutter umgebracht habe. Der Angeklagte, der dies nicht glaubte, betrat den Esszimmerbereich und sah am Boden die Plastikmüllsäcke, unter denen sich die Beine des Opfers abzeichneten. Er zog sein Handy aus der Tasche, um einen Notarzt anzurufen. W. äußerte jedoch, dass es zu spät sei, er habe seiner Mutter mit dem Hammer den Kopf eingeschlagen. Der Angeklagte oder W. legte daraufhin das Handy zur Seite. Währenddessen nahm der Angeklagte ein kurzes „blubberndes“ Geräusch wahr, das er noch nie gehört hatte und das er „nicht zuordnen konnte“.

Der Angeklagte hatte Sorge, sich übergeben zu müssen, und ging in den Keller, um sich der Situation zu entziehen. Er legte sich auf ein Bett und verblieb etwa eine Stunde im Keller. In dieser Zeit besprachen der Angeklagte und W., was zu tun sei. Sie erwogen zunächst drei Möglichkeiten, entweder die Polizei zu rufen, eine Flucht des früheren Mitangeklagten W. ins Ausland oder dessen Suizid. Bei den letzten beiden Varianten befürchtete der Angeklagte den Verlust seines besten Freundes. Aber er hatte auch Angst vor der Vorstellung, dass er bei Verständigung der Polizei aufgrund der Tatortsituation selbst in den Verdacht geraten könnte, sich an der Tötung der Mutter des Freundes beteiligt zu haben. W. und der Angeklagte entschieden sich daher, den Leichnam des Tatopfers zu beseitigen. Sie begaben sich zu der „zwischenzeitlich“ nicht mehr lebenden U. W. Gemeinsam verpackten sie nunmehr weiter den Leichnam mit mehreren Plastikschichten, um ein Auslaufen des Blutes zu verhindern. Anschließend verbrachten sie den Leichnam in den PKW des W. und fuhren gegen 23.00 Uhr - in zwei Fahrzeugen - in ein Waldstück und begruben das Opfer dort in einem ausgehobenen Erdloch. Nach Rückkehr zum Tatort reinigten sie am Morgen die Wohnung von den Tatspuren. W. informierte sodann seinen - getrennt von dem Tatopfer lebenden - Vater, dass die Mutter über Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Entsprechend dem Rat seines Vaters erstattete W. bei der Polizei eine Vermisstenanzeige. In der Folgezeit löschten der Angeklagte und W. die Daten ihrer Mobiltelefone betreffend den Tatzeitraum. Am 22. November 2017 wurde die Leiche der U. W. aufgefunden.

2. Das Landgericht hat eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) verneint. Zwar habe der Angeklagte dadurch, dass er staatliche Stellen von der Straftat des W. am 15. September 2017 nicht informiert habe, vielmehr diesem bei der Beseitigung der Leiche behilflich gewesen sei, die strafrechtliche Verfolgung des Täters absichtlich für einen Zeitraum von über zwei Monaten vereitelt. Die Vereitelungshandlung des Angeklagten sei jedoch straflos, weil der Angeklagte (auch) eine Selbstbegünstigung im Sinne des § 258 Abs. 5 StGB bezweckt habe. Der Angeklagte habe aufgrund der Tatortsituation - zu Recht - befürchtet, dass er in den Verdacht geraten könnte, sich an der Vortat beteiligt zu haben.

Auch der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) sei vom Angeklagten nicht verwirklicht worden. Zwar liege durch die durch einen Dritten verwirklichte Straftat eine Notsituation im Sinne eines Unglücksfalles vor. Auch habe der Angeklagte keine Hilfe etwa durch Verständigung der Polizei oder des Notarztes geleistet. Jedoch sei die Erforderlichkeit einer Hilfeleistung zu verneinen, weil eine Hilfe für das Tatopfer zum Zeitpunkt des Eintreffens des Angeklagten am Tatort nicht mehr möglich gewesen sei. Der rechtsmedizinische Sachverständige habe ausgeführt, dass ein Notarzt keine medizinischen Maßnahmen mehr eingeleitet hätte, wenn er unmittelbar nach Verständigung am Tatort eingetroffen wäre. Der Sterbeprozess des Opfers sei bereits irreversibel gewesen. Eine Strafbarkeit scheitere bereits dann, wenn letztlich die Möglichkeit des irreversiblen Todes für den Zeitpunkt nicht auszuschließen sei, in dem dem Verunglückten, wäre er noch am Leben, Hilfe geleistet hätte werden können; denn dann sei zugunsten des an sich Hilfspflichtigen davon auszugehen, dass der Verunglückte bereits tot gewesen sei, so dass Hilfe nicht mehr angezeigt sei.

II.

Die Begründung, mit der das Landgericht die Voraussetzungen der Tatbestände der unterlassenen Hilfeleistung (unten 1.) und der Strafvereitelung (unten 2.) verneint hat, ist jeweils nicht frei von Rechtsfehlern.

