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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1287

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 229/20, Beschluss v. 17.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1287


BGH 1 StR 229/20 - Beschluss vom 17. September 2020 (LG Ellwangen)

Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Anordnung wegen Vorverurteilungen: Begriff des Verwirkens einer Strafe: rechtskräftige Vorverurteilung, keine Einbeziehung noch nicht rechtskräftig geahndeter Taten aus anderen Verfahren).

§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Strafe im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist nur dann verwirkt, wenn wegen der Tat eine Verurteilung bereits ergangen ist oder im Zusammenhang mit dem Verfahren, in dem die Frage der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgesprochen wird.

2. Es reicht nicht aus, dass für die Begründung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB noch nicht rechtskräftig geahndete Taten aus einem anderen Verfahren herangezogen werden (vgl. BGHSt 25, 44, 45 ff.). „Verwirkt“ im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist eine Strafe dann, wenn sie im anhängigen Verfahren verhängt wird oder es sich um eine rechtskräftige Einzelstrafe aus einem anderen Verfahren in der vom Gesetz geforderten Höhe handelt. Bei rechtskräftigen Einheitsjugendstrafen ist dabei erforderlich, dass die frühere Entscheidung erkennen lässt, dass eine dort geahndete einschlägige Katalogtat in der gesetzlich geforderten Höhe Eingang in die Einheitsjugendstrafe gefunden hat. Von § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB sind nach alledem im Falle einer getrennten Verurteilung insbesondere auch diejenigen Fälle erfasst, in denen mit einer rechtskräftigen Einzelstrafe nach § 55 StGB eine neue Gesamtstrafe zu bilden ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen (Jagst) vom 11. Februar 2020 aufgehoben, soweit gegen den Angeklagten die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt sowie die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und ist im Übrigen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB im vorliegenden Verfahren hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Bereits vor dem verfahrensgegenständlichen Urteil hat das Landgericht den Angeklagten am 23. Dezember 2019 (Az. 1 Ks ) wegen Mordes in zwei Fällen und wegen Computerbetrugs in zwölf Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt sowie die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Auch in jenem Verfahren hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Über die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten war zum Urteilszeitpunkt im vorliegenden Verfahren noch nicht entschieden.

2. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB liegen nicht vor.

Bei einem - wie hier - unbestraften Angeklagten kommt die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach dieser Ermessensvorschrift nur dann in Betracht, wenn der Täter mindestens zwei rechtlich selbständige Taten der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art begangen hat, durch die er jeweils eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 - 3 StR 156/10 Rn. 18 f., BGHR StGB § 66 Abs. 2 Straftaten 1). Eine Strafe im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist nur dann verwirkt, wenn wegen der Tat eine Verurteilung bereits ergangen ist oder im Zusammenhang mit dem Verfahren, in dem die Frage der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgesprochen wird (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2006 - 1 StR 284/06 Rn. 3 mwN; Beschluss vom 24. November 2011 - 4 StR 331/11 Rn. 8). Es reicht nicht aus, dass für die Begründung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB noch nicht rechtskräftig geahndete Taten aus einem anderen Verfahren herangezogen werden (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 8. November 1972 - 3 StR 210/72, BGHSt 25, 44, 45 ff.). „Verwirkt“ im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ist eine Strafe dann, wenn sie im anhängigen Verfahren verhängt wird oder es sich um eine rechtskräftige Einzelstrafe aus einem anderen Verfahren in der vom Gesetz geforderten Höhe handelt. Bei rechtskräftigen Einheitsjugendstrafen ist dabei erforderlich, dass die frühere Entscheidung erkennen lässt, dass eine dort geahndete einschlägige Katalogtat in der gesetzlich geforderten Höhe Eingang in die Einheitsjugendstrafe gefunden hat (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 24. November 2011 - 4 StR 331/11 Rn. 8). Von § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB sind nach alledem im Falle einer getrennten Verurteilung insbesondere auch diejenigen Fälle erfasst, in denen mit einer rechtskräftigen Einzelstrafe nach § 55 StGB eine neue Gesamtstrafe zu bilden ist.

3. Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann daher keinen Bestand haben und muss aufgehoben werden. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil das Landgericht die - statt der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB - in Betracht kommende Möglichkeit eines Vorbehalts der Unterbringung in einer Sicherungsverwahrung als Ermessensentscheidung nach § 66a StGB noch nicht in den Blick genommen hat. Die Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und bleiben aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht darf ergänzende Feststellungen treffen, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1287

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 73; StV 2021, 253

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede