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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1318

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1879/20, Beschluss v. 23.10.2020, HRRS 2020 Nr. 1318


BVerfG 2 BvR 1879/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Oktober 2020 (LG Berlin)

Zwangsgeldfestsetzung gegenüber einer Justizvollzugsanstalt zur Durchsetzung einer einstweiligen Anordnung auf ärztliche Untersuchung und schmerzlindernde Behandlung eines Strafgefangenen (Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Abwendung eines schweren Nachteils).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 120 Abs. 1 Satz 1 StVollzG; § 172 VwGO

Leitsatz des Bearbeiters

Kommt eine Justizvollzugsanstalt der einstweiligen Anordnung einer Strafvollstreckungskammer nicht nach, einen Strafgefangenen umgehend ärztlich untersuchen und schmerzlindernd behandeln zu lassen, so kann die Kammer unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gehalten sein, ihre Anordnung durch Androhung und Festsetzung eines Zwangsgeldes durchzusetzten.

Entscheidungstenor

Das Landgericht Berlin - Strafvollstreckungskammer - wird angewiesen, im Verfahren 589 StVK 205/20 Vollz über den Antrag des Beschwerdeführers vom 2. Oktober 2020 gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 StVollzG in Verbindung mit § 172 VwGO unverzüglich zu entscheiden. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen.

Gründe

Gegenstand der mit einem Eilantrag verbundenen Verfassungsbeschwerde ist eine vom Beschwerdeführer begehrte ärztliche Untersuchung durch die Justizvollzugsanstalt und eine Zwangsgeldfestsetzung durch das Landgericht Berlin.

I.

Der Beschwerdeführer ist in der Justizvollzugsanstalt Tegel inhaftiert und begehrte aufgrund starker Rücken- und Beinschmerzen mehrfach erfolglos die Vorstellung bei einem Arzt. Mit Beschluss vom 29. September 2020 erließ das Landgericht Berlin auf Antrag des Beschwerdeführers eine einstweilige Anordnung, mit welcher der Justizvollzugsanstalt aufgegeben wurde, den Beschwerdeführer umgehend ärztlich untersuchen zu lassen und schmerzlindernd zu behandeln. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt erfolglos die Umsetzung des Beschlusses. Mit Antrag vom 2. Oktober 2020, den der Beschwerdeführer am 9. Oktober 2020 wiederholte, beantragte er beim Landgericht Berlin erneut den Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie zusätzlich die Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Justizvollzugsanstalt. Nach seinem Vortrag hat das Landgericht Berlin auf diese Anträge bisher nicht reagiert.

II.

Mit seiner am 22. Oktober 2020 eingegangenen Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Unterlassen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit Beschluss vom 29. September 2020 angeordneten ärztlichen Untersuchung und die Untätigkeit des Landgerichts Berlin im Hinblick auf seine Anträge vom 2. Oktober 2020 und rügt eine Verletzung von Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.

III.

1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung im tenorierten Umfang zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie die Untätigkeit des Landgerichts im Hinblick auf den vom Beschwerdeführer gestellten Vollstreckungsantrag betrifft, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr möglich, dass die Untätigkeit des Landgerichts Berlin den Beschwerdeführer insoweit in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Im Übrigen - soweit sie auf den neuerlichen Antrag auf Anordnung einer ärztlichen Behandlung abzielt - ist die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf den Vorrang des vom Beschwerdeführer eingeleiteten Vollstreckungsverfahrens von vornherein unzulässig.

b) Die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Denn ohne Erlass der einstweiligen Anordnung entsteht dem Beschwerdeführer ein schwerer Nachteil in Bezug auf seine körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ohne dass ein späteres Obsiegen im Verfassungsbeschwerdeverfahren diese Rechtsbeeinträchtigung kompensieren könnte.

Es ist nicht ersichtlich, warum das Landgericht Berlin auf die Anträge des Beschwerdeführers vom 2. und 9. Oktober 2020 - insbesondere auf den der Sache nach gebotenen Vollstreckungsantrag - nicht reagiert hat, obwohl dies in der Sache geboten erscheint. Das Landgericht Berlin ist im Rahmen des Erlasses seiner einstweiligen Anordnung vom 29. September 2020 selbst davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer unter starken Schmerzen leidet und umgehend ärztlich zu untersuchen und schmerzlindernd zu behandeln ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1318

Bearbeiter: Holger Mann