1. Die Verneinung der Erforderlichkeit der Hilfeleistung im Rahmen der Prüfung des Tatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) durch das Landgericht hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Nach der Rechtsprechung kommt es bei der Beurteilung, ob ein Unglücksfall oder eine Notlage im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, auf eine objektivierte ex-ante-Sicht an. Der Hilfspflichtige muss einem Verunglückten selbst dann die mögliche Hilfe leisten, wenn sie schließlich vergeblich bleibt und sich die befürchtete Folge aus der Rückschau von Anfang an als unabwendbar erweist; jedoch besteht keine Hilfspflicht mehr, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist (BGH, Urteil vom 4. Juli 1984 - 3 StR 96/84, BGHSt 32, 367, 381 mwN; Beschluss vom 15. September 2015 - 5 StR 363/15).

b) Diesen Maßstab hat das Landgericht zwar zunächst zugrunde gelegt, bei der Subsumtion jedoch ausschließlich auf die durch den rechtsmedizinischen Sachverständigen vermittelte Unrettbarkeit des Tatopfers abgestellt. Diese ex-post-Betrachtung ist ungeeignet für die Beurteilung der Erforderlichkeit der Hilfeleistung. Maßgeblich ist vielmehr, wie ein verständiger Beobachter aufgrund der ihm erkennbaren Umstände die vorgefundene Situation bewertet hätte. Zu diesem Zeitpunkt war das Tatopfer noch nicht verstorben, wenn auch dessen Leben aus medizinischer Sicht nicht mehr rettbar war.

c) Soweit das Landgericht insoweit erwogen hat, dass der Angeklagte aus den Säcken ein Geräusch wahrgenommen habe, das sich angehört habe wie ein Luft nach draußen beförderndes Blubbern (UA S.13), dieser Umstand von ihm aber aufgrund einer akuten Belastungsreaktion nicht als noch vorhandenes Vitalzeichen des Tatopfers gedeutet hat, ist diese Bewertung nicht ohne nähere Erläuterung nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass - nach der Einlassung des Angeklagten - W. mehrfach vom Keller ins Erdgeschoss des Anwesens hochgegangen sei und irgendwann gemeint habe, dass das Tatopfer nicht mehr röchele und dass man „jetzt langsam mal anfangen müsse“ (UA S. 13).

2. Auch soweit das Landgericht die Voraussetzungen des Tatbestandes der Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB) verneint hat, ist seine Begründung nicht ohne Rechtsfehler.

a) Nach § 258 Abs. 5 StGB wird nicht wegen Strafvereitelung bestraft, wer durch die Tat ganz oder zum Teil vereiteln will, dass er selbst bestraft wird. Dabei ist entscheidend, wie der Täter seine Situation selbst einschätzt. Die Selbstbegünstigung führt auch dann zur Straflosigkeit, wenn die Befürchtung eigener Strafverfolgung unbegründet ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2016 - 4 StR 205/16 Rn. 8 und Urteil vom 23. März 2016 - 2 StR 223/15 Rn. 7 f. jeweils mwN).

b) Das Landgericht hat zwar rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Angeklagte befürchtet hat, bei einer Verständigung der Polizei nach seinem Eintreffen am Tatort könne sich der Tatverdacht einer Tatbeteiligung am Tötungsdelikt angesichts der dortigen Spurenlage auch gegen ihn richten. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist aber gleichwohl Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten auf, weil sie sich nicht zum Vorstellungsbild des Angeklagten hinsichtlich zeitlich nachfolgender Vereitelungshandlungen verhält. So versteht es sich nicht von selbst, dass er die gleiche Befürchtung hegte, als er gemeinsam mit dem früheren Mitangeklagten W. den Leichnam von dessen Mutter beseitigte und am nächsten Tag den Tatort säuberte. Da nur die Anwesenheit am Tatort auf eine etwaige Tatbeteiligung des Angeklagten hätte hindeuten können, wäre es dem Angeklagten möglich gewesen, sich ohne weitere Vereitelungshandlung durch ein bloßes Verlassen des Anwesens aus der Gefahr eigener Strafverfolgung zu begeben. Eine Erörterung des Vorstellungsbildes des Angeklagten hinsichtlich dieser Vereitelungshandlungen drängte sich im Einzelnen auf, wobei auch zu prüfen ist, ob der Angeklagte sich vorstellte, wegen unterlassener Hilfeleistung strafrechtlich verfolgt zu werden.

3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 3 StPO an das Amtsgericht - Jugendrichter - Traunstein zurück, nachdem bereits die Anklage aufgrund des zeitlichen Ablaufs des Tatgeschehens eine Beteiligung des Angeklagten am Tötungsdelikt verneint hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1336

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 236; StV 2021, 494

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